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Wenn die Eltern altern – und meine Hilfe brauchen

Schlaganfall, Parkinson oder Altersschwäche – irgendwann brauchen die Eltern Hilfe. Besonders herausfordernd ist das für Einzelkinder. Kerstin Wendel berichtet, was stärkt und was hilft.

Wir Einzelkinder stehen allein da. Wieder mal. So sind wir es gewöhnt aus dem geschwisterlosen Leben. Dabei wartet eine Fülle von Herausforderungen auf uns, die ansonsten auf mehrere Schultern hätten verteilt werden können. Was kommt jetzt auf uns zu? Und schaffen wir das allein?

Wenn Eltern unterstützt werden müssen, ist manches zu organisieren. Wie ist dies oder das zu machen? Welche Hilfe bietet man an? Was muss delegiert werden? Wie geht es einem selbst mit den schwächer werdenden Eltern? Austausch mit Geschwistern über all diese Fragen gibt es nicht. Wenn vorhanden, können wir mit dem Ehepartner sprechen. Eventuell reicht uns das nicht. Wir fühlen uns zunächst allein und eventuell auch überfordert mit allem.
Idee: Gibt es Freundinnen oder Freunde, mit denen wir über unsere Herausforderungen sprechen können?

Konflikte mit den Eltern

Unterschiedliche Vorstellungen von Eltern und Kind prallen aufeinander. Es ist natürlich, dass Eltern und Kindern manches unterschiedlich handhaben im Alltagsleben. Kein Problem, solange jeder „nur“ für sein eigenes Leben zuständig ist. Jetzt aber heißt es, den Eltern und ihrer Alltagsgestaltung näherzurücken.

Ein Freund von mir musste sehr plötzlich die Krankenhaustasche seines Vaters packen. Er empfand Scham, weil die Kleidung nicht in Ordnung war. Eigentlich hätte er am liebsten erst einmal passende, saubere Schlafanzüge bestellt.

Anna* litt darunter, dass ihre Mutter so unbeweglich war. Jede Idee, den Alltag zu verändern, wurde abgelehnt. Alles sollte so sein wie immer. Da war kein Interesse, es sich leichter zu machen. Das alles sind Konfliktfelder.
Fragen: Was kann ich als Einzelkind anregen? Welche Entscheidung der Eltern muss auch einfach hingenommen werden?

Kommunikation ist manchmal nicht erwünscht. Manchen Eltern fällt es schwer, Vorkehrungen für das eigene Alter zu treffen. Sie möchten nicht darüber nachdenken oder darauf angesprochen werden. Da keine Geschwister da sind, kann man niemand anderen bitten, ein Gespräch zu übernehmen.
Idee: Ein Freund von mir hat deshalb den Hausarzt mit eingeschaltet, als er nicht mehr weiterwusste. So konnte im Dreiergespräch Wichtiges auf den Tisch kommen.

Alte Konflikte können belastend nachwirken, denn manche Familiengeschichte ist beschwert von früher. Vielleicht war es nie leicht, über Persönliches zu sprechen? Oder es wurden Grenzen überschritten? Vielleicht gab es nicht zu lösende Konflikte? Vielleicht haben Kind oder Eltern etwas nicht vergeben können? Diese Probleme werden unterschwellig mitlaufen. Wenn wir Kinder durchschauen, welche Themen „von früher“ noch mitschwingen, können wir versuchen, konstruktiv damit umzugehen.
Idee: Wir sollten abwägen, was wir überhören müssen. Wir werden außerdem lernen müssen, wie wir gut für unsere Seele sorgen können, damit wir innerlich frei helfen können. Unter anderem sicher dadurch, indem wir uns fokussieren auf die aktuell nötige Unterstützung.

Schatten der Vergangenheit – (un)ausgesprochene Vorwürfe

Manchmal ergibt es sich, dass das pflegende Kind zum Buhmann wird. Das liegt weder am jeweiligen Einzelkind noch an den Eltern, sondern häufig einfach an der Situation. Denn der alte Mensch muss sich sehr umstellen. Plötzlich mischt „das Kind“ sich in Alltagsentscheidungen ein. Das kann zu Wut, Ärger oder Ohnmachtsgefühlen bei den Eltern führen. Vielleicht tauchen Gedanken auf wie folgende: „Mir wird nichts erlaubt! Immer soll ich so viel bezahlen. Alles geht nach deiner Nase.“ Die werden vielleicht offen angesprochen und stehen als Vorwurf im Raum oder sie wirken unterschwellig. Da sich die Hilfestellungen nicht auf Geschwister verteilen können, landet alles auf der Einzelkind-Schulter. Das kann wehtun und frustrieren.
Frage: Wo und wie kann ich Dampf ablassen? Das eingeschränkte Einzelkind ist besonders herausgefordert. Einige meiner Einzelkinderfreunde sind wie ich nur begrenzt belastbar. Entweder sind sie selbst chronisch krank oder verheiratet mit einem chronisch kranken Menschen. Deshalb ist es nicht einfach, weise Entscheidungen zu treffen. Natürlich geht der eigene Ehepartner vor, aber die Verantwortung für die Eltern bleibt bestehen. Eventuell spürt das Einzelkind deshalb auch Enttäuschungen der Eltern, weil mehr an Hilfe nicht zu leisten ist.
Frage: Wie können wir uns als Paar und evtl. parallel die Eltern durch Hilfe von außen unterstützen lassen? (Tipps dazu siehe „Praktische Hilfen“)

Niemand redet mir rein

An einigen Stellen haben wir es auch leichter ohne Geschwister:
Es sind keine Absprachen nötig: Langwierige Telefonate mit den Geschwistern? Eventuell sogar Konflikte über unterschiedliche Ansichten, Geldausgaben oder Notwendigkeiten? All das kennen wir nicht. Das spart eine Menge Nerven und Zeit. Ich kenne einige Familien, in denen das Thema Elternpflege zur Belastung der Geschwisterbeziehungen wurde. Davon sind wir Einzelkinder verschont.

