Wie viel Mitspracherecht soll ich meinem Kind einräumen? Ab welchem Alter kann ich was erlauben? Wie viel Freiheit ist gut für mein Kind? Antworten von Sonja Brocksieper
Vielen Eltern ist es ein Anliegen, ihre Kinder in Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Sehr bewusst wollen sie nicht allein bestimmen, wo es langgehen soll. Stattdessen fragen sie die Kinder nach ihrer Meinung und wägen gemeinsam mit ihnen ab. In unserer Gesellschaft hat es einen Wandel gegeben, der sich mittlerweile auch in einem veränderten Erziehungsverhalten zeigt. Die Familienstudie von Tobias Künkler und Tobias Faix („Zwischen Furcht und Freiheit“) hat gezeigt, dass in christlichen Familien die autoritären Strukturen immer mehr zurückgegangen sind und stattdessen Kommunikation und die Wertschätzung des kindlichen Standpunkts eine wichtige Rolle spielen. Kinder werden als gleichwürdige Persönlichkeiten gesehen, die Achtung, Respekt und damit auch ein Mitspracherecht verdienen. Ein Ergebnis der Familienstudie ist, dass 69 Prozent der Eltern ihre Kinder oft oder sehr oft nach ihrer Meinung fragen, nur 3 Prozent tun dies selten. Aber es ist klar, dass diese Mitbestimmung auch ihre Grenzen hat. Denn ohne solche Grenzen gäbe es bei manchen Kindern nur noch Schokolade auf dem Speiseplan, und Kindergartenkinder würden ihr Bedürfnis erfüllen, ein eigenes Smartphone zu besitzen. Wie schaffen Eltern also den Spagat zwischen Mitspracherecht und klaren Vorgaben?
WACHSENDE MITBESTIMMUNG
Zunächst ist es hilfreich, wenn sich Eltern Gedanken darüber machen, welche Ziele sie in der Erziehung ihrer Kinder haben. Sicherlich wünscht sich jede Mutter und jeder Vater, dass ihre Kinder einmal das Elternhaus als eigenständige Persönlichkeiten verlassen, die in der Lage sind, vernünftige und reife Entscheidungen zu treffen. Aber diese Selbstständigkeit müssen Kinder im Laufe der Familienzeit erst mal lernen und einüben. Kommt ein Baby auf die Welt, ist es zunächst absolut hilfsbedürftig und benötigt die verlässliche Fürsorge der Bindungspersonen. Die elterliche Kontrolle und Einflussnahme sind zu Beginn des Lebens also stark ausgeprägt, müssen aber mit der Reifung des Kindes nach und nach abnehmen. Schritt für Schritt erlangt der kleine Mensch neue Fähigkeiten, entdeckt seinen eigenen Willen und möchte Dinge allein tun. Die meisten Eltern erleben das sehr einschneidend in der so genannten Trotzphase, wenn ihr Kind die Worte „nein“ und „ich“ entdeckt. Dieser Selbstbehauptungstrieb ist ein wichtiger Entwicklungsschritt, den die Eltern begleiten und in gute Bahnen lenken sollten. In dieser Zeit braucht das Kind die Erfahrung, dass der eigene Wille wünschenswert ist. Deswegen ist es wichtig, dass die Eltern die Bedürfnisse und Gefühle ihrer Kinder ernst nehmen, gleichzeitig aber auch vermitteln, dass die eigenen Bedürfnisse nicht das Maß aller Dinge sind: „Jetzt bist du richtig sauer, dass du nicht die ganze Schokolade haben darfst. Das verstehe ich. Aber Sophie möchte auch was von der Schokolade essen, und deswegen teilen wir jetzt.“ Im Laufe der Kindheit und der Teenagerjahre müssen die Eigenständigkeit und Selbstkontrolle des Kindes immer mehr zunehmen. Je älter die Teenager werden, desto mehr sind sie in der Lage, abzuwägen und reife Entscheidungen zu treffen. Genau das können Eltern fördern, indem sie überwiegend eine beratende und begleitende Funktion übernehmen. Und das bedeutet auch, dass das Mitbestimmungsrecht in der Familie unbedingt mehr Platz einnehmen muss. Schreiben Eltern ihrem fünfzehnjährigen Teenager immer noch vor, wann er abends ins Bett gehen muss, ist die Einflussnahme zu groß. Er kann nicht selbst die Erfahrung machen, welche Auswirkungen es hat, wenn er bis spät in die Nacht chattet.
EIN GESUNDES MASS
Leider gibt es keine Patentantwort auf die Frage, in welchem Alter wie viel Mitbestimmungsrecht sinnvoll ist. Welche Grenze wann gesetzt wird, bleibt eine individuelle Entscheidung, die von der Lebenssituation, von den persönlichen Werten und vom Temperament und der Reife des Kindes abhängt. Der Familientherapeut Achim Schad gibt folgenden Ratschlag: „Beim Ermessen von Entscheidungsspielräumen für Kinder sollte nach dem Motto verfahren werden: So viel Mitbestimmung wie möglich, so viel elterliche Entscheidung wie nötig.“ Auf dieser Grundlage sollten sich Eltern immer wieder die Frage stellen: Führen meine Erziehungsmaßnahmen in größere Eigenständigkeit, oder zu größerer Abhängigkeit oder in die Überforderung? Das Mitspracherecht muss ein gesundes Maß haben. Auf der einen Seite sollten Eltern ihren Kindern viel zutrauen und sie altersangemessen in ihrer Eigenständigkeit bestärken. Auf der anderen Seite können Kinder aber noch nicht auf einen so großen Erfahrungsschatz wie Erwachsene zurückgreifen. Deshalb brauchen sie einen Rahmen, in dem sie ohne Überforderung oder Verunsicherung lernen können. Einige Beispiele sollen deutlich machen, wie eine angemessene Mitbestimmung aussehen kann: In der Grundschulzeit wird eine feste Mediennutzungszeit für eine Woche festgelegt. Das Kind kann entscheiden, ob es diese Zeit am Computer oder vor dem Fernseher verbringt und wie die Medienzeiten innerhalb der Woche verteilt werden. Bei einem Kindergartenkind entscheiden die Eltern, ob es im Winter ein Kleid oder eine warme Hose anzieht. Das Kind kann aber mitbestimmen, welche Hose es anzieht. Die Eltern bestimmen, welche Lebensmittel auf dem Tisch stehen, das Kind darf sich aus diesem Angebot sein Frühstück zusammenstellen. Geht die Mutter mit ihrer Teenagertochter shoppen, ist ein Budget festgelegt. Die Tochter kann entscheiden, ob sie sich die teure Markenhose kaufen möchte, dann aber auf ein Paar neue Schuhe verzichten muss.
