Paare brauchen bewährte Grundsätze, mit denen sie gut durchs Leben kommen, wenn es unübersichtlich wird. Von Jörg Berger
Beziehungen und Menschen waren schon immer kompliziert. Die Gesellschaft aber wird vielfältiger und vernetzter, das Tempo gesellschaftlicher Veränderungen zieht an. Deshalb widmet die Wissenschaft ihre Aufmerksamkeit zunehmend der Frage, wie Menschen in komplizierten Situationen entscheiden. Der Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahnemann hat auf faszinierende Weise entlarvt, welche Denkfehler uns unterlaufen, wenn wir Entscheidungen treffen. Sein Bestseller dazu heißt: „Schnelles Denken, langsames Denken.“ Der Cambridge-Professor für Management Donald Sull und die Stanford-Professorin für Ingenieurwissenschaften Kathleen Eisenhardt haben ihre Forschungsergebnisse in dem Bestseller „Simple Rules“ zusammengefasst: Erfolgreiche Menschen und Unternehmen orientieren ihre Entscheidungen an einfachen Regeln. Bewährte Regeln schützen uns vor Fehlern, besonders wenn Situationen emotional und unübersichtlich werden. Ihre Einfachheit hilft, dass wir sie auch wirklich anwenden.
Das hat mich inspiriert, auch einmal für Paarbeziehungen zu fragen: Wie finden wir einfache Regeln, die das gemeinsame Leben gelingen lassen? Längst hat sich unsere Lebenserfahrung zu Regeln verdichtet, an denen wir unsere Entscheidungen orientieren. Es ist spannend, sich das einmal bewusst zu machen. So können wir unsere Regeln überprüfen und auch neue Regeln finden.
Einfache Regeln sind konkret
Wenn ich bei uns als Paar und Familie beginne, dann ist mein erster Gedanke: „Als Christen wollen wir uns in jeder Entscheidung an Jesus orientieren. Das ist unsere einfache Regel.“ Doch in dieser Verallgemeinerung sagt eine Regel alles und nichts. Was heißt es denn konkret, dass wir uns an Jesus orientieren? Zwingen wir zum Beispiel unsere Kinder früh zum Teilen, weil Jesus auch geteilt hat? Oder wäre das lieblos und überfordernd? Wir haben aber auch konkrete Regeln gefunden. Eine ist: „Lebensentscheidungen treffen wir nicht aufgrund von finanziellen Kriterien. Wir vertrauen, dass Gott uns materiell versorgt.“ So haben wir in manchen Jahren Ersparnisse aufgebraucht, statt Vermögen zu bilden und uns um die gebotene Altersvorsorge zu kümmern. In anstrengenden Zeiten hatten wir beide unsere Stellen reduziert. Dadurch blieb für unser Familienleben und unsere Ehe so viel Zeit, wie es uns gut und richtig erschien. Wir könnten heute vielleicht wohlhabender sein, wenn wir nach einer anderen Regel entschieden hätten. Aber gefehlt hat uns bisher nichts.
Einfache Regeln sind individuell
Wir haben uns auch eine Priorisierungsregel gegeben: „Erst die persönliche Gottesbeziehung von jedem von uns beiden, dann Ehe und Familie, dann der Beruf und dann das übrige Engagement, zum Beispiel in der Kirche.“ Meine Frau hat mich auch in der Kleinkindphase zu Schweigetagen im Kloster freigesetzt, obwohl das für sie anstrengend war. Meine Tätigkeit als Psychotherapeut in einer Klinik dagegen hat zeitweise nicht zu unserer Priorisierungsregel gepasst. Durch die Überstunden und die hohe emotionale Beanspruchung hat sich der Beruf dann gegen meinen Willen an die erste Stelle geschoben. Meine verbleibende Kraft hat sich auf die anderen Bereiche aufgeteilt. Erst die Tätigkeit in meiner eigenen Praxis hat das geändert. Ich erwähne das auch, weil deutlich wird: Das darf nicht jeder so machen. Wer würde seine Erfahrung an junge Kollegen weitergeben, wenn jeder in die Freiheit einer eigenen Praxis fliehen würde? Wo stünden wir, wenn nicht manche Paare das Wagnis eingingen, für eine berufliche Schlüsselposition eines Partners die Familie hinten anzustellen und zu vertrauen, dass es trotzdem gutgeht? Unsere Priorisierungsregel passt zu uns. Wir sind überzeugt, dass wir mit ihr unser Bestes geben können. Die gleiche Regel könnte aber das Leben eines anderen Paares in die Irre führen.
1. Gesprächsimpuls: Regeln für unsere Prioritäten
Macht euch doch einmal eine Liste mit den zehn Dingen, die euch im Leben am wichtigsten sind. Versucht eine Reihenfolge zu finden, die euch als Orientierung dienen kann. An dieser geordneten Liste könnt ihr eure Priorisierungsregeln ablesen: „Wenn … und … nicht beide gut zu schaffen sind, dann muss … zurückstehen.“
Einfache Regeln verändern sich durch Erfahrungen
Manche Regeln stellen sich mit der Zeit als unpassend oder zu idealistisch heraus. Eine Regel, die uns selbstverständlich erschien, könnte man vielleicht so formulieren: „Wir begegnen jedem Menschen offen, ehrlich, konfliktbereit und unterstützend.“ Diese Regel hat uns aber auch in Auseinandersetzungen geführt, die uns viel Kraft gekostet haben, ohne dass dadurch etwas Gutes entstanden wäre. Wir haben uns auch an Unvollkommenheiten unserer Arbeitsstellen und unserer Kirchengemeinde gerieben und oft vergeblich mit Verantwortlichen nach besseren Wegen gesucht. Heute würden wir die Regel ergänzen: „Aber wir lassen los, bevor wir zum Opfer unguter Verhaltensweisen oder Strukturen werden.“ Man kann immer Nischen finden, man kann sich immer diplomatisch und unauffällig zurückziehen und sich so auf die Beziehungen und Einsatzfelder konzentrieren, in denen wirklich etwas Gutes entsteht. Umgekehrt würden wir ja auch nicht wollen, dass sich jemand lange und vergeblich an unseren Schwächen aufreibt. Unsere Lebenserfahrung stellt daher Regeln auf den Prüfstand. Wer sich an Regeln orientiert hat, die für andere passen mögen, sich aber für das eigene Leben nicht bewähren, der braucht den Mut zu eigenen Regeln. Und wer sich an überfordernden Grundsätzen abgearbeitet hat, darf sie bescheidener fassen.
