Wenn das innere Kind dazwischenfunkt
Ausraster, Hilflosigkeit und Ohnmachtsgefühle: Das innere Kind bringt die Harmonie zwischen vielen Ehepartnern durcheinander. Psychotherapeutin Melanie Schüer erklärt die Zusammenhänge.
„Tut mir leid, ich weiß auch nicht, warum ich mich so aufgeregt habe. Irgendwas hat mich daran total getroffen … aber es ist nicht deine Schuld“, murmelt Lea. Wieder mal ist sie ziemlich wütend geworden in einer Situation, die so ähnlich immer wieder für Konflikte sorgt.
„Wenn ich darüber nachdenke, fühle ich mich bei meinen Ausrastern, als wäre ich vergessen worden.“ Und tatsächlich: Gerade hat ihr Mann den Käse vergessen, den sie gern morgen zum Frühstück genossen hätte. Ihr Sohn hat gestern nicht daran gedacht, ihren Brief zur Post zu bringen, und ihre beste Freundin hatte sich nicht, wie angekündigt, gemeldet. In all diesen Situationen hatte Lea übertrieben wütend reagiert – eigentlich unreif, kindlich. Tatsächlich wecken diese Situationen Dinge in Leas Biografie, die das innere Kind betreffen.
Innerer Erwachsener – inneres Kind
Manchmal nehmen wir Menschen in uns verschiedene Stimmen wahr. Das ist die normale Tatsache, dass jeder Mensch verschiedene innere Anteile besitzt. Diese hängen auch mit unseren unterschiedlichen Rollen zusammen, die wir im Alltag einnehmen – zum Beispiel der Rolle als Freundin, als Partner, als Mutter, Vater, Angestellter oder als Schülerin.
Zwei sehr gegensätzliche innere Anteile sind das sogenannte ‚Erwachsenen-Ich‘ und das ‚innere Kind‘. Wenn wir sicher in der Rolle als Erwachsene agieren und uns dem, was uns begegnet, gewachsen fühlen, dann ist das Erwachsenen-Ich in uns besonders präsent. Wir fühlen uns dann souverän, selbstsicher und kompetent. Diese Gefühle sind stärker als Ängste, Sorgen oder Selbstzweifel. Es ist buchstäblich der erwachsene, reife Teil in uns – man könnte auch sagen, „die Stimme der Vernunft“. Das mag positiv klingen, beinhaltet aber auch negatives Potenzial wie Perfektionismus und Verlust von Lebensfreude. Wer immer nur auf den inneren Erwachsenen hört, schwächt oft wichtige Aspekte des Lebens wie Fantasie, Unbeschwertheit, Freude oder Spontaneität.
In diesen Zuständen kommt ein anderer Anteil besonders stark zum Vorschein: unser inneres Kind. Es kann uns befähigen, das Leben zwischendurch leicht zu nehmen und zu genießen. Wir können herumalbern und völlig im Moment sein. Gleichzeitig sind mit dem inneren Kind auch bestimmte negative Erfahrungen verbunden. Wenn das innere Kind in uns stark wird, dann kann es passieren, dass wir uns unzulänglich, gedemütigt, abgelehnt, hilflos oder belächelt fühlen. Diese Gefühle hängen mit Erfahrungen aus unserer Kindheit zusammen, die natürlich individuell unterschiedlich sind. Sie werden in Momenten wach, in denen wir an Situationen aus unserer Kindheit erinnert werden – oft sprechen wir dann von „Triggern“. Es fühlt sich an, als wären wir in die Situation von früher zurückversetzt. So wie Lea, die in Trigger-Situationen ein Muster erkennt, dass sie sich fühlt wie die kleine Lea in bestimmten Momenten.
Grundüberzeugungen auf der Spur
Prägende und wiederkehrende Erfahrungen in der Kindheit führen zur Entwicklung fester Grundüberzeugungen. Das sind Glaubenssätze, die unbewusst unsere Sicht auf uns selbst, andere Menschen und Situationen formen, zum Beispiel:
- Wenn ich nicht alles perfekt mache, werde ich nicht akzeptiert.
- Wenn ich anders als andere bin, werde ich zurückgewiesen.
- Egal, was ich tue, es ist nie genug.
- Meine Meinung und Wünsche zählen nicht.
- Ich muss alles kontrollieren, weil ich sonst nicht sicher bin.
- Die anderen können alles besser.
Selbstverständlich gibt es auch positive Überzeugungen, zum Beispiel „Ich kann etwas leisten!“ oder „Meine Meinung zählt etwas!“. Aber in Krisen und Problemen, insbesondere in der Paarbeziehung, bekommen die negativen Grundüberzeugungen stärkeres Gewicht. Das liegt daran, dass wir uns in einer Paarbeziehung besonders öffnen und dadurch verletzlich machen und an unser Gegenüber Bedürfnisse und Erwartungen herantragen, die denen eines Kindes gegenüber den Eltern ähneln.
Lea könnte die negative Grundüberzeugung so formulieren: „Ich werde oft vergessen, weil ich nicht wichtig bin.“ Lea wuchs bei ihrem alleinerziehenden Vater auf, der völlig überfordert war. Oft vergaß er, Lea etwas zu essen vorzubereiten oder sie vom Kindergarten abzuholen. Sie erinnert sich genau, dass sie oft als letztes Kind wartete, während ihr Erzieher versuchte, den Vater zu erreichen. Wenn Lea ihren Vater dann weinend begrüßte, nahm er sie nicht ernst: „Mach doch nicht so ein Theater. Ich komme doch immer!“ Irgendwann mischte sich Leas Traurigkeit mit Wut. Diese Wut über das Verhalten ihres Vaters konnte das Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht ein wenig abschwächen. Und genau diese Gefühle kommen auch jetzt wieder hoch, wenn sie sich vergessen und nicht wertgeschätzt fühlt.