IMMER MEHR VERANTWORTUNG
Es ist hilfreich, die Mitbestimmung eines Kindes an die Übernahme von Verantwortung zu knüpfen. Ein Vorschulkind trägt zunächst für seinen eigenen kleinen Lebensraum Verantwortung. Dazu gehört, selbst an das Zähneputzen zu denken, die Spielsachen wegzuräumen und selbstständig zu essen. Wird das Kind älter, bekommt es mehr Verantwortung: kleine Aufgaben im Haushalt, die Versorgung des Haustiers, das selbstständige Erledigen der Hausaufgaben und ähnliche Pflichten. Je mehr Verantwortung ein Kind übernimmt, desto mehr wächst auch das Recht, eigene Entscheidungen zu treffen. Hat ein Kind die Aufgabe übernommen, ein Mittagessen zu kochen, kann man ihm die Entscheidung überlassen, was auf dem Tisch stehen soll. Mit den Aufgaben wächst das Mitbestimmungsrecht und somit auch der Freiraum, eigene Erfahrungen zu machen.
GRENZEN DER MITBESTIMMUNG
Sobald die eigene Gefährdung im Raum steht, ist es notwendig, die Mitbestimmung zu begrenzen. Niemand würde sein dreijähriges Kind an einer viel befahrenen Straße allein laufen lassen, auch wenn das Kind auf sein Mitbestimmungsrecht pocht. Außerdem kann ein Kind durch zu viel Freiheit überfordert werden. Zum Beispiel wünschen sich viele Kinder spätestens zum Wechsel auf die weiterführende Schule ein Smartphone. Stellen Eltern ihrem Fünftklässler nun ein internetfähiges Handy zur Verfügung mit dem Kommentar „Aber spiel nicht so lange“, ist das weniger ein Zeichen von angemessenem Mitspracherecht als von grober Fahrlässigkeit. Die Freiheit hat auch dann eine Grenze, wenn die Rechte anderer verletzt werden. Rücksichtnahme, Teamfähigkeit und Beziehungsfähigkeit sind wichtige Kompetenzen, die Kinder im engen Zusammenleben in der Familie erwerben können. Kinder sind Teil einer Gemeinschaft und müssen deswegen auch lernen, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse hin und wieder zurückstellen müssen.
EIGENE ENTSCHEIDUNGEN
Eine zentrale Aussage der oben genannten Familienstudie ist, dass Eltern, gerade im Hinblick auf die Glaubenserziehung ihrer Kinder, in einem Dilemma stecken: Sie wollen, dass sich ihre Kinder frei für den Glauben entscheiden, und gleichzeitig ist der christliche Glaube für sie alternativlos. Fakt ist, dass Eltern den Glauben ihrer Kinder nicht „machen“ können, und diese Spannung sollten sie aushalten können. Sie können Grundlagen schaffen, Angebote machen und vorleben. Aber je älter die Kinder werden, desto mehr müssen Eltern zurücktreten und akzeptieren, wenn die Kinder Entscheidungen treffen, die sie nicht gut finden. Einen Teenager in die Jugendgruppe oder in den Gottesdienst zu zwingen, ist äußerst schwierig, auch wenn die Not und Sorge der Eltern verständlich ist. Äußert ein zwölfjähriges Kind dagegen, dass es sonntags lieber ausschlafen will, ist es angemessen, wenn Eltern den Entscheidungsspielraum ihres Kindes einschränken. Ein Kompromiss kann sein, dass das Kind an einem Sonntag im Monat „frei“ hat. Bei ihren sechzehn- oder siebzehnjährigen Jugendlichen können Eltern nur noch Empfehlungen aussprechen und ihnen in erster Linie auf der Beziehungsebene begegnen. Darüber hinaus können sie ihr Kind im Gebet immer wieder vor Gott bringen. Letztlich sind Kinder ihren Eltern nur für eine begrenzte Zeit anvertraut und müssen als erwachsene Söhne und Töchter auf allen Ebenen ihre eigenen Entscheidungen treffen.
Sonja Brocksieper ist Diplom-Pädagogin und arbeitet für das Kindergottesdienstmaterial SevenEleven und Team.F. Sie lebt mit ihrer Familie in Remscheid, www.sonja-brocksieper.de.
Buchtipp: Dieser Artikel ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch „Frei erziehen – Halt geben“ (SCM R. Brockhaus), das von Tobias Künkler, Tobias Faix und Damaris Müller herausgegeben wird. Es enthält zahlreiche Artikel unterschiedlicher Autorinnen und Autoren zur christlichen Erziehung.