Neues Gemeinschaftsgefühl kann wachsen: Klaus* hätte gern schon viel früher seinen Vater unterstützt. Aber der lehnte ab. Erst als er zu schwach für vieles war, durfte Klaus ran: den Schuppen aufräumen, Unnötiges ausmisten. Nachdem die ersten Dinge erledigt waren, bekam Klaus einen dankbaren Vater zu spüren. Eine neue Erfahrung für ihn. Oder Ilse*. In ihrer Elternbeziehung war nicht alles rundgelaufen. Es gab unlösbare Konflikte. Die Schwäche eines Elternteils erwies sich als Entlastung. Plötzlich wurden andere Fragen wichtig, lenkten von früheren Auseinandersetzungen ab. In beiden Fällen wurde Familie wieder positiver erlebt. Dieses Gemeinschaftsgefühl kann Einzelkinder und Eltern stärken. Auf der letzten gemeinsamen Wegstrecke geht plötzlich noch etwas.
Keine Rivalitäten aufgrund dankbarer Eltern: Vielleicht zeigen sich Eltern plötzlich sehr dankbar für Hilfe und Unterstützung. Sie zeigen es verbal oder finanziell. Das könnte Neid unter Geschwistern hervorrufen. Dem Einzelkind tut es einfach nur gut.

Was praktisch hilft

Wie schon deutlich wurde: Es gibt Hilfen und Ideen, um sich in dieser Zeit unterstützen zu lassen. Neben den bereits genannten Anregungen gibt es weitere grundsätzliche Hilfen:
Emotionale Unterstützung: Seit meine Eltern schwächer werden, tut es mir gut, mit engen Freunden zu sprechen. Unter ihnen sind ebenfalls manche Einzelkinder. Manche Last wird plötzlich leichter, Gebetsanliegen werden ausgetauscht, hilfreiche Infos geteilt. Und es darf gelacht werden! Das baut Spannung ab, schenkt neue Kraft, manchmal auch den nötigen Abstand und macht vieles leichter.

Praktische/pflegerische Unterstützung: Das kann für Einzelkinder, die vor Ort leben, wichtig sein, erst recht aber für auswärtige. Schon lange, bevor meine Eltern pflegebedürftiger wurden (ich bin auswärtiges Einzelkind), haben wir uns zu dritt dafür entschieden, eine Ansprechperson vor Ort zu haben. Sie hat einen Schlüssel zum Haus meiner Eltern, weiß, wo die gepackte Krankenhaustasche steht und wo wichtige Dokumente liegen.

Nicht immer wird man sofort „springen“ können. Für diesen Fall ist vorgesorgt. Außerdem kann man die Infrastruktur des Ortes ausschöpfen: Welche Geschäfte können etwas liefern? Wo finde ich Unterstützung für Haus, Technik oder Garten? Hier helfen Kleinanzeigen in Zeitungen oder Geschäften sowie Kontakte über die Ortsgemeinde oder die Diakonie. Außerdem ist wichtig zu wissen: Welche Pflegedienste gibt es vor Ort? Wer bietet „Essen auf Rädern“ an?

Klar und eindeutig kommunizieren: Mir ist es wichtig, klar auszudrücken, was ich leisten kann und was nicht. Das schenkt Eltern Sicherheit und bewahrt das Einzelkind vor zu großen Schuldgefühlen.
Vorausdenken lernen: Wie schon angedeutet fällt es manchen Eltern schwer, über ihr Älterwerden nachzudenken. Sie verdrängen lieber. Andere denken häufig ängstlich und besorgt darüber nach. Für beide kann es entlastend sein, wenn das Einzelkind bereits Dinge durchdacht hat, am besten, bevor eine zu große Notlage entsteht. Das kann sich auf kleine Dinge wie Fensterputzen beziehen oder auf größere. Manche reservieren deshalb bereits einen Platz im Betreuten Wohnen oder Pflegeheim vor.
Loslassen lernen: Ich weiß um Zeiten in meinem Leben, in denen mir die Situation „Eltern brauchen Hilfe“ zu einer großen seelischen Belastung geworden war. Das liegt Jahre zurück. Als Christ hat es mir geholfen, diese Last zusammen mit meiner Seelsorgerin an Gott abzugeben. Das war ein längerer Prozess, aber ich habe erlebt, wie der Glaube mir Halt gegeben und in mir Heilung bewirkt hat.

Kerstin Wendel ist Autorin, Sprecherin und Seminarleiterin und lebt mit ihrem Mann in Wetter/Ruhr.

*Alle Namen geändert.