Das innere Kind und die Paarbeziehung
Solche negativen Grundüberzeugungen aus der Kindheit mit den dazugehörigen Gefühlen wie Scham, Angst, Traurigkeit, Wut, gepaart mit Verhaltensweisen wie Konfliktvermeidung, übertriebener Anpassung oder mangelnder Offenheit haben einen enormen Einfluss auf die Paarbeziehung.
Im Paar-Alltag entstehen immer wieder Situationen, die uns unbewusst an Erlebnisse aus der Kindheit erinnern. Die Ähnlichkeit der Situation (zum Beispiel eine frustrierte Reaktion meines Partners, weil ich etwas nicht schaffe) kann die vertrauten Denkmuster, Gefühle und entsprechende Verhaltensweisen auslösen, zum Beispiel, wenn Lea ihren Mann anschreit, weil sie sich in diesem Moment wieder wie die kleine, vergessene Lea fühlt, sie von Traurigkeit überwältigt ist und mit Wut reagiert.
Diese Dynamik kann Konflikte immer wieder befeuern, weil beide Partner nicht verstehen, was eigentlich gerade passiert. Scheinbar kindische, unreife Verhaltensweisen treten immer wieder auf, denn handlungsleitend ist in diesen Fällen tatsächlich das innere Kind!
Das innere Kind auf frischer Tat ertappen
Um diese Zusammenhänge zu erkennen, ist es wichtig zu verstehen, welche Situationen zu Konflikten führen. Welche Muster sind erkennbar? Was haben die letzten Konfliktanlässe, an die Sie sich erinnern, gemeinsam? Was sind Themen, die ähnlich sind – zum Beispiel Äußerung von Kritik, Umgang mit Verschiedenheit, Einstellungen zu bestimmten Fragen wie Haushaltsführung, Finanzen, Alltagsgestaltung. Meist kommen schnell Muster zum Vorschein und zeigen an, was Ihr inneres Kind oder das Ihres Gegenübers triggert.
Dann gilt es, ein wenig in der Zeit zurückzureisen: Inwiefern kennen Sie dieses Thema beziehungsweise ähnliche Situationen aus Ihrer Kindheit? Was haben Sie damals empfunden? Was war damals belastend und stressig? Was hat Sie verletzt, beschämt, wütend gemacht oder geängstigt?
Das innere Kind beruhigen
Wichtig ist, in so einem Reflexionsprozess das innere Kind nicht einfach beiseitezuschieben. Das wäre auf Dauer nicht hilfreich. Denn das innere Kind meldet sich an ähnlichen Stellen wieder, weil dieses Thema in der Kindheit nicht ausreichend verarbeitet werden konnte. Es gilt daher, die Verletzung des inneren Kindes ernst zu nehmen und wie ein liebevoller Erwachsener mit Verständnis zu reagieren.
Es klingt vielleicht komisch, aber hier hilft ein wenig Kopfkino. Stellen Sie sich sich selbst als Kind in einer belastenden Situation vor, an die Sie sich noch erinnern können. Und dann gehen Sie in Ihrer Fantasie als heutiges, erwachsenes Ich auf Ihr jüngeres Ich zu und blicken es freundlich an. Sagen Sie ihm das, was Sie damals schon hätten hören müssen. Sprechen Sie ihm Mut und Trost zu und erklären Sie, dass die Situation heute anders ist als damals. Wenn Sie offen dafür sind, stellen Sie sich auch gerne vor, wie Sie sich dem inneren Kind zuwenden, es trösten und stärken.
Grundüberzeugungen verändern
Der nächste Schritt ist die Frage, welche Grundüberzeugung hinter dem Konflikt stehen könnte – im Beispiel von Lea: „Ich werde vergessen, weil ich nicht wichtig bin.“ Welche Erfahrungen haben zu dieser Überzeugung geführt – und welche anderen, positiven Erfahrungen und Erkenntnisse stehen dagegen? Sammeln Sie Argumente, was gegen die Wahrheit dieser Überzeugung spricht. Und wenn sie der Realität nicht standhält, dann formulieren Sie – am besten schriftlich – eine positive, realistische Grundüberzeugung – wie beispielsweise „Ich bin Gott so wichtig, dass er sogar die Zahl der Haare auf meinem Kopf kennt. Ich bin mir selbst wichtig. Und es gibt Menschen, denen ich wichtig bin, wie …“
Vergegenwärtigen Sie sich die positiven Sätze immer wieder, um neue Denkpfade zu prägen, die Ihre Wahrnehmung prägen und zur Realität werden. Womöglich fühlt sich das anfangs künstlich an – das ist normal, denn Ihr Gehirn hat ja jahrelang das Gegenteil gedacht! Geben Sie dem Training also etwas Zeit.
Nicht alles geht in Eigenregie
Vieles können wir selbst durch Reflexion erreichen. Manche Prozesse brauchen aber Begleitung und Hilfe. Einige Grundüberzeugungen sitzen so tief, haben eine so destruktive Wirkung, manche Erfahrungen unseres inneren Kindes waren so massiv, dass eine Aufarbeitung allein nicht gelingt. Ein freundliches, professionelles Gegenüber macht einen großen Unterschied und kann einen sehr heilsamen Prozess in Gang bringen.
Melanie Schüer ist Mutter von zwei Kindern und berufstätig als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Autorin im Osnabrücker Land. In Freundschaften und ihrer Paarbeziehung stößt auch sie immer wieder auf ihr inneres Kind.