Beiträge

Damit es nicht zum Patt kommt

Entscheidungen bestimmen die Richtung unseres Lebens. Sie beeinflussen, wie sich die Liebe entfaltet und welche Gestalt das gemeinsame Leben annimmt. Und manchmal fordern Entscheidungen die Kompromissbereitschaft eines Paares sehr heraus.

„Wir dürfen so vieles gemeinsam entscheiden.“ Myriam und ich standen ganz überwältigt vor diesem Privileg, als wir nach der Hochzeit in unsere erste gemeinsame Wohnung zogen. Von der Einrichtung und Organisation unseres Haushalts über die Freizeitgestaltung bis hin zu den Weichenstellungen, die bestimmt haben, wie sich unser Freundeskreis entwikkelt. Viele Entscheidungen haben eine Welt eröffnet, die wir dann gemeinsam betreten durften. Mit jeder Entscheidung haben wir entweder am Guten aus unseren Herkunftsfamilien festgehalten oder haben einen eigenen Weg eingeschlagen, der etwas aus unserer Vergangenheit hinter sich gelassen hat. In vielem haben wir so entschieden, wie es die meisten anderen auch tun, einfach weil das unkompliziert und kraftsparend ist. In anderem haben wir Wege gewählt, die selbst für Menschen, die uns nahe standen, erklärungsbedürftig waren. Und natürlich gab es auch umkämpfte Entscheidungen, wenn Prioritäten zunächst weit auseinander lagen. In unserer Beziehung, aber auch bei Paaren, die ich begleite, habe ich folgende Erfahrung gemacht: Unterschiedliche Wünsche und Werte lassen sich zusammenführen, manchmal geht es schnell, wenn die Unterschiede nicht allzu groß sind, manchmal dauert es länger. Wenn ein Paar aber bei einer Entscheidung nicht weiterkommt, ist es vielmehr der Entscheidungsprozess, der Probleme macht. Für diesen sind folgende Faktoren wichtig: die Motivation, das Urteilen und die Kompromissbereitschaft. Auf allen drei Ebenen gibt es nämlich jeweils zwei gegensätzliche Herangehensweisen. Das kann Paare in eine Pattsituation bringen.

DIE MOTIVATION: HOFFNUNG ODER FURCHT
Der Motivationspsychologe Heinz Heckhausen entdeckte zwei gegensätzliche Motivationen, die Menschen zu ihren Entscheidungen bewegen: Hoffnung auf Erfolg und Furcht vor Misserfolg. Manche Menschen haben vor allem das Schöne im Blick, das durch eine Entscheidung in ihr Leben kommen könnte. Andere sehen auf die Risiken und wollen diese so klein wie möglich halten. Sicher können Sie nachvollziehen, dass eine Entscheidungssituation völlig anders aussieht, je nachdem ob einer die Brille einer Erfolgshoffnung oder die Brille eines möglichen Misserfolges aufsetzt: Antje und Dirk überlegen, ob sie vielleicht einmal auf einer Nordseeinsel Urlaub machen. Antje riecht bereits den salzigen Wind, sieht die Dünen vor sich und spürt das überwältigende Gefühl, ganz von Meer umgeben zu sein. Dirk dagegen sieht die verregneten Tage, an denen die Kinder in der Ferienwohnung quengeln. Er ahnt die teuren Überraschungen, die einem der Einkauf auf einer Insel bescheren könnte. Gerne würde ich nun empfehlen: „Beides ist wichtig. Die Aussicht auf das Schöne und der Blick auf die Risiken, der vor bösen Überraschungen schützt.“ Nur würde das nicht dem Stand der Motivationsforschung entsprechen. Menschen, die durch Hoffnung auf Erfolg motiviert werden, geht es nicht nur besser, sie erreichen auch mehr. Wenn es hier Unterschiede gibt, lässt sich der ängstlichere Partner besser vom zuversichtlicheren leiten. Natürlich muss man bei Entscheidungen die Risiken prüfen. Sie sollten aber nicht zur ausschlaggebenden Motivation werden.

