Traurige Frau

Mutter mit zerbrochener Seele

Stefanie Bogner-Raab hat Paul (Name von der Redaktion geändert) als Pflegekind in ihre Familie aufgenommen. Seine Mutter hatte das Kind abgegeben. Weil sie sich nicht kümmern konnte. Weil sie gezwungen wurde, sich zu prostituieren. Und weil sie trotzdem stark und mutig war.

Mein Sohn kuschelt mit mir. „Du bist die beste Mama auf der Welt.” Ich streichle seinen Kopf und denke an seine leibliche Mutter. Sicher würde sie diese Worte auch gerne hören.

Paul ist unser Pflegesohn, eins von drei Pflegekindern, die wir aufgenommen haben. Er kam als Baby in unsere Familie. Zunächst waren mir die leiblichen Eltern der Pflegekinder nicht wichtig, aber nach und nach beschäftigte ich mich doch mit ihnen. Das Schicksal von Pauls Mutter berührte mich besonders, und ich empfand tiefes Mitleid und auch Verständnis für ihre Situation. Gott hat mir einen ganz anderen Blick auf Pauls leibliche Mutter geschenkt. Sie war nicht eine schwache Frau, die ihr Kind nicht erziehen konnte. Im Gegenteil, ich sehe nun ihre Stärke und auch ihre ausweglose Situation. Sie hat mit ihrer Entscheidung, Paul in eine Pflegefamilie zu geben, richtig gehandelt. Diese Entscheidung hat von ihr sehr viel Liebe, Kraft und Stärke erfordert.

Ein Brief an die Mutter

Weil mir ihr Schicksal nicht mehr aus dem Kopf ging, habe ich einen Text über sie geschrieben. Viele Fakten und Ereignisse in diesem Text sind wahr, andere könnten so passiert sein. Mit ihrer Geschichte möchte ich auf ein Schicksal hinweisen, das viele junge Frauen erleiden: Menschenhandel und Prostitution.

Wenn Paul alt genug ist, werde ich ihm diesen Text zeigen. Er soll wissen, dass seine leibliche Mutter ihn nicht einfach weggeben hat, sondern dass sie eine starke Frau voller Liebe war.

Aus einem armen Land

Liebe …,

Ich bewundere dich. Du konntest nichts dafür, dass du in einem Land geboren wurdest, in dem die Armut herrscht. Du hattest keine unbeschwerte Kindheit, musstest sehr früh mit anpacken. Die Kühe mussten versorgt werden, der Stall ausgemistet, die kleinen Geschwister geweckt und der Tisch gedeckt. Deine Eltern haben dich geliebt, aber sie waren einfache Menschen, die genauso früh lernen mussten, dass man hier nur mit harter Arbeit überleben kann.

Als du älter wurdest, hast du dich nach schönen Dingen gesehnt. Du wolltest gern ausgehen, das Leben genießen. Aus dem Fernsehen kanntest du diese wunderbaren Sachen, die man sich nur mit viel Geld kaufen kann. Mit 16 Jahren hast du dein Dorf, dein Leben gehasst. Du wolltest weg. Raus aus diesem einfachen, harten Leben.

Der Traum: Deutschland

Du trafst Alex, 9 Jahre älter als du. Er war nett, er hatte Geld und er kam aus Deutschland. Von Deutschland hattest du viel im Fernsehen gesehen und von Freunden gehört. „Es wäre ein Traum, dort zu leben“, dachtest du.

Du hast dich in Alex verliebt und er sich scheinbar auch in dich. Er hat dir Kleider und Schmuck geschenkt und dir schöne Geschichten über sein Leben in Deutschland erzählt. Von einem Au-Pair-Job berichtete er. Eine nette Familie suchte angeblich ein Mädchen wie dich. Konnte das wahr sein? Sollte der Traum tatsächlich Wirklichkeit werden?

