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Zwischen Mauerfall und Brexit

Viola Ramsden ist in der DDR aufgewachsen, hat als Jugendliche die Wendezeit erlebt und viele Jahre an verschiedenen Orten gewohnt – unter anderem in London. Nun ist sie wieder in ihre „Heimat“ zurückgekehrt und denkt darüber nach, wo sie eigentlich hingehört.

Ich bin ein Wendekind. Ein Zonenmädchen. Eine Vertreterin der „Dritten Generation Ost“. Damit gehöre ich zu den rund 2,4 Millionen Menschen, die ihre Kindheit zunächst in der DDR erlebten und anschließend im vereinigten Deutschland erwachsen wurden. Vor einiger Zeit las ich in der WELT, dass wir Zonenkinder mit unserer unablässigen Identitätssuche etwas verzweifelt wirkten. Auch ich habe mich auf die Suche nach Wurzeln und Identität begeben. Ich schreibe sogar regelmäßig darüber in meinem Blog. Doch verzweifelt fühle ich mich dabei kaum. Im Gegenteil: Das Nachforschen hat mich inspiriert, befreit und selbstbewusster gemacht.

Heimat im Erzgebirge

Meine (gefühlte) „Heimat“ ist das Erzgebirge. Hier habe ich meine relativ behütete Kindheit zu DDR-Zeiten verbracht und bin danach während der Pubertät im stressig-verwirrenden, kompliziert-ostdeutschen Chaos der Wendejahre groß geworden. Mein erzgebirgisches Elternhaus ist der Ort, an den ich seither immer wieder zurückkehre, auch wenn sich mein derzeitiger Wohnsitz mal wieder geändert hat.

Von Norddeutschland nach Jerusalem

Nach dem Abitur verschlug es mich als Praktikantin zuerst nach Norddeutschland und dann in den Ruhrpott, bevor ich als Studentin in Marburg und Cambridge lebte. Später verbrachte ich einige Zeit als Volontärin in Jerusalem und Berlin, ehe ich vor 13 Jahren nach London ging. Dort habe ich bis vor kurzem gelebt, geliebt und gearbeitet. Nun sind wir als Familie – mein britischer Mann, mein Kind und ich – nach Deutschland gezogen. Ein unstetes Erwachsenenleben, mit vielen Stationen, Zwischenstopps und noch mehr Adressen. Woran liegt das?

Unterwegs aus Abenteuerlust

Ich vermute, dass eine Mischung verschiedener Faktoren dazu beigetragen hat: die komplexen Erlebnisse und oft schwierigen Zusammenhänge der Wendezeit, mit denen wir ostdeutschen Jugendlichen konfrontiert waren, gepaart mit individueller Neugier, dem Globalisierungsprozess und sich daraus ergebenden Möglichkeiten sowie Abenteuerlust, Weltoffenheit und einer gewissen inneren Unruhe. Trotz aller Weltenbummelei empfinde ich meine ostdeutsche Herkunft auch heute noch als prägend. In meinem Blog denke ich immer wieder ausführlich darüber nach, wie und weshalb das so ist.

Unaufhörlicher Kulturschock

Der abrupte Wechsel von einer vertrauten Gesellschaftsordnung zu einem völlig neuen System fühlte sich in den 90er Jahren wie ein unaufhörlicher Kulturschock und Stresstest an. Allerdings hätte ich das zu dem Zeitpunkt so nicht artikulieren können. Damals musste man da einfach irgendwie durch. Überleben. Alles Neue so schnell wie möglich verstehen und sich zu eigen machen. Verletzungen wurden ignoriert und Hilfestellungen gar nicht erst erwartet.

