Auf den Schlips getreten …
„Im Übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht“, schrieb Kurt Tucholsky 1922 in einem Brief an Herbert Ihering. Leider aktuell, muss ich feststellen. Gestern war ich bei einer Klimademo von „Fridays for Future“. Viele Kommentare, die ich anschließend bei Facebook lesen musste, haben mich fassungslos zurückgelassen.
Da wird bemängelt, dass demonstrierende Schüler Kabelbinder aus Plastik für ihre Demoplakate verwendet haben. Und sie haben Smartphones. Und manche trinken auch aus Einweg-Wasserflaschen! – Also, wenn sie sowas machen, dürfen sie doch gar nicht demonstrieren für das Klima, schreibt einer. Sie sollen doch erst mal ihr Leben ändern. Und andere stimmen ihm begeistert zu. Mal ganz abgesehen von aggressiven und verletzenden Kommentaren …
Das macht mich traurig und wütend! Natürlich wären Mehrwegflaschen besser. Und Demoplakate ohne Plastik auch. Aber muss ich erst selbst perfekt sein, bevor ich von meinem Demonstrationsrecht Gebrauch machen kann? So ein Quatsch!
Wenn ich genauer hinschaue, stelle ich fest, dass sich besonders häufig Menschen 50+ über Jugendliche beschweren, die sich für Klimaschutz einsetzen und dafür auch mal die Schule schwänzen. Warum fühlen sie sich von den friedlich protestierenden Jugendlichen so dermaßen auf den Schlips getreten? Halten sie es nicht aus, dass ihnen der Spiegel vorgehalten wird? Dass sie, wenn sie ehrlich sind, zugeben müssen, dass sie häufig nicht sehr klima- und menschenfreundlich unterwegs sind?
Ja, es ist unbequem, wenn Jugendlichen einen kritisieren, herausfordern, zum Nach- und Umdenken bringen wollen. Aber ich finde es großartig, dass sich mittlerweile so viele Jugendliche engagieren. Und ich erlebe nicht, dass sie nur freitags demonstrieren und an den anderen Tagen so weitermachen wie bisher. Da entscheiden sich Jugendliche, auf Fleisch zu verzichten. Sie kaufen ein gebrauchtes Smartphone und Second-Hand-Klamotten. Und stecken mich damit an.
Zum Glück sind die krittelnden Midlife-Männer und -Frauen nur die eine Seite der Medaille. Bei der Demo gestern waren viele „ältere Semester“ engagiert dabei. Weil sie ihre jugendlichen Kinder oder Enkel unterstützen wollen. Und weil sie gut finden, dass die jungen Menschen „auf den Schmutz hinweisen“, wie Tucholsky sagen würde.
Bettina Wendland ist Redakteurin bei Family und FamilyNEXT und Mutter von zwei Teenagern.