Einfache Regeln für schwierige Zeiten
Seit über zwanzig Jahren begleite ich Menschen. Ich bin vielfach Zeuge von Gelingen und Scheitern geworden. Warum halten die einen Belastungen und Versuchungen stand? Warum zerbricht anderen, was sie sich aufgebaut haben? Ein Grund für das Scheitern hat mit unserem Thema zu tun. Menschen haben sich für vorhersehbare Schwierigkeiten keine Regel gegeben. Zum Beispiel ist es wahrscheinlich, dass sich im Lauf einer Ehe einer einmal fremdverliebt. Wer dann erst nach einer Regel sucht, ist vielleicht verloren. Auf dem Boden starker Gefühle gedeihen exotische Grundsätze, die nichts mit den bisherigen Überzeugungen eines Menschen zu tun haben, zum Beispiel ein Grundsatz wie dieser: „Seinen Gefühlen muss man folgen, wenn man sich treu bleiben will.“ Es hat aber noch einen weiteren Nachteil, wenn Menschen erst in Krisen nach einer guten Regel suchen. Denn eine junge Überzeugung kann sich nicht tief genug in der Persönlichkeit verwurzeln. Sie hat vielleicht die Kraft, ein schlechtes Gewissen zu wecken, doch Entscheidungen bestimmt sie nicht. Partner dagegen, die eine Fremdverliebtheit gut bewältigt haben, hatten Regeln wie: „Wenn mir das einmal passieren sollte, offenbare ich mich sofort meinem besten Freund/meiner besten Freundin und unternehme nichts, ohne dort Rechenschaft abzulegen.“
2. Gesprächsimpuls: Unsere Regeln für schwierige Zeiten
Habt ihr schon eine Regel für die Fremdverliebtheit? Und habt ihr einfache Regeln für andere Lebensereignisse, die euch vermutlich einmal treffen werden: ein Partner muss durch eine Krankheit gehen und verliert in dieser Zeit seine Leistungsfähigkeit und Ausgeglichenheit; in eurer Ehe entsteht ein Problem, das ihr trotz vieler Gespräche nicht lösen könnt; einer erlebt in seiner Gottesbeziehung eine längere Funkstille und wird von Glaubenszweifeln heimgesucht; einer gerät in eine berufliche Situation, die so schwer ist, dass sie auch das gemeinsame Leben belastet; eines der Kinder trifft eine Lebensentscheidung, die Leid nach sich ziehen wird. Vielleicht entdeckt ihr auch Regeln, die grundsätzlich für schwierige Zeiten passen.
Mit einfachen Regeln das Leben aufbauen
Einfache Regeln bauen unser Leben also in dreifacher Weise auf. Sie helfen uns erstens dabei, das Wichtige auch wirklich wichtig zu nehmen und unsere alltäglichen Entscheidungen daran zu orientieren. Eine einfache Regel, die uns als Familie gut durch die Jahre gebracht hat, lautet: „Was immer auch passiert, wir nehmen uns Zeit für schöne Momente und gute Gespräche miteinander.“ Das hat auch seinen Preis gehabt, denn in der Zeit, in der wir dieser Regel gefolgt sind, haben wir uns für anderes keine Zeit genommen. Zweitens helfen uns Regeln, Dinge auf Anhieb richtig zu machen. Eine How-to-Regel zum Beispiel, die ich gerne früher entdeckt hätte, lautet: „Versuche ein Kind erst zu erziehen, nachdem du eine einfühlsame innere Haltung gefunden hast und diese auch in deiner Körpersprache und deinen Worten ausdrücken kannst.“ Und drittens helfen uns einfache Regeln, in schwierigen Situation Fehler zu vermeiden. Ab und zu erziele ich in der Paartherapie schnelle Erfolge. Wenn das gelingt, dann nur aus einem Grund: Ich habe ein Paar dafür gewonnen, sich einfachen Regeln zu unterwerfen. Meist sind es die Regeln wie diese, die ich beiden Partnern an die Hand gebe: „Konzentriere dich auf das, was du selbst beeinflussen kannst. Wenn etwas nicht hilft, dann überlege dir etwas anderes. Wo du alleine überfordert bist, warte auf Hilfe.“
3. Gesprächsimpuls: Unsere How-to-Regeln
Im Alltag folgt ihr längst Regeln. Versucht doch einmal, von eurem Verhalten auf die Regeln zu schließen, denen ihr folgt: zum Beispiel in der Kindererziehung, bei der Haushaltsorganisation oder bei der Pflege eurer Beziehungen. Gäbe es hier vielleicht einfache Regeln, die euren Alltag noch leichter und erfolgreicher machen? Welchen Regeln folgen Paare, die euch in einem bestimmten Bereich ein Vorbild sind?