Als „Ossi“ abgestempelt

Dieser intensive Umbruch hat bei allen Ostdeutschen tiefe Spuren hinterlassen. Ich selbst gehörte zu den Heerscharen junger Menschen, die den Osten verließen, weil sich anderswo bessere Chancen boten. Wie so viele bemühte ich mich um schnelle, bedingungslose Anpassung, um ja nicht als „Ossi“ abgestempelt zu werden. Ich wollte stattdessen als eigenständige Persönlichkeit mit individuellem Charakter, Fähigkeiten und Eigenarten gemocht und anerkannt werden. Meistens gelang das auch, aber doch war da immer das Gefühl, nicht ganz ich selbst zu sein und mit meinen spezifisch ostdeutschen Erfahrungen nicht wirklich verstanden zu werden.

Die Außenseiterin

Es gab Momente, in denen ich meinen Background bewusst verschwieg. Und so manches Mal fühlte ich mich inmitten von gleichaltrigen Westdeutschen als Außenseiterin. Denn natürlich galt das Westdeutsche immer als die (unausgesprochene) Norm, während ostdeutsche Befindlichkeiten als weniger gut, richtig, wertvoll, cool, bedeutsam oder lebenswert wahrgenommen wurden. Eine anstrengende Zeit, die aber auch mit vielen schönen, interessanten und unbeschwerten Jugenderfahrungen, neuen Freundschaften, Spaß und Gelegenheiten gefüllt war.

Neue Heimat: London

So richtig zu mir selbst gefunden habe ich erst während meiner Zeit in London. Denn hier war das Westdeutsche nicht mehr der Normalfall. Inmitten einer kosmopolitischen Metropole wurde ich als eine von vielen verschiedenen Ausländerinnen wahrgenommen. Mein Kollegen-, Freundes- und Bekanntenkreis rekrutierte sich aus einer Mischung von Menschen aller Kontinente mit den verschiedensten kulturellen und ethnischen Hintergründen, Hautfarben, Religionen und Eigenschaften. Uns alle verband dabei die Erfahrung, sich als Migranten in einem anderen Land zurechtfinden zu müssen. So fühlte ich mich in London schon bald wie zu Hause, und dieses Gefühl hielt über viele Jahre an.

Nicht mehr willkommen

Doch dann erlebte ich eine weitere politische Wende: den Brexit. Nach dem Referendum vor über drei Jahren fühlte ich mich in meiner englischen Wahlheimat nicht mehr willkommen. Die Grundlage, auf der ich mir als EU-Bürgerin dort ein Leben aufgebaut hatte, war plötzlich verschwunden. Hinzu kam die Familiengründung. Bereits seit Jahren hatte ich meine Ursprungsfamilie immer mehr vermisst. Dieses Gefühl verstärkte sich nach der Geburt unseres Kindes zusehends. Die Familie meines Mannes lebt noch weiter weg, in Südafrika. So entschieden wir uns, gemeinsam nach Deutschland zu gehen.

Ungläubiges Staunen

Da wir vorerst einmal zurück in meinen erzgebirgischen Heimatort gezogen sind, bin ich gerade recht intensiv damit beschäftigt, mein Verhältnis zur „Heimat“ neu auszuloten. Es ist eine merkwürdig vertraute Erfahrung, nach einem halben Leben in der Ferne mit einem Mal wieder da zu sein. Momentan herrschen dabei zwei Empfindungen vor. Zuerst eine Art ungläubiges Staunen und Glücksgefühl, dass wir als Familie jetzt hier sein können. Eine riesige Freude darüber, dass mein Sohn sich inmitten der größeren Familie so unglaublich wohl fühlt. Es ist wunderschön zu erleben, wie viele Leute sich über unsere Rückkehr freuen. Ich genieße es, so viel Zeit wie möglich mit Menschen zu verbringen, die ich so lange vermisst habe. Das Gefühl, gewollt zu sein, tut gut! Die andere Komponente ist der Umzug von einer Großstadt aufs Land. Da sind die Gefühle gemischter. Zwar ist es schön, den Stress und die Isolation hinter sich zu lassen, und ich schätze die idyllische Umgebung. Aber ich vermisse die Vielfalt von Menschen und Möglichkeiten.