Im Zimmer eingesperrt

Er wurde es – zunächst. Du hast deine Sachen gepackt, deine besorgte Familie hinter dir gelassen und bist mit Alex nach Deutschland gegangen. Kaum hier angekommen, änderte sich alles schlagartig. Alex war plötzlich nicht mehr nett. Dein Pass wurde dir weggenommen und du wurdest in einem Zimmer eingesperrt.

Ein älterer Mann erklärte dir, dass du nun für ihn arbeiten müsstest. Du hast erst gar nicht verstanden, was er von dir wollte, bis er sich auszog, dich aufs Bett presste und in dich eindrang. Du dachtest, du müsstest sterben. Tränen rollten über deine Wangen. In dir zerbrach etwas. Danach warst du ein anderer Mensch.

Ungewollt schwanger

Jeden Tag musstest du nun Männer an dich heranlassen und dabei noch sexy und freundlich sein. Dir wurde schnell klar: Ich kann nur überleben, wenn ich mitspiele. Also hast du deine zerbrochene Seele von deinem Körper gelöst. Du bist eine Prostituierte geworden, die ihrem Zuhälter viel Geld in die Taschen bringt. Mit 19 wurdest du ungewollt schwanger. Aber du hast nicht abgetrieben. Du hast dich für dein Kind entschieden. Wie mutig und liebevoll von dir!

Dein kleiner Junge kam zur Welt und du hast alles für ihn getan, was du nur konntest. Aber das Leben war hart. Du musstest weiter arbeiten, es gab keine Pause für dich und dein Baby. Deine Wohnung war kalt, keine Heizung, kein warmes Wasser. Dein kleiner Junge wurde krank und musste ins Krankenhaus. Dort hattest du das erste Mal Kontakt mit den Ämtern. Sie haben versucht zu helfen, aber es gab keinen wirklichen Ausweg für dich. Du hattest keinen Pass, warst in Deutschland nur geduldet, dein Zuhälter war mächtig, was solltest du tun? Du wolltest das Beste für dein Kind, und so hast du eine sehr schwere, aber ungeheuer tapfere und mutige Entscheidung getroffen: Du hast dein Kind einer Pflegefamilie anvertraut.

Trennung aus Liebe

Deine Seele ist wieder einmal zerbrochen. Was für ein Schmerz, sich von seinem eigenen Kind zu trennen! Unvorstellbar. Aber du hast es aus Liebe getan. Du warst dir sicher, dass es die richtige Entscheidung ist.

Nun sind fast zehn Jahre vergangen und du hast es geschafft: Du bist frei. Du hast dich entschieden zu kämpfen und hast den Kampf gewonnen. Keine Prostitution mehr, kein Zuhälter mehr. Mit fast 30 Jahren darfst du endlich leben. Es ist nicht leicht für dich. Du lebst unter dem Radar, aber alles ist besser als das Leben vorher.

Die gleichen braunen Augen

Du hast vor kurzem erfahren, dass es deinem kleinen Jungen gut geht. Er wird geliebt und entwickelt sich in der Pflegefamilie zu einem tollen Jungen. Und er hat die gleichen großen braunen Augen wie du. In ihnen kann man bis in die Seele blicken.

Deine Seele ist immer noch gebrochen, aber sie wohnt wieder in deinem Körper. Langsam, ganz langsam werden sich Narben über deine Risse bilden. Ich bewundere dich. Du lebst und gehst weiter. Du kämpfst.

Du bist eine starke Frau!

Deine Stefanie

Stefanie Bogner-Raab lebt mit ihrem Mann, drei Kindern, Hund und Katzen auf einem Hof im Münsterland. Wenn sie nicht liest oder schreibt, unterrichtet sie als Sprachtherapeutin freiberuflich Kinder und Jugendliche in Deutsch und Englisch.

1 Kommentar

Trackbacks & Pingbacks

  1. […] Nachmittag rief tatsächlich die Frau vom Pflegekinderdienst an: „Ein Notfall. Noch heute müsste ein knapp Zweijähriger für einige Wochen in einer Pflegefamilie untergebracht […]

Kommentare sind deaktiviert.