Foto: Sarah Boll

„Wenn ich nur auf die Behinderung schaue, verpasse ich mein Kind“

Sarah träumte von einem Kind, wie man es sich eben vorstellt: schön, gesund, schlau und stark. Doch dann wurde ihr Sohn Lasse mit Trisomie 21 geboren und sie musste all ihre Vorstellungen vom vermeintlichen Mutterglück loslassen.

Jetzt ist er da. Endlich. Und er ist perfekt, mein kleiner, wunderschöner Lasse. Doch als man ihn mir auf den Bauch legen will, bleibt mein Blick an der sehr kurzen Nabelschnur hängen. Ich bin erschöpft. Ich sollte mich lieber auf meinen glücklichen Mann konzentrieren, der gerade die Schnur durchtrennt, ermahne ich mich. Aber, denke ich jetzt, wo sein kleines Köpfchen meine Brust sucht, irgendwie sieht er auch ein bisschen merkwürdig aus. Das Wort „Down-Syndrom“ kreist in meinem Kopf. Aber alle verhalten sich normal, also zwinge ich mich, es auch zu tun.

Herzfehler übersehen

Die Hebammen verlassen den Raum und kommen schnellen Schrittes mit einer Ärztin im Schlepptau wieder. Sie untersucht ihn und befragt uns nach unseren Berufen. Ob wir denn da zufällig etwas über Trisomie 21 gelernt hätten? Okay, das gehört jetzt nicht zu den Standardfragen, denke ich. Die Ärztin rät uns, ihn Tim zu nennen. Das wäre ein leichter Name, den er sich leicht merken könne. Ob er „es“ nun habe, könne sie uns nicht sagen. „Aber organisch ist er völlig unauffällig“, höre ich noch wie durch Watte. Dass sie einen schweren Herzfehler und eine Darmkrankheit übersehen hat, erfahren wir erst zwei Tage später.

Nicht mehr Mensch

Ich schaue das warme Bündel auf meinem Arm an, und es kommt mir plötzlich fremd vor. Das Kind in meinem Arm ist nicht mehr Lasse, nicht mehr mein Sohn, nicht mehr Bruder, nicht mal mehr ein Mensch – er ist Down-Syndrom. Elf Buchstaben, die alles, wirklich alles verändern. Nicht zum Guten. Können wir ihn überhaupt noch Lasse nennen? Er ist behindert, geistig und körperlich wahrscheinlich lebenslang eingeschränkt, soviel weiß ich tatsächlich noch aus dem Studium. All die Bilder von zwei Brüdern, die demnächst gemeinsam durch den Garten rennen, verrinnen in ein tiefes, schwarzes Loch.

Niemand gratuliert

Obwohl wir erst 16 Tage später den Gentest in den Händen halten, fühlen sich ab diesem Moment alle Babythemen an wie eine Beleidigung. Falsch. Unnötig. Übertrieben. Über Krankheit und Defizite zu sprechen, fühlt sich richtig an. Die vorher liebevoll ausgesuchten Strampler bleiben in der Tasche. Sollen wir überhaupt Geburtskarten versenden? Keiner gratuliert mir, und das passt zu meinem Eindruck. Wieso habe ich eigentlich das Gefühl, ich muss die anderen trösten? Aber über all diese Gedanken schiebt sich ein anderer, größerer: Ich liebe ihn. Und ich habe einen starken Mann an meiner Seite. Das beruhigt mich.

Traurige Tatsachen

Aber der Reihe nach: Ich heiße Sarah, bin glücklich verheiratet und Lehrerin in Elternzeit. Bei der normalerweise folgenden Angabe – Mutter zweier Jungs – machte sich lange ein diffuses, schuldiges Gefühl in mir breit. Und so fügte ich immer gleich hinzu, dass der eine Junge Träger einer Behinderung sei. Ich fühlte mich, als müsste ich seine Existenz rechtfertigen. Als müsste ich damit ein Gleichgewicht herstellen. Und das ist nicht nur ein Gefühl, es beruht auf traurigen Tatsachen.

Keine Abtreibung

„Es ist in Deutschland leichter, ein Kind mit Behinderung abzutreiben, als einen Baum zu fällen“, titelte vor kurzem eine Zeitschrift. Neun von zehn Eltern entscheiden sich gegen ein Kind mit Down-Syndrom. In Island ist seit acht Jahren überhaupt keins mehr mit diesem Gendefekt geboren worden. Nun ist man als Mama von einem Kind mit Down-Syndrom dazu gezwungen, das eigene geliebte Kind als Risiko zu sehen, als etwas, das in unserer Zeit doch nicht mehr sein muss …

Foto: Sarah Boll

Foto: Sarah Boll

Wie ein Mahnmal

Manchmal spüre ich den Druck so stark, dass ich mich am liebsten mit Lasse in einem sicheren Kokon verschanzen würde, um mich all dem da „draußen“ nicht mehr stellen zu müssen. Nicht mehr den mitleidigen Blicken von Passanten ausgesetzt zu sein. Nicht mehr den Anflug von Erleichterung in ihrem Gesicht zu erhaschen, dass es sie nicht getroffen hat. Denn egal, wo ich mit ihm auftauche, er fällt auf. Er ist wie ein Mahnmal, denke ich an schlechten Tagen. Er zeigt uns, dass es eben auch schiefgehen kann, dass das Leben unberechenbar ist und es anders kommen kann, als man denkt.