Wurzeln sind wichtig

Meine ostdeutsch-erzgebirgischen Wurzeln sind für mich mit der Zeit immer wichtiger geworden. Da finden sich viele wesentliche Erfahrungen und Werte, die mich durchs Leben begleiten und leiten: eine Grundeinstellung von Bodenständigkeit und Echtheit, die mich dazu ermutigt, mir selbst treu zu bleiben und mich nicht vom Schein unwichtiger Dinge blenden zu lassen. Dazu kommt jene rigorose Flexibilität, aus den Umständen das Beste zu machen. Eine Eigenschaft, die vor allem während der vielen Jahre im Ausland unentbehrlich schien. Wertvoll sind mir zudem Familien- und Gemeinschaftssinn sowie das stetige Suchen nach tiefen und authentischen Beziehungen. Zu DDR-Zeiten erlebte ich in unserem Dorf ein Umfeld, in dem die meisten Menschen mit ähnlichen finanziellen und sozialen Umständen zurechtkamen. Wohl auch deshalb ist für mich heute eine unstrittige Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung meiner Mitmenschen von zunehmender Bedeutung – inklusive diverser ethnischer, kultureller und religiöser Hintergründe, sowie unabhängig von Geschlecht, sozialem Status, finanziellen Mitteln und sexueller Orientierung.

Zu spät Mutter

Natürlich gibt es in meiner Prägung auch Aspekte, die mein heutiges Leben weniger positiv beeinflussen. Da ist zum Beispiel jener Begriff des ostdeutschen „Gebärstreiks“, weil junge Frauen nach der Wende eine Zeit lang kaum noch Kinder zur Welt brachten. Auch ich war damals komplett damit beschäftigt, mich in meinem neuen Umfeld zurechtzufinden. Später investierte ich meine Energie vor allem darin, mir im Ausland ein Leben aufzubauen. Hinzu kamen einige komplizierte Beziehungserfahrungen. So verging viel Zeit, bevor ich damit anfing, bewusst in ein gemeinsames (Familien-)Leben zu investieren. Nun genieße ich das Mamasein und das Zusammenleben in unserer liebevollen Kleinfamilie sehr. Manchmal wünschte ich mir jedoch, dass ich damit schon etwas eher hätte beginnen können.

Zukunftsangst

Auch das in der Pubertät durchlebte Chaos der Wendejahre hat seine schwierigen Spuren hinterlassen. So kommt es immer wieder vor, dass ich mit Zukunftsangst kämpfe. Ganz besonders habe ich das durch den Brexit gespürt. Die dadurch ausgelöste politische Unsicherheit mit nicht absehbaren Folgen für mein eigenes Leben hat mich unendlich gestresst. Zum Schluss bleibt die Frage: „Wo gehöre ich hin?“ Die Antwort darauf verweist jedoch auf keinen Ort, sondern auf Beziehungen, die mich über die Jahre hinweg begleiten. Das ist vor allem meine Familie, aber auch die Beziehung zu Gott, die mich durch meinen christlichen Glauben weiter trägt. Denn wo immer ich auch gerade bin, kommt mein Glaube mit, ist mein Gott schon da.

Viola Ramsden ist Marketing-Managerin im Erziehungsurlaub sowie Gesprächstherapeutin und Bloggerin unter Myostblog. Sie lebte in den letzten 13 Jahren in London und wohnt momentan mit ihrer Familie im Erzgebirge

„Nicht verboten, auf Bäume zu klettern“

Elisabeth Vollmer über ihre Sehnsucht nach einem Zuhause.

