Bevor alles erledigt ist…
… darf man sich durchaus Schönes gönnen. Von Elisabeth Vollmer
„Nehmt euch Zeit für die Dinge, die euch glücklich machen“, steht jetzt seit 30 Tagen auf unserem Familienplaner. Und bevor sich das Kalenderblatt wendet, schaue ich noch einmal bewusst auf die Termine dieses Monats. Ich finde viel Alltag, ein paar herausfordernde Schwierigkeiten und – einige echte Glücksmomente. Mittendrin in diesem Monat steht eine Konzertlesung von 2Flügel. Jürgen hat mir diesen Abend zu Weihnachten geschenkt, und spontan haben wir an einem ganz normalen Samstag beim Frühstück beschlossen, nicht nachts die 140 km wieder nach Hause zu fahren, sondern uns in einem kleinen Landgasthof vor Ort einzuquartieren. Es war ein wunderschöner Abend, und als ich morgens neben meinem Mann aufgewacht bin, habe ich das Glück mit jeder Faser meines Körpers und meiner Seele wahrgenommen und genossen. Es ist ein Geschenk, so genießen zu können und der Abend war natürlich auch etwas Besonderes. Aber ich finde auch alltäglichere Glücksmomente wie eine Verabredung mit meiner Tochter: Wir haben ein gemeinsames Projekt gestartet, von dem noch nicht klar ist, ob es was werden wird. Aber allein die Tatsache, dass wir gemeinsam daran denken und träumen, macht mich glücklich. Mit meinen Geschwistern (fünf an der Zahl) und meinen Eltern habe ich mich getroffen, und wir verbrachten einen wunderschönen Nachmittag und Abend. Was für ein Glück, dass ich zu dieser Familie gehöre! Aus der Zugehörigkeit zu dieser Familie kommt aber auch ein weniger glücklicher Satz: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, war und ist die Maxime meiner fleißigen Eltern, der mir bis heute immer mal wieder in den Ohren klingt … Seit ein paar Jahren halte ich ihm aber frech und zunehmend gelassener einen anderen Satz entgegen: „Spaßmenschen dürfen sich zuerst Schönes gönnen und schöpfen daraus die Kraft für den schnöden Alltag mit seinen ungeliebten Aufgaben, den sie dann trotzdem erledigen.“ Ich zähle mich zu der Spezies dieser „Spaßmenschen“ und bin Ute Passarge dankbar für den (inzwischen fast zehn Jahre alten) Joyce-Artikel dazu, der mir seitdem die Erlaubnis gibt, mir Schönes zu gönnen, bevor alles erledigt ist. Dass auch noch ein Professor Günter Bauer das (hoffentlich seriös, ich hinterfrage das lieber nicht) wissenschaftlich untermauert, was ich schon lange fühle, lässt mich gelassener werden. Er findet, Spaß sei eine Überlebenshilfe, schaffe Freiräume und bringe Elan, Kraft und Kreativität in einer Weise ins Leben, die wir uns mit aller Anstrengungsbereitschaft nicht erkämpfen könnten. Was für eine wunderbare Erlaubnis! Denn es sind nicht nur und nicht einmal vor allem die Glücksmomente, die als Termin in meinem Kalender stehen, die ich immer mehr entdecken und genießen möchte. Es sind die kleinen Dinge des Alltags: die Wärmflasche, die mir mein Mann ins Bett gelegt hat, als ