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Ausnahmezustand

Der Film „Elternschule“ hat für heftige Diskussionen gesorgt. Bei Eltern und Fachleuten gibt es sehr viel Kritik – zum einen am Film selbst, zum anderen an der dort gezeigten Therapie in einer Gelsenkirchener Klinik. Der Versuch einer Einschätzung von Bettina Wendland

Es fängt schon mit dem Titel an: „Elternschule“ suggeriert, es gehe hier um Anregungen für Eltern, wie sie den Familienalltag und die Beziehung zu den Kindern gut auf die Reihe bekommen. Aber um den normalen Familienalltag geht es nicht in diesem Film. Hier werden Eltern gezeigt, die sich in einer Ausnahmesituation befinden. Die mit dem Rücken zur Wand stehen. Die das Kind in ein Heim geben wollen, „wenn es hier nicht klappt“. Es geht um Kinder, die 14 Stunden am Tag schreien. Die nichts oder fast nichts essen. Die äußerst aggressiv sind. Mit einer normalen, durchaus stressigen Familiensituation hat das kaum etwas gemein. Und Tipps für eine gute Erziehung sollte man lieber woanders suchen.

Momentaufnahmen

Das einzig Gute an dem Titel des Films ist, dass er klar macht, dass es in dieser Klinik wohl nicht darum geht, nur die Kinder zu therapieren. Aber was konkret an Interaktion mit den Eltern gezeigt wird, beschränkt sich auf Lehrstunden über pädagogische und psychologische Zusammenhänge (die durchaus gute Informationen bieten) und kurze Gespräche mit Psychologen. Wie vieles andere auch bleibt in diesem Film im Dunkeln, wie genau die Therapie für die Eltern aussieht. Der Film erweckt den Eindruck, dass vor allem die Kinder lernen müssen: essen, schlafen, sich von den Eltern trennen.

Dieses Lernen geschieht in Trainings, bei denen wohl alle im Kino an irgendeiner Stelle schlucken müssen. Zum Beispiel beim Schlaflernprogramm auf die harte Tour: Nicht mal die Eltern dürfen rein, um das Kind zu trösten, sondern nur die Schwester. Es mag vielleicht Gründe für diese Art des Trainings geben (siehe das Interview mit Prof. Dr. Silvia Schneider weiter unten), sie werden aber unzureichend erklärt.

Und das ist meine Hauptkritik an diesem Film. Er bietet zu wenig Hintergrundinfos. Er zeigt Momentaufnahmen, erklärt aber nicht, wie genau die Therapie denn nun abläuft. Ich vermute, dass die Therapie viel individueller und in deutlich mehr kleinen Schritten verläuft, als dies im Film deutlich wird. Dass die Eltern stärker im Fokus stehen. Dass die Bindung und die Nähe von Eltern und Kindern eine größere Rolle einnehmen. Zumindest hoffe ich das.

Wissenschaftlich vertretbar?

Die Frage bleibt, ob die Therapie, wie sie in dieser Klinik stattfindet, gut und angemessen ist. Ob hier nicht Gewalt ausgeübt wird gegen Kinder – sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das NRW-Gesundheitsministerium prüfen das gerade. Ob die Therapie den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen entspricht. Hier scheiden sich die Experten. So distanziert sich die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie deutlich nicht nur von dem Film selbst, sondern auch von der angewandten Therapie: „Die in dem Film dargestellten Behandlungsmethoden zum Üben von Trennungssituationen und zur Schlafanbahnung (…) sind so hingegen weder wissenschaftlich evaluiert noch vertretbar.“ Dagegen stellt sich die Interessengruppe Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie hinter die Klinik und betont: „Das Behandlungskonzept der Klinik folgt den aktuellen wissenschaftlichen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF).“

Als Laie frage ich mich: Wer hat Recht? Deshalb habe ich zwei Fachleute um ihre Einschätzung gebeten. Auch diese Einschätzung fällt sehr unterschiedlich aus – nachzulesen in den beiden Interviews mit Daniela Albert und Silvia Schneider weiter unten.

Was den Film selbst angeht, ist für mich klar: Er wird dem Thema nicht gerecht. Nicht dem Thema „Erziehung“ und auch nicht dem Thema „Therapie“. Es ist für mich auch ein No-Go, die Kinder in diesen Therapiesituationen öffentlich zu zeigen. Sicher hat man die Eltern um Erlaubnis gefragt. Aber können Eltern, die in solch einer Ausnahmesituation stecken, das wirklich fundiert entscheiden? Sind sie sich bewusst, welche Folgen das für sie und ihre Kinder haben kann?

Sanftere Therapieformen

Was die Bewertung der Therapie angeht, bin ich unsicher. Ja, es sieht furchtbar aus. Aber ich kann es nicht abtun, wenn mir eine erfahrene Erziehungsberaterin erklärt, dass es nicht ohne eine solche oder ähnliche Therapie gehe, wenn die Situation so eskaliert ist. Bei körperlichen Erkrankungen gebe es ja auch Eingriffe, die man als Gewalt empfinden kann – man denke nur ans Blutabnehmen …

Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es keine anderen, besseren, sanfteren Therapieformen gibt. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk betont Karl Heinz Brisch, der eine Kinderklinik in München leitet: „Es gibt genügend bindungsorientierte, feinfühlige Methoden, Kinder mit solchen auch chronischen Störungen sehr erfolgreich zu behandeln.“

Eine Schlüsselszene in dem Film ist für mich, als eine Psychologin einer Mutter erklärt, sie habe ja wohl bisher den Grundsatz befolgt: „Wenn es dem Kind gut geht, geht es den Eltern gut.“ Nun müsse sie lernen, dass es genau umgekehrt ist: „Wenn es den Eltern gut geht, geht es dem Kind gut.“ Ich kenne diese beiden Sätze auch aus meinem Umfeld. Beide werden gern zitiert. Und beide sind wahr. Aber nur in einer gesunden Balance. Wenn ich nur einen dieser Grundsätze befolge, bin ich schnell in einer Falle. In der Falle der Überforderung. Oder in der Falle des Egoismus, der Vernachlässigung.

Ich bin davon überzeugt, dass es wichtig ist, die Bedürfnisse von Kindern und Eltern ernst zu nehmen und in eine Balance zu bekommen. Und sich Hilfe zu holen, wenn das nicht gelingt. Das ist es, was man Eltern zeigen sollte. Gern auch in einem gut gemachten Film.

Bettina Wendland ist Redakteurin bei Family und FamilyNEXT. Sie lebt mit ihrer Familie in Bochum.

 

„Den Kreislauf durchbrechen“

Prof. Dr. Silvia Schneider befürwortet die Therapie, die im Film „Elternschule“ dokumentiert wird.

Was finden Sie gut und hilfreich an dem Film?

Ich finde wichtig, dass das Thema der Regulationsstörungen – also frühes, starkes Schreien, Schlafprobleme, Fütterprobleme – in die Öffentlichkeit gerät. Es ist kaum bekannt, dass diese Störungen ein Schrittmacher für psychische Störungen im späteren Leben sind. Natürlich provoziert der Film im Hinblick auf Fragen wie: Was heißt Erziehung? Was heißt Grenzsetzung in der Erziehung? Aber wir merken im klinischen Alltag, dass sich Eltern mit diesem Thema sehr schwer tun: Wie viel Grenzen darf ich setzen? Da sind viele Eltern sehr verunsichert. Allerdings überfordert der Film hier auch die Eltern, weil nicht klar gemacht wird, wann wo welche Grenze zu setzen ist. Außerdem kommt in dem Film vermutlich zu kurz, dass Grenzen setzen nur die eine Seite einer guten Erziehung ist. Die andere Seite ist die emotionale Zuwendung, dass dem Kind Wertschätzung und Liebe gezeigt werden. Es wird nicht deutlich, dass es ein wichtiger Bestandteil des Behandlungskonzeptes ist, dafür zu sorgen, dass wieder positive Interaktionen zwischen Eltern und Kind stattfinden. Man hätte das Konzept und den Kontext mehr ausarbeiten und klarer machen können, um welche Störungsbilder es sich handelt, was typischerweise das Problem bei diesen Störungsbildern ist und warum man jetzt das tut, was getan werden muss.

Entspricht die Therapie, wie sie in Gelsenkirchen durchgeführt wird, den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen?

Was dort gezeigt wird, sind Therapien, die evidenzbasiert, also überprüft sind. Letztendlich geht es darum, den Kreislauf, der bisher etabliert war – bei dem Schreikind oder bei dem Kind, das sich nicht trennen kann – zu durchbrechen. Mutter und Kind haben über lange Zeit gelernt, dass der einzige Weg, mit Trennung umzugehen, der ist, sich nicht zu trennen. Das Kind ist zum Beispiel nicht in der Lage, den Kindergarten aufzusuchen oder abends allein einzuschlafen. Es wird eine Spirale in Gang gesetzt, wo die Mutter und auch das Kind nur noch Misserfolgserlebnisse haben. Sie gehen der Situation aus dem Weg, indem zum Beispiel in der Schlafsituation die Mutter oder der Vater beim Kind bleiben, bis es eingeschlafen ist. Hierdurch wird das Kind jedoch behindert, Selbstregulation zu erlernen, also von einem erregten Zustand sich alleine wieder herunter zu regulieren. In der Klinik wird versucht, diesen Teufelskreis aufzulösen, indem Mutter und Kind diesen Schritt erlernen. Es ist nicht nur das Kind, das lernt, sondern auch die Mutter, die lernen soll, dass es möglich ist, dass das Kind das allein macht.

Warum muss sich denn ein zweijähriges Kind unbedingt von der Mutter trennen? Warum muss es im eigenen Bett schlafen?

Von den Kompetenzen her ist ein Kind mit zwei Jahren in der Lage, allein zu schlafen. Das heißt nicht, dass es das auch tun muss. Das ist letztendlich eine Entscheidung der Eltern. Aber in  Familien, in denen Schlafsituationen oder Füttersituationen so eskalieren und es zu Regulationsstörungen beim Kind kommt, müssen wir helfen. Wir wissen, dass es in diesen Familien auch zu Gewaltanwendungen kommen kann, weil alle im System völlig erschöpft sind und keinen Weg raus aus der Eskalation wissen. Da müssen wir eingreifen.

Aber muss das mit so einer „rabiaten“ Therapie geschehen?

Ja, kurzfristig ist die Behandlung für Eltern und Kind anstrengend und herausfordernd, mittelfristig und vor allem langfristig führt sie jedoch dazu, dass wieder Ruhe in das Familiensystem kommt und Eltern und Kind wieder positiv miteinander agieren. In der Regel versucht man zunächst ambulant, mit den Eltern Strategien zu entwickeln, wie sie das Kind schrittweise an eine Trennungssituation heranführen können. Das hat bei diesen Familien vermutlich nicht funktioniert, sonst wären sie nicht in dieser Station angekommen. Natürlich ist die hautnahe Beobachtung dieser Behandlungsschritte belastend – Babyschreien, Weinen von Kleinkindern ist ein enormer Stressor. Aber Selbstregulation zu erlernen, ist einer der wichtigen ersten Entwicklungsschritte für Kinder. Es ist auch ein erster Schritt in Richtung Autonomie. Manche Kinder lernen das relativ leicht. Aber andere Kinder tun sich da sehr schwer. Und wenn die Mutter selbst sehr unsicher ist und immer wieder die Schritte zurücknimmt, die sie vielleicht schon erreicht hat, entsteht eine ungünstige Konstellation für Mutter und Kind. Dann braucht es manchmal diese Trainings.

Besteht nicht die Gefahr, dass durch ein solches Training die Eltern-Kind-Bindung leidet? Oder dass das Kind „gebrochen“ wird?

Es gibt Langzeitstudien, die untersucht haben, ob diese Trainings zu einer unsicheren Bindung des Kindes führen. Das ist nicht der Fall. Und was heißt das, dass ein Kind gebrochen wird? Ist ein gebrochenes Kind ein Kind, das keinen Selbstwert und keine Autonomie entwickelt und daraufhin mehr psychische Störungen entwickelt? Das ist hier definitiv nicht der Fall. Im Gegenteil: Wenn diese Regulationsstörungen nicht behandelt werden, haben diese Kinder ein erhöhtes Risiko, schon früh ADHS oder Angststörungen zu entwickeln. Sich gesund zu entwickeln, heißt, dass Kinder auch durch Phasen von Frustration oder durch schwierige Situationen durchgehen müssen. Wenn ich als Elternteil zu viel Regulation übernehme, ist das zwar gut gemeint, aber wir wissen, dass das nicht nur gut ist. Das Ganze setzt aber immer voraus, dass neben der Seite der Grenzsetzung auch die Zuwendungsseite funktioniert: positive Spielzeiten, gemeinsam lachen, was Schönes tun, kuscheln.

Prof. Dr. Silvia Schneider leitet den Lehrstuhl Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum und ist Direktorin des Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit (FBZ). Interview: Bettina Wendland

 

„Alleinsein bedeutet Gefahr“

Die Erziehungswissenschaftlerin und Familienberaterin Daniela Albert kritisiert die „radikalen verhaltenstherapeutischen Methoden“ der Gelsenkirchener Klinik.

Was ist Ihre Hauptkritik an dem Film?

Ich ärgere mich besonders darüber, dass dieser Film am Anfang als Film über Erziehung vermarktet wurde. Dies geschah unter anderem durch ein Zitat aus der Süddeutschen Zeitung, der das Filmplakat ziert: „Für jeden, der selbst Kinder hat, ist der Film ein Muss.“ Auch die Filmemacher schreiben auf ihrer Seite, dass es ein Film über die Frage sei, wie man richtig mit Kindern umgehen könne. In Kombination mit dem eher negativen Bild von Kindern, das im Film immer wieder transportiert wird, finde ich es sehr besorgniserregend, so etwas zu suggerieren.

Sie sprechen in Ihrer Rezension des Films von „sehr radikalen verhaltenstherapeutischen Methoden“. Würden Sie Verhaltenstherapie in diesem Setting grundsätzlich ablehnen oder müsste nur die Umsetzung eine andere sein?

Nein, es geht nicht darum, die Verhaltenstherapie grundsätzlich zu kritisieren. Sie ist oft Teil von ambulanter und klinischer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen – wobei man bei verhaltenstherapeutischen Maßnahmen auch immer das Alter der Kinder im Blick haben muss. Gerade im Fall von Klein- und Kindergartenkindern muss es aber primär um die Eltern gehen, weniger um die Kinder selbst.

In einem Interview mit der ZEIT erklärt Dietmar Langer, leitender Therapeut der Gelsenkirchener Klinik, der Film zeige nicht „die therapeutische Arbeit mit den Eltern, die intensive psychologische Arbeit an den Ursachen und traumatischen Erfahrungen“. Wenn man das berücksichtigt, erscheint für Sie die im Film dargestellte Therapie dann in einem anderen Licht?

Nein! Schlaftraining, Trennungstraining und auch Essenstraining, wie es im Film gezeigt wurde, werden zu Recht stark kritisiert. Nehmen wir als Beispiel das Schlaftraining: Die Vorstellungen von kindlichem Schlaf und die Erwartung, dass ein Baby durchschläft, entsprechen nicht dem „normalen“ Babyschlaf. Auch wir Erwachsene schlafen nachts nicht durch, wir bemerken es nur meist gar nicht. Bei Babys oder Kleinkindern meldet sich jedoch dann ein inneres Alarmsystem. Für sie bedeutet das Alleinsein in einem dunklen Raum und die Trennung von ihrer primären Bindungsperson Gefahr. Deshalb senden sie beispielsweise durch Weinen ein Signal. Wenn sie das nach einem Schlaftraining nicht mehr tun, liegt es nicht daran, dass sie plötzlich verstanden haben, dass sie in Sicherheit sind. Viel mehr merken sie, dass ihre Hilfeschreie nicht beantwortet werden und äußern ihre Not nicht mehr.

Was wäre Ihrer Meinung nach eine bessere Therapie oder Hilfsmöglichkeit für die Familien, die in dem Film dargestellt werden?

Wichtiger als die theoretischen Ansätze finde ich die Haltung der im therapeutischen Setting tätigen Personen. Diese sollten einen liebevollen und wertschätzenden Blick auf die Familien und speziell auf die Kinder haben. Daneben sollte es immer um die Stärkung der Eltern-Kind-Bindung gehen. Gute Ansätze auch für bindungsorientierte Therapie im klinischen Bereich gibt es in Deutschland vor allem durch Karl Heinz Brisch in München. Für den ambulanten beratenden Sektor stehen unter anderem Katia Saalfrank mit ihrem Ausbildungsgang in bindungs- und beziehungsorientierter Eltern- und Familienberatung, aber mittlerweile auch viele andere Berater und Therapeuten.

Daniela Albert ist Erziehungswissenschaftlerin und Eltern- und Familienberaterin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Kaufungen bei Kassel, Kontakt: familienberatung-albert.de. Ihre Film-Rezension findet man auf ihrem Blog www.eltern-familie.de. Interview: Bettina Wendland