Willi Weitzel – der von „Willi will’s wissen“ – erzählt im Konzerthaus in Freiburg von seinen wilden Wegen. Die Massen strömen. 800 Kinder sitzen im großen Saal. Begleitet von ihren Eltern. Und wir. Zu zweit. Einfach nur, weil uns Willi Weitzel als Mensch und sein Reisebericht interessieren. Es ist ein beeindruckender, toller und langer Nachmittag. Die Kinder bleiben bei der Stange. Willi macht das einfach großartig. Auch ich bin fasziniert und froh, dass wir uns das gegönnt haben. Der letzte Satz von Willi klingt mir nach: „Zuhause ist dort, wo dein Herz glücklich schlägt!“ Etwas kitschigaltbacken stand dieser Spruch auf einem seiner Wege an ein Haus gepinselt. Und im Nachhall dieses Satzes spüre ich Dankbarkeit und Sehnsucht. Ich bin dankbar. Von ganzem Herzen dankbar für mein Zuhause. Und damit meine ich nicht (nur) das Haus, in dem ich lebe, oder das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Dankbar bin ich vor allem für die Menschen, die mir Raum geben und in deren Gegenwart mein Herz glücklich schlägt. Wo ich sein darf. Angenommen und geliebt bin. Glücklich. Und das nicht einmal vor allem, wenn ich gerade froh und unbeschwert bin. Sondern dann, wenn ich traurig, gescheitert, enttäuschend und unleidig bin. Und für die ich (hoffentlich) auch ein Stück Zuhause bin, in dem ihr Herz glücklich schlägt. Womit ich bei meiner Sehnsucht ankomme. Denn es gelingt mir viel zu selten, solch ein Zuhause zu sein. Und immer wieder bleibt auch meine Sehnsucht nach einem Zuhause in diesem Sinne ungestillt. Vermutlich ist es die Sehnsucht nach dem Zuhause in der Ewigkeit, die da in mir ruft. Und diese Sehnsucht möchte ich als Antrieb und Wegweiser nehmen, um immer mehr Zuhause in meinem Leben zu ermöglichen. Die erste Hürde, die ich dabei nehme, bin ich selbst. „Es ist alten Weibern nicht verboten, auf Bäume zu klettern“, ist von Astrid Lindgren überliefert. Wie oft stehe ich dem glücklichen Herzschlag mit ungeprüft übernommenen Dos und Don’ts im Wege. Wer sagt denn, dass Riesenrutschen im Schwimmbad nur von Eltern mit Kindern und Teenagern genutzt werden dürfen? Wer hindert mich, auf der Straße zu tanzen, wenn die Geige spielt und die Nacht zauberhaft ist? Mein Bruder hat neulich in unserer WhatsApp-Familiengruppe ein Video von meiner Mutter gepostet: schaukelnd, prustend vor Lachen. Sie ist 84 Jahre alt. Auf Bäume klettert sie nicht mehr. Aber ihr Herz schlägt glücklich, wenn sie schaukelt. Ich möchte mir und anderen erlauben, was glücklich macht. Nach dem Motto von Augustinus: „Liebe und tue, was du willst.“ Die zweite Hürde ist die Bereitschaft, mich mit „Okay“ zu versöhnen und darin glücklich zu sein. Ich habe keinen perfekten Haushalt, keinen perfekten Job, keine perfekten Kinder und keinen perfekten Mann. Das passt insofern ganz gut, als ich keine perfekte Frau bin und weder einen perfekten Körper noch einen perfekten Charakter vorweisen kann. Aber ich bin okay. Und meine Lieben und mein Leben sind es auch. Natürlich hoffe ich, dass manches sich noch zum Besseren hin entwickeln wird (also theoretisch vor allem ich, praktisch lieber alle anderen …). Aber zuerst einmal möchte ich dankbar wahrnehmen und annehmen, was mir geschenkt ist und darin mein glückliches Zuhause finden. Diese beiden Hürden habe ich für mich gerade im Blick. Es gibt weitere. Natürlich. Und auch weit mehr als drei. Aber ich habe ja mein Leben lang Zeit. Darf wachsen und wachsen lassen. Ein Zuhause geben und spüren, dass ich immer wieder zu Hause bin, wo mein Herz glücklich schlägt.

 

Elisabeth Vollmer ist Religionspädagogin und lebt mit ihrer Familie in Merzhausen bei Freiburg.