Wer darf mein Kind miterziehen?
„Letztens schimpfte eine Nachbarin mit meinem Sohn (3). Der wurde daraufhin noch frecher, also griff ich ein und erklärte ihm die Situation. Später fragte mich die Nachbarin, ob es okay sei, dass sie da mal was sage. Man sagt, ‚Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf‘, aber wer darf bei der Erziehung eigentlich mitreden?“
Das berühmte Dorf, das man braucht, um ein Kind großzuziehen, wird sehr gern in Erziehungssituationen herangezogen. Leider nicht immer in der Art, in der es eigentlich gemeint war. Es handelt sich dabei nämlich um ein afrikanisches Sprichwort, und es geht um das Aufwachsen in engen, familiären Gemeinschaften. Alle Kinder und Erwachsenen kennen sich sehr gut und leben in engerer Verbundenheit miteinander, als wir es heute mit unseren Nachbarn tun. In diesen Gemeinschaften gibt es einen Konsens über Normen und Werte, nach dem alle leben. Auch in Erziehungsfragen.
Vertrauensvolles Verhältnis
Enge Verbundenheit und gleiche Wertvorstellungen sind Grundvoraussetzungen dafür, dass jemand in die Erziehung unserer Kinder eingebunden wird. Heute wachsen wir nicht mehr in so engen, natürlich gegebenen Gemeinschaften auf. Die Menschen, die bei der Erziehung mitreden dürfen, suchen wir uns selbst aus. Dass wir mit ihnen ein vertrauensvolles Verhältnis pflegen, Werte teilen und vor allem, dass sie auch unseren Kindern nah genug sind, dass diese sich von ihnen begleiten lassen können, ist dabei wichtig.
Dies scheint in Ihrem Fall nicht da gewesen zu sein, und das erklärt auch die Reaktion Ihres Sohnes. Was Sie als „noch frecher werden“ beschreiben, ist für mich ein Ausdruck dafür, dass die Ansprache der Nachbarin für ihn nicht in Ordnung war. Er hat wahrscheinlich versucht, sich vor der Einmischung einer Person, die ihm nicht vertraut genug war, zu schützen. Ihr Sohn hat eine sehr gesunde Reaktion gezeigt, indem er erst einmal seine persönlichen Grenzen gewahrt hat.
Entscheiden, wer miterzieht
Das bedeutet aber nicht, dass es grundsätzlich falsch ist, wenn andere unseren Kindern etwas sagen, was ihnen nicht passt, auch wenn sie ihnen nicht so nahestehen. Wenn ein anderes Kind mit seinem Verhalten unsere persönlichen Grenzen verletzt, darf das angesprochen werden. Hier muss man zwischen Miterziehen und dem Setzen persönlicher Grenzen unterscheiden. Wer miterziehen darf, das entscheiden Sie. Das Recht, die eigenen Grenzen zu kommunizieren, hat dagegen jeder. Gerade kleine Kinder sind aber häufig überfordert, wenn fremde Personen mit ihnen schimpfen, und verstehen oft gar nicht, was sie gerade falsch gemacht haben. Deshalb finde ich Ihre Reaktion – eingreifen und Ihrem Sohn erklären, was die Nachbarin gestört hat – genau richtig. Wir als Eltern tragen bei so kleinen Kindern die Verantwortung dafür, dass sie die Grenzen anderer Menschen wahren.
Sprechen Sie noch mal mit Ihrer Nachbarin über die Situation und erklären Sie, dass Ihr Sohn noch zu klein ist, um zu verstehen, was falsch gelaufen ist, und dass er sie auch noch nicht gut genug kennt, um von ihr anzunehmen, wenn sie „mal was sagt“. Schlagen Sie ihr vor, stattdessen mit Ihnen zu sprechen, wenn sie etwas am Verhalten Ihres Sohnes stört.
Daniela Albert ist Erziehungswissenschaftlerin und Eltern- und Familienberaterin und lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Kaufungen (www.eltern-familie.de).
Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com