Starker Glaube

„Sie können aber dankbar sein“, reißt mich eine ältere Dame aus meinen trübsinnigen Gedanken, als ich Lasse vor dem Krankenhaus herumschiebe, „so ein süßer Junge“. Es berührt mich sehr. Sie hat so recht. Und ich bin es auch wirklich, jeden Tag mehr. Das erste Jahr meistern wir trotz mehrerer Operationen erstaunlich gut. Beide in Elternzeit richten wir uns das Leben zwischen Klinik und Kleinkind zu Hause gut ein. Wir wechseln den Wohnort, und ich arbeite sogar ein bisschen an meiner Selbstständigkeit als Fotografin. Wir fühlen uns stark, getragen von all dem Zuspruch von Freunden und Verwandten, die unsere Fröhlichkeit und Stärke bewundern, und beschwingt von all den Veränderungen. Sogar mein Glaube erhält in dieser Zeit einen Aufschwung, denn meine kritische Theologie weicht einer persönlichen Kraftquelle, so wie ich sie als Kind kennenlernen durfte. Ich wünsche es mir so sehr, darin einen Anker zu finden.

Fürchterliche Schreie

Doch die schwere Herz-OP ringt mir meine letzten Kraftreserven ab. Immer öfter verlasse ich das Klinikgelände und stoße im Wald fürchterliche Schreie aus. Wieder zu Hause folgen Wochen, in denen ich nur noch auf dem Boden hocke und vor Angst, Scham und Verzweiflung nicht mal mehr ein Frühstück zustandebringe. Diese dumpfe Verzweiflung ist so hartnäckig, so freudlos und völlig perspektivlos. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich Fluchtpläne schmiede, die sich nicht selten in Todesphantasien verlieren. Ich stehe mal wieder vor dem Spiegel und schaue dem Biest in mir in die Augen. Was verfolgt mich? Ich dachte, ich hätte alles im Griff. „Ich hasse dich, du Versagerin“, fauche ich mir ins Gesicht. „Schau dich doch an, du schaffst es nicht!“ Heiße Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich klopfe mir stärker als gewollt gegen die Schläfe. Das kann doch alles nicht sein. Wo ist denn Gott? Er ist schließlich an allem schuld. Er trägt die Verantwortung für mein b… Leben. Er ist erbärmlich. Ich besinne mich. Für noch schlimmere Gedanken muss ich bestimmt in die Hölle. Ich tue Buße, und gleichzeitig meldet sich die Vernunft, dass ich so doch längst nicht mehr glaube. Dass ich mich ständig schuldig fühlte, war doch einer der Gründe, warum ich mit dieser Art von Glauben aufgehört habe.

Haushaltshilfe statt Klinik

Ich merke, dass ich Hilfe brauche und suche mir eine Psychologin. Sie bleibt total entspannt und sagt mir schon nach der ersten Sitzung, dass ich psychisch völlig gesund sei. Ich denke an eine geschlossene Klinik, und sie redet von einer Haushaltshilfe und mehr Freiräumen für mich. Und sie behält recht. Durch sie lerne ich, dass ich selbst das Bedürfnis habe, mich zu bestrafen. Ich selbst bin es, die mit einem verzweifelten Genuss in der Vorstellung schwelgt, dass mich die zwei Jungs samt Haushalt, Therapien und Ernährungsumstellung völlig zerstören. Schon mit der Geburt meines ersten Sohnes habe ich vieles aus meinem Leben gestrichen, was mich glücklich macht. In den Gesprächen mit der Psychologin kommen weitere unbearbeitete Themen aus der Vergangenheit hoch, die ich sorgsam unterdrückt hatte. Ich wollte doch so stark sein, und auch ein Kind mit Behinderung sollte mich nicht aus der Bahn werfen. Und jetzt das.

Foto: Sarah Boll

Foto: Sarah Boll

Neue Perspektive

In diesem langen, sehr schmerzhaften Prozess des Loslassens und der Annahme zieht es mich immer tiefer in die Kunst. Das passiert fast unmerklich, denn ich fotografiere meinen Alltag einfach immer mehr. Dokumentarisches Fotografieren ist ja auf Hochzeiten schließlich mein Job. Immer, wenn ich meine Kinder durch die Linse sehe, ändert sich die Perspektive, als würde ich plötzlich das Gesamtbild besser sehen und nicht nur die Fehler. Es entsteht viel mehr als nur ein Foto, das vielleicht eine besonders ästhetische und klare Bildsprache hat. Es ist, als würde etwas Göttliches dazukommen. Etwas Neues, das nicht auf Defizite schaut, sondern eine ganz tiefe Dankbarkeit und Demut schenkt für das, was ist. Vielleicht, denke ich, ist genau das meine Form des Gebets.

Offensichtlich unperfekt

Die vielen Fotos im ganzen Haus erinnern mich immer wieder daran. Sie sind wie kleine Trophäen für mich, die mir zujubeln und sagen: „Nur darauf kommt es an. Schau genau hin, es ist alles da.“ An guten Tagen, und das sind heute die meisten, kann ich sagen: Die Vorstellung, ein Kind mit Behinderung zu haben, ist viel schlimmer, als tatsächlich eins zu haben. Denn in Lasses Gegenwart wird man auf so heilsame Art aufs Wesentliche reduziert, aufs Im-Moment-Sein, aufs Lachen und aufs bedingungslose Lieben.

Er ist offensichtlich so unperfekt und dabei so glücklich, dass es einem schwerer fällt, sich selbst wegen eigener Mängel abzulehnen. Meine Schwester hat das ganz schnell verstanden. Sie hat damals die Geburtskarten mit goldener Gravur anfertigen lassen und erklärt, „dass besondere Kinder eben auch goldene Karten brauchen.“ Recht hat sie! Lasse ist wirklich ein Goldjunge, genau wie sein großer Bruder auch.

Sarah Boll arbeitet als freie Fotografin, ist verheiratet und stolze Mama von zwei Jungs. Sie schreibt auf familyandme.de