KIND = FREUNDSCHAFTSKILLER?

Wie man Eltern wird und Freunde bleibt. Von Nicole Schenderlein

Wenn das erste Baby unterwegs ist, bekommt man einige seltsame Sätze zu hören. Einer davon war bei uns: „Ab jetzt wird alles anders!“ Bei manchen klang das so, als wäre unser Leben bis jetzt nichts wert gewesen und würde erst durch ein Kind richtig vollständig. Bei anderen hörte man Mitleid durch, weil wir bald unser bisheriges Leben komplett aufgeben müssten. Sie schoben oft ein „Genießt es noch!“ hinterher. Insgesamt hing immer eine Art Belehrung in der Luft, nach dem Motto: „Ihr habt ja keine Ahnung!“ Nur wenige sprachen diesen Satz wie eine geheimnisvolle und faszinierende Prophezeiung aus, die wir erst verstehen würden, wenn wir es waren: Eltern.

BEZIEHUNGSTÖTER BABY?

Uns gingen diese Ratschläge ziemlich auf die Nerven. Im wahrsten Sinne. Obwohl wir gelassene werdende Eltern waren, säten diese Sätze nach und nach statt Ehrfurcht vor dem heranwachsenden Leben eine Art Furcht vor dieser Veränderung in uns, die angeblich „alles“ umkrempeln würde. Wir kannten das ja schon von Freunden, die Eltern geworden waren: Vorher waren sie engagierte, unternehmenslustige Typen gewesen, die jederzeit für eine spontane Aktion Zeit hatten. Nach der Geburt ihres Kindes mutierten sie über Nacht zu übervorsichtigen, angespannten Eltern, die nur noch das waren: Mama und Papa. Jetzt musste man vorher anrufen, bevor man vorbeikam – oder besser doch nicht, denn dann könnte das Baby vom Telefonklingeln aufwachen – also lieber eine SMS schreiben. Aber nicht wundern, wenn sie die erst eine Woche später lesen würden, das wäre jetzt eben so, mit Kind. Dass man die ersten Wochen und vielleicht auch noch ein halbes Jahr nach der Geburt eines Kindes diese neue Lebenswelt zu dritt erst erkunden und sich neu finden musste, war uns klar. Doch es gab Freunde, die auch Jahre danach nur noch über ihre Kinder sprachen. Wir verabredeten uns abends im Restaurant und wollten uns über unsere gemeinsamen Interessen austauschen: Gott, das Kinoprogramm, welche Bücher zurzeit auf unserem Nachttisch lagen – und auch über ihre Kinder, denn die mochten wir ja auch. Doch unsere Freunde lasen nur noch Erziehungsratgeber, erzählten umfangreich vom Schultüten- Basteln und tauschten Rezepte über Rührkuchen mit uns aus, obwohl sie wussten, dass Backen nicht unser Ding ist. Würde unser Kind uns auch so verändern? Können wir nicht frei entscheiden, wie unser Leben sich nach der Geburt verändern würde?

PARALLELWELT ELTERNKOSMOS

Wir heckten einen Plan aus. Erstes Ziel: Wir würden uns Freiräume als Paar schaffen, damit unsere Beziehung nicht innerhalb der Familie untergehen würde. Denn das kannten wir zur Genüge aus unserem Job als Paarberater. Also spannten wir jemanden für den Haushalt mit ein, eine zukünftige Patentante als weitere Bindungsperson und potenzielle Babysitter, damit Zeit für uns zu zweit blieb. Zweites Ziel: Freie Zeiten für jeden von uns. Uns war bewusst, dass wir mit Kind nicht mehr alle Interessen mit derselben Intensität verfolgen konnten. Also machte jeder eine Prioritätenliste, was ihm am wichtigsten war, um nach der Geburt nicht zu vergessen, was uns noch ausmachte, außer Mama und Papa zu sein. „Klingt nach einer guten Idee“, meinte ein Freund, als wir ihm davon erzählten, „aber Kinder scheißen im wahrsten Sinne auf solche Pläne.“ Er und seine Frau waren kinderlos und gehörten zu den „Zurückgelassenen“, die immer mehr Freunde an deren Kinder verlieren. Mittlerweile hatten sie kaum noch Freunde, die Eltern waren. Die meisten schafften es schlicht nicht, neben Familie, Beruf und Gemeinde noch alte Freundschaften weiter zu pflegen. Von ihm hörten wir zum ersten Mal den Begriff „Helikopter- Eltern“, die nur noch um ihr Kind kreisten. Eine andere kinderlose Freundin erzählte, wie sie sich während ihrer Junggesellinnenabschiedsfeier plötzlich in einem Haufen Mütter wiederfand, die nur noch über Stillhütchen, Beikost, den Inhalt der Windeln und geeignete Kitas sprachen, anstatt die Braut in deren neuen Lebensabschnitt zu verabschieden. War im Elternkosmos wirklich kein Platz mehr für andere Lebenswelten? Hatten wir keine andere Wahl? War Elternwerden wie eine Seuche, die alles andere auffraß, egal, wie gut man sich vorbereitete?

