Kinder begleiten – auch nach dem Lockdown
„In den letzten Wochen habe ich viel über mein Limit agiert. Meine eigenen Kinder waren mir zu viel, zu fordernd“, schreibt Melanie in unsere Messenger-Gruppe, die derzeit eine Kleingruppe unserer Gemeinde ersetzt. „Mir gab Homeschooling den Rest!“, gibt Paul zu. „Ich habe meine Söhne noch nie so angebrüllt wie bei den Matheaufgaben!“ Während wir uns noch jammernd austauschen, fragt Sibel: „Aber ist es nicht auch so: Wir haben ohne fremde Einwirkung von außen mal erlebt, wie wir als Familie sind! Ich habe immer mehr Stolz auf uns als Team empfunden.“ Alle stimmen zu, und es wird klar: Die Familien werden sich durch Schule und Kita-Starts wieder verändern. Eltern können in dieser Veränderung bewusst Begleiter bleiben. Was brauchen Kinder jetzt?
Kinder entwickeln sich zu selbstbewussten und seelisch stabilen Erwachsenen, wenn ihre emotionalen und sozialen Bedürfnisse befriedigt werden. Nur wenn sie sich sicher und geborgen fühlen, wächst ihre seelische Stärke und ihr Vertrauen in sich und ihre Umgebung. Die Kraft sich zu lösen, Entdeckerfreude, Mut und positive Grundgedanken kommen von selbst, wenn ein Kind sich angenommen und geliebt fühlt.
Nach der Zeit der großen Nähe und der internen Familienzeiten brauchen Kinder nun Eltern, die Gestalter des Alltags bleiben. Kleinigkeiten, die Kinder im Alltag erleben, werden zu Erfahrungen und sind entscheidend für die Entstehung einer starken Persönlichkeit. Wenn Kinder Vernachlässigung, Abwertung, Beschämung oder körperliche Gewalt erfahren, ziehen sie zerstörerische Rückschlüsse über ihren Wert und verlieren mehr und mehr den Glauben an sich. Ein Kind erst zum Ende der Kitazeit abzuholen, um die beruflichen Herausforderungen zu stemmen, ist nicht das Problem, sondern wie die gemeinsame Zeit danach gestaltet wird. Unser Sohn Tarik hat mit fünf Jahren einmal sehr drastisch gesagt, was er von meinem wenig zugewandten Handeln hielt: „Du kannst mich im Kindergarten lassen. Du hast ja eh keine Zeit.“ Und bei näherem Hinsehen wurde mir klar: Wenn ich mein Kind beim Putzen, Telefonieren oder Einkaufen als störend empfinde, versteht es diese Grundhaltung als Information über seinen Wert.
Eine liebevolle und authentische Beziehung zum Kind ist wie ein guter Nährboden, um seine Anlagen und Talente weiterzuentwickeln. Fünf Ideen können helfen, diese Beziehung zu gestalten.
1 Liebe, Bindung und Nähe
Kinder spüren die Liebe und Nähe ihrer Eltern am stärksten über Körperkontakt, gemeinsames Kuscheln und regelmäßige bewusste Zuwendung und Blickkontakt. Bis heute lasse ich meine Hände über den Rücken meines schon erwachsenen Kindes kreisen, da ich es mir so bewusst angewöhnt habe, es anzusehen, zu berühren und so meine Nähe auszudrücken.
2 Verlässlichkeit und emotionale Sicherheit
Das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit entsteht, wenn Kinder stabile Beziehungen erleben. Aber auch, wenn ihr Alltag weitgehend vorhersehbar ist und nicht permanent Überraschungen bereithält. Mir hat es geholfen, meine emotionalen Vulkanausbrüche mehr und mehr zu filtern. Ich übe bis heute, meinen Kindern eine Mutter zu sein, die verlässlich lacht über Situationen, verlässlich die Augenbraue hochzieht oder auch verlässlich den Kopf schüttelt.
Diese Verlässlichkeit wird in vielen Familien durch Rituale geschaffen. Rituale vermitteln durch ihren immer wiederkehrenden gleichen Ablauf, dass das Leben keine überfordernde Größe ist und die Herausforderungen zu bewältigen sind. Feste Gewohnheiten wie das tägliche Vorlesen vor dem Schlafengehen oder eine Runde „Wie war der Tag?“ beim Abendessen schaffen Vertrautheit und sorgen dafür, dass Kinder sich behütet fühlen.
3 Zeit und Aufmerksamkeit
Um Selbstbewusstsein entwickeln zu können, müssen Kinder gesehen und gehört werden. Sie brauchen den Austausch mit ihren Eltern, aber auch die Auseinandersetzung, die Reibung, das Lob, regelmäßige Rückmeldungen und Zuwendung. Das geht nicht nebenbei, auch wenn unser Tag oft keine Zeiträume für Gemeinsames ermöglicht. Wie wäre es, wenn ich meinen Sport online weitermache, um das Abendessen mit den Kindern entspannter zu erleben? „Mir tut es jetzt schon leid um die Spaziergänge, die wir in der Corona-Zeit jeden Tag gemacht haben“, seufzt Jan.
Wie wäre es, die zahlreichen Hobbys der Kinder und den vollen Wochenplan neu zu bedenken und Zeit zu haben zum Backen, Radfahren oder einfach auf dem Boden zu sitzen? Bis heute erlebe ich immer wieder die Überraschung, dass unsere Kinder zu reden beginnen, wenn ich mich ohne Ziel in ihr Zimmer setze. Einfach so. Ohne Auftrag. Ich bekomme für diese Investition an Zeit einen wertvollen Einblick in ihre Gedanken.
4 Orientierung durch Werte
Wie das soziale Miteinander funktioniert, erfahren Kinder von ihren Eltern. Mit der Rückkehr in soziale Gruppen, die nun und in den nächsten Wochen passiert, erlebt das Kind Werte, die von den Familienhaltungen abweichen können. Oft unbewusst überprüfen die Kinder die Haltungen ihrer Familie und bringen neue Themen, Schimpfwörter oder TV-Serien mit nach Hause. Hier ist es um der Orientierung willen wichtig, nicht weg zu sehen. Passt es zu uns als Familie, andere Menschen zu beschimpfen? Warum gehen wir anders damit um?
5 Glauben am Esstisch
Unsere Gespräche haben sich verändert. Wir reden nicht mehr so viel darüber, wer wann wo hingeht und warum. Wir checken stattdessen die Fakten von dubiosen Behauptungen in YouTube-Clips, schauen gemeinsam Musikvideos an, diskutieren über Armut und Ungerechtigkeit. Den Esstisch als Begegnungsraum auch nach Corona zu behalten, ist mein Wunsch, auch wenn mein Schulkind bald nicht mehr neben mir über seine Aufgaben jammert.
„Der Online-Kindergottesdienst war unser Sonntagsritual. Ich war so bewegt von den Gesprächen darüber mit den Kindern. So was gab es sonst nie!“, berichtet Britta. In Familien sind die Esstischzeiten wertvoller geworden. Der geteilte Schmerz über Homeschooling-Hilflosigkeit, das 1000-Teile-Puzzle, die Basteleien, die Post an andere oder eine Gebetsrunde hat viele Familien neu formiert.
Nur Mut!
Liebe Mitfamilien, bleiben wir einander nah, auch wenn wir uns nach Freiräumen sehnen! Wir haben es geschafft, eine Krise als Team zu bewältigen.
Ich empfinde es so, dass meine Kompetenz als Mutter in den Herausforderungen gewachsen ist. Ich habe eine Stärkung meiner Elternkompetenz wahrgenommen, im Umgang mit meinen Teenagern und jungen Erwachsenen. Ich lerne den Einfluss der Medien neu einschätzen und lasse mir wieder öfter von den Inhalten berichten. Ich halte Glaubenszweifel und Gebetsfrust aus und füge meine persönlichen Fragen ein.
Krise hin oder her – wir bleiben Eltern. Aus Liebe zu den Kindern werden wir aus den Herausforderungen Gutes ziehen. Wir bleiben dran!
Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin und lebt mit ihrer Familie in Göttingen.