DAS URTEIL: KOPF ODER BAUCH
Jeder Mensch trägt zwei Systeme in sich, um Situationen zu beurteilen: ein intuitives und ein rationales. Das beschreiben zum Beispiel die Psychologin Maja Storch („Das Geheimnis kluger Entscheidungen“) oder der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman („Schnelles Denken, langsames Denken“). Unsere Intuition urteilt blitzschnell. Ihr Ergebnis teilt sich oft als Gefühl oder Körperempfindung mit. Dabei wird eine Situation mit vielen ähnlichen Situationen verglichen, die wir schon einmal erlebt haben. Das rationale Urteilen muss die Situation analysieren und Pro und Kontra gegeneinander abwägen. Das dauert länger und ist grundsätzlich nie abgeschlossen – wer könnte nicht durch weiteres Nachdenken noch andere Aspekte entdecken, die für die Entscheidung eine Rolle spielen? Auch hier kann ein Paar zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, wenn ein Partner mehr zum rationalen, der andere zum intuitiven Urteilen neigt. So könnte beispielsweise der Vermögensberater sagen: „Sie können sich das Haus leisten, aber es wird dann schon eng. Sie müssen sich das überlegen, ob Sie unter Umständen ein paar Jahre sehr sparsam leben wollen.“ Ihre Intuition sagt vielleicht: „Das packen wir.“ Sein rationales Urteil fühlt sich aber zu einer solchen Entscheidung außer Stande. Denn die Faktoren, die entscheiden, wie es finanziell wird, liegen in der Zukunft und sind der Analyse noch nicht zugänglich. Hier ist es die Entscheidungsforschung, die eine Empfehlung gibt: „Wenn es um eine wichtige Sache geht, dann triff nur eine Entscheidung, bei der sowohl deine Intuition als auch dein rationales Urteilsvermögen zum gleichen Ergebnis kommen.“ Paare können also ihr rationales und intuitives Urteilen zusammenführen, wenn sie hier unterschiedlich sind. Nach dieser Regel sollte sich das Paar in unserem Beispiel nur für das Haus entscheiden, wenn auch das rationale Urteil positiv ausgeht: „Wir sind bisher immer gut und entspannt mit Engpässen umgegangen. Das können wir wagen.“ Wenn es noch kein rationales „Ja“ gibt, kann sich das Paar für ein günstigeres Haus entscheiden oder die Entscheidung vertagen und vielleicht einmal ein Jahr lang besonders sparsam leben. Das steigert nicht nur das Eigenkapital, sondern schafft auch Erfahrungswerte, wie es einem Paar in einer finanziell knappen Situation geht.

DIE KOMPROMISSBEREITSCHAFT: SELBSTBEWAHRUNG ODER OPFER
Es gibt Entscheidungssituationen, die sich nur auflösen lassen, wenn einer ein Opfer bringt. Auch hier kann man auf beiden Seiten vom Pferd fallen. Manche Partner verhalten sich bei Entscheidungen selbstbezogen. Sie wollen ihre Komfortzone nicht verlassen und verstehen nicht, dass ein gemeinsames Leben manchmal Opfer erfordert. Andere dagegen bringen derart große Opfer, dass sie sich mit den Folgen überfordern, bitter werden oder sich selbst in der Beziehung verlieren. Führende Paartherapeuten wie zum Beispiel der Frankfurter Psychoanalytiker Michael Lukas Möller oder der amerikanische Paar- und Sexualtherapeut David Schnarch raten hier Folgendes: „Wo Sie ein Opfer bringen müssten, das Ihrer Persönlichkeit oder Ihren Überzeugungen Gewalt antut, sollten Sie das Opfer nicht bringen.“ In allen übrigen Entscheidungen kann es ein starker Ausdruck von Liebe sein, für den anderen ein Opfer zu bringen (und für den anderen ist es dann eine Kunst, das Opfer auch anzunehmen). In meiner Arbeit mit Paaren orientiere ich mich an der Faustregel: Veto vor Wunsch. Wenn sich der eine etwas wünscht (ein drittes oder viertes Kind, ein Pflegekind, eine kommunenartige Lebensform, ein Aussteigerjahr im Ausland) und sich der andere wirklich damit überfordert fühlt, schadet es der Beziehung weniger, wenn einer verzichtet als wenn der andere sich auf etwas einlässt, das ihn dauerhaft überfordert. Beides, ein Verzicht oder ein Opfer, kann ein Paar an die emotionalen Grenzen führen. Es kann dann entlastend sein, sich in einigen Gesprächen durch den Entscheidungsprozess begleiten zu lassen. Das Einnehmen unserer ersten Wohnung und unseres gemeinsamen Lebens ist inzwischen 18 Jahre her. Wir haben seither viel miteinander erlebt und aufgebaut, was wunderschön ist. Aber wir haben auch einiges nicht erreichen können, was uns heute manchmal schmerzt. Das Leben ist begrenzt, und unsere Entfaltungsmöglichkeiten sind es ebenfalls. Zum Entdeckermut haben wir im Laufe der Jahre eine weitere Fähigkeit gewonnen: die Fähigkeit zum Verschmerzen dessen, was nicht möglich war. Manche scheuen den Schmerz aus Furcht, er verderbe einem, was schön im Leben ist. Aber wir erfahren zusammen mit vielen anderen Paaren: Wer sich ab und zu schmerzlichen Gefühlen stellt und betrauert, was nicht möglich war, kann von Herzen loslassen.
Das vertieft das gemeinsame Glück.

 

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in eigener Praxis in Heidelberg.