STERBENDE BEZIEHUNGEN

Als unsere Tochter geboren wurde, staunten wir nicht schlecht. Mit ihr kam tatsächlich eine Veränderung. Sie machte uns aber nicht zu komplett anderen Menschen. Sie erweiterte uns nur um neue Facetten. Etwas war anders, aber nicht alles. Nach den ersten Wochen und Monaten im – zugegeben – total umgekrempelten Alltagschaos mit Baby ging unser Schlachtplan auf. Wir mussten ihn immer wieder der jeweiligen Entwicklung unserer Tochter anpassen, aber wir schafften es tatsächlich, nicht nur Mama und Papa zu sein. Wir sind weiterhin Liebhaber und beste Freunde füreinander. Und wir pflegen unsere Interessen weiter – es kommen sogar neue hinzu. Vielleicht nicht unbedingt das Backen, aber das Basteln. Mit den Freundschaften ist es genauso. Wir hatten uns gefragt, welche Menschen in unserem Leben wirklich wichtig sind, damit wir auch nach der Geburt unserer Tochter dementsprechend Zeit mit ihnen verbringen konnten. Einige Bekannte fielen dem zum Opfer, aber das passiert auch während anderer Lebensphasen, die Veränderungen mit sich bringen: wenn man umzieht, den Job wechselt oder sich die Interessen und Gemeinsamkeiten verändern. Auch dann muss man Prioritäten neu setzen. Was wir allerdings nicht bedacht hatten, war die Reaktion einiger Freunde. Nicht alle konnten sich auf unsere Lebenssituation einlassen. Manche brachen den Kontakt ab. Sie hatten fast erwachsene Kinder und kein Interesse mehr an „schreienden Babys“. Wieder andere wurden penetrant und wollten plötzlich viel mehr Zeit mit uns verbringen, beziehungsweise mit unserem Baby. Beiden Freundschaftsarten ging es nicht um uns, sondern um sich: Baby haben wollen oder Baby auf keinen Fall haben wollen.

DSCHUNGELCAMP-FREUNDE

Von solchen Freundschaften verabschiedeten wir uns – und hatten dadurch mehr Zeit für unsere engen Freunde übrig, sogar mehr als vor der Geburt. Das schuf sogar noch Platz für neue Menschen in unserem Leben. Wir lernten andere Eltern kennen: übervorsichtige und gelassene, förderwütige und naturverbundene, strenge und grenzenlose. Eine bunte Mischung Menschen, die auch plötzlich diese neue Welt betreten hatten, in der vieles sehr emotional diskutiert wird: Schnuller ja oder nein? Kita oder zuhause bleiben? Gitter- oder Familienbett? Und, und, und. Die Elternwelt ist ein Dschungel, in dem es sehr hilfreich ist, wenn man Gleichgesinnte hat, die auch die Machete schwingen, um das Dickicht an Weltanschauungen und Erziehungsfragen zu lichten. Umso wichtiger sind aber Menschen, die sich außerhalb dieses Dschungels bewegen, die einen mit an den Strand oder in die Berge nehmen – Freunde, die auch dann noch da sind, wenn die Kinder irgendwann ausziehen und man den Dschungel verlässt. Ja, der Satz stimmt: „Mit Kind wird das Leben anders.“ Aber nicht alles. Es liegt an uns – und an unseren Freunden – wie viel wir einander wert und bereit sind, Zeit und Interessen in den anderen zu investieren. Denn Kinder sind keine mutierende Krankheit, die uns zu komplett anderen Menschen macht. Sie stecken uns nur mit einer neuen Lebenswelt an. Ob wir uns komplett darin verlieren oder sie neugierig durchforsten und danach weiterreisen, entscheiden wir ganz allein.

 

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