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Schwer zu kontrollieren: die Wut

Wut ist ein Gefühl mit unbändiger Kraft – bei Kindern und Erwachsenen. Von Corinna Lang

August 2019. Mein Mann und ich feiern zusammen Geburtstag. Die Sonne scheint, aus der Grillhütte dringt ein leckerer Duft, und die Gäste sind fast vollzählig eingetroffen. Feierlaune? Nicht bei unserem damals 2-jährigen Sohn. Er hat einen Wutanfall. Er steht mitten auf dem Platz und brüllt ununterbrochen. Ich erinnere mich nicht mehr an den Auslöser – von der Zubereitung seiner Grillwurst bis hin zu einer falsch sitzenden Socke könnte es alles gewesen sein. Unser Sohn brüllt. Laut. Ohne Rücksicht auf Anwesende. Ohne Rücksicht auf Timing, den Zustand unserer Nerven oder die Verhältnismäßigkeit.

Ein zuverlässiges „Allheilmittel“ haben wir noch nicht gefunden, außer dass es wichtig ist, selbst die Ruhe zu bewahren. Ermahnen fördert selten ein Zurückgehen der Wut, setzt aber die nötigen Grenzen, was vor allem wichtig wird, wenn das Kind sich selbst oder andere in Gefahr bringt. Manchmal helfen offene, tröstende Arme oder Ablenkung. Zu viel Aufmerksamkeit macht das Ganze für das Kind oft nur noch interessanter, daher kann es helfen, den Wutausbruch zu ignorieren. Da seine Wut nicht abebbt, bringt meine Schwägerin mich auf die Idee, ihn mit dem Auto ein bisschen hin- und herzufahren. Ich folge ihrem Rat und komme kurz darauf mit einem schlafenden Kind zurück. Dieser Höhepunkt der Trotzphase mit einstündigen Brüllattacken dauerte glücklicherweise nur einige Wochen. Mittlerweile können wir darüber lachen.

Unvorbereitet und heftig

Wie ist das denn bei uns Erwachsenen? Kennen wir das auch? Haben wir uns perfekt im Griff? Immer? Mit Sicherheit finden Wutausbrüche bei uns in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität statt. Aber vermutlich kann sich jeder an Momente erinnern, in denen er oder sie in unschöne Sprache verfallen ist, einen Gegenstand in seine Einzelteile zerlegt oder dem Wutauslöser schmollend den Rücken zugekehrt hat. Nahezu jeder war schon einmal das aktive und das passive Ende eines Wutanfalls.

Der Emotion „Wut“ begegne ich mit Respekt, weil sie anders auftritt als viele andere Gefühle. Sie trifft einen oft unvorbereitet und heftig und schleicht sich nicht heran wie zum Beispiel die Traurigkeit. Sie lässt sich nicht gut hinter der Fassade ausleben wie die Bitterkeit. Sie mobilisiert in kürzester Zeit ungeahnte Kräfte und lässt dem Wütenden nicht immer Zeit, diese vernünftig zu kanalisieren. Eltern, die ihre Nächte mit einem „Schreikind“ verbringen müssen, wird oft geraten, aus dem Zimmer zu gehen, wenn die Wut zu groß wird, damit sie ihr Kind nicht schütteln. Was für eine Emotion, die uns dazu bringen kann, unseren liebsten, schwächsten Mitmenschen physischen Schaden zuzufügen! Sie ist scheinbar nur schwer kontrollierbar.

Plötzlich da, plötzlich weg

Auf der anderen Seite erscheint mir die Wut kurzlebiger als andere Emotionen. Ich nehme noch einmal die Bitterkeit als Beispiel. Ein bitterer Mensch ist oft über einen langen Zeitraum in diesem Gemütszustand. Die Bitterkeit hat sich über eine lange Zeit gebildet und muss auch über eine solche wieder abgebaut werden. Die Wut kommt plötzlich und verschwindet meist auch plötzlich. Der Wütende ist vielleicht erstaunt oder bestürzt über seine eigene Gefühlswelt, kann aber recht schnell wieder in die Routine des Alltags zurückfinden. Er hat sich „abreagiert“. Nachdem zum Beispiel der Wutanfall unseres Sohnes am Tag unserer Geburtstagsfeier vorbei war, hat er den restlichen Nachmittag begeistert gespielt. Ein Freund witzelte noch: „Was für ein liebes, ausgeglichenes Kind, der ist bestimmt immer so!“ Leider kommt es gerade bei uns Erwachsenen nicht immer zu diesen unkomplizierten, nahezu konsequenzlosen Verläufen nach der Wut. Der Schaden ist unter Umständen riesig oder kann nur mit großer Mühe vermieden oder gekittet werden.

Die Wut in ihre Schranken weisen

Ich habe mich gefragt, ob man Wut überhaupt bekämpfen kann, wenn die Wutauslöser sich nicht ändern lassen. Im Moment des Wutausbruchs ist es oft zu spät, weil das Gefühl bereits die Kontrolle über unsere Aktionen übernommen hat. Oft kann man sie da höchstens noch auf etwas anderes, weniger Empfindliches lenken, zum Beispiel mit der Faust auf den Tisch hauen statt gegen eine Glasscheibe. Ich habe zumindest bei mir selbst festgestellt, dass die Möglichkeiten, diese Emotion einzuschränken, eher im Vorfeld liegen, und zwar indem ich sie gar nicht erst auftreten lasse. Ich werde zum Beispiel vermehrt wütend, wenn ich zu wenig geschlafen oder Hunger habe.

Was bedeutet das konkret, wenn ich einen möglichst wutfreien Tag erleben will? Es kann bedeuten, die spannende Serie abends doch schon eine Folge früher abzuschalten. Wenn mein Mann und ich unser Abendessen erst für die Zeit geplant haben, nachdem die Kinder ins Bett gegangen sind, kann es bedeuten, dass ich am späten Nachmittag an einen kleinen Snack für mich denken muss, damit ich bei einem möglicherweise bockigen oder extrem albernen, aufgedrehten Kind, das nicht sofort ins Bett will, nicht so schnell die Nerven verliere.

Wutauslösern auf die Spur kommen

Bei anderen Wutauslösern sind es natürlich andere Fragen, die man sich stellen kann: Habe ich Stress, weil die To-do-Liste auch nicht ganz so dringende Punkte enthält? Lebe ich über meine Verhältnisse und habe deshalb finanziellen Druck? Arbeite ich zu viel oder zu wenig? Sollte ich mir Hilfe holen, sei es von Freunden, der Familie oder professionell? Müsste ich mit meinem Partner über Verhaltensweisen reden, die ich nur schwer tolerierbar finde? Sollte ich eine Zeit in meinen Tag einplanen, in der ich kurz „runterfahre“, zum Beispiel durch Beten, einen Spaziergang oder ein gutes Buch? Sich Gedanken darüber zu machen, lohnt sich, wenn man merkt, dass die Zündschnur kürzer wird. Was sich auch immer lohnt: Gott sein Herz in aller Ehrlichkeit ausschütten und um Vergebung, Erkenntnis und Hilfe bitten. Er hält unsere Wut aus.

Corinna Lang ist Übersetzerin und wohnt mit ihrem Mann Tobias und ihren zwei Kindern Fiona (6) und Florian (3) in Siegen.

Mehr zum Thema „Gefühle“ gibt es in der November/Dezember-Ausgabe der Family und FamilyNEXT.