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Abschied von den Zugvögeln

Bianka Bleier blickt den flügge gewordenen Kindern hinterher.

 

Durchwachsenes Sommerwetter haben wir dieses Jahr. Wolkenberge jagen am Himmel entlang und färben die Landschaft in Molltönen. Gerade noch haben Amseln und Nachtigallen ihre Frühlingsduette geschmettert, nun plündern bereits Starenwolken die Weinberge, die Störche werden unruhig und halten ihre Flügel in den Wind. Ihre Jungen sind groß geworden und flugfähig, bald werden sie sich auf die große Reise machen. Fasziniert beobachte ich Jahr für Jahr den Wandel der Zugvögel. Auch unsere Kinder sind flügge geworden und in die große weite Welt ausgeflogen. Anfangs war mir das Herz schwer. Ich bin ja nicht blind hineingestolpert in das große Loslassen, ich habe es sehenden Auges getan, aber das hat mir nichts genutzt, das Leben will gelebt werden. Unsere drei Nestflüchter haben ihr Nest alle im selben Jahr verlassen. Ich habe die Zeit vor ihrem Auszug bis auf den letzten Tropfen genossen, gleichzeitig gestöhnt über die Vielschichtigkeit der Herausforderungen, die häusliche Enge, die lebhafte Präsenz der jungen Erwachsenen, die vor allem mit sich selbst beschäftigt waren, die dichte Verantwortung für die letzte Phase vor dem Abflug, die Zerrissenheit zwischen mir, den Kindern und meinem Mann, der völlig anders mit dem abschiedlichen Leben umging. Wir sind zur Seite gestanden bei Liebeskummer, haben bei Schulabschlüssen und Berufsfindung gecoacht, haben geholfen, unvergessliche Hochzeitsfeiern und Abschiedsfeste zu zelebrieren und unsere Zugvögel zum Kontinentwechsel bis ans Gate chauffiert. Dann waren sie weg.

AUS DER SCHOCKSTARRE ERWACHT
Gerade noch das wilde Leben und plötzlich wieder zu zweit. Zuerst weinten wir. Dann verstummten wir. Das Vakuum, das sie hinterließen, war enorm. Aber als Werner eines Tages monierte, er käme sich vor wie im Altersheim, erwachte ich empört aus der Schockstarre. Wir schüttelten unsere Felle, sahen uns um und begannen, vorsichtig auf Entdeckungsreise zu gehen. Und siehe da: Das Vakuum war gar keine bedrohliche Leere, sondern freier Raum! Ein Land voll Möglichkeiten. Kraft war noch da. Lebenserfahrung hatte sich angesammelt, Lebensspuren sich gebildet, Netzwerke waren entstanden. Es gab Ressourcen und Potenziale, die wir zwanzig intensive Familienjahre lang für nichts nutzen konnten außerhalb der großen, geliebten, selbst gewählten Aufgabe. Aber jetzt war Raum und Zeit für etwas, das auch in uns war, sich entfalten wollte und durfte. Das klingt glatter, als es war. Mir half gute Lektüre und seelsorgerliche Begleitung zu vielen Themen die in der Lebensmitte aufbrechen. Aber keinem hätte ich geglaubt, der mir gesagt hätte, welche Überraschungen das Leben noch für mich bereit hielt nach dem Abflug der Kinder.

ALTER LEBENSTRAUM
Ich liebe mein Leben, so wie es ist. Ich habe es geliebt, mit den Kindern unter einem Dach zu leben, Familienleben aufzubauen, Verantwortung zu tragen, ihre Entwicklung mitzuerleben, sie zu lieben und ihre Liebe zu tanken. Und, ja, alles hat seine Zeit. Kaum ein anderer Satz aus der Bibel kommt mir so oft in den Sinn. Nach dem Verlassen dieses intensiven Lebensraumes begann etwas erstaunlich Neues. In der Ruhe, die einkehrte, stieg ein alter Lebenstraum in uns hoch, der die Chance barg, Wirklichkeit zu werden, weil nun die Zeit reif dafür war. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“, fragte Werner und ich lernte den Pionier an meiner Seite noch einmal von einer neuen Seite kennen – und er mich. Wohl wissend, dass wir nicht mehr die Jüngsten sind und unsere Zeit in Gottes Hand steht, begannen wir gemeinsam mit Freunden ein Projekt, das zu einem neuen Lebensschwerpunkt wurde. Ich liebe es, wenn unsere Zugvögel ihr Nest aufsuchen und wir weiterhin, punktueller nun, Leben teilen. Aber ich liebe auch meine alte neue Freiheit mit den Möglichkeiten eines Lebens mit geringerer Verantwortung.

Bianka Bleier betreibt zusammen mit Freundinnen das Ladencafé Sellawie und lebt mit ihrem Mann in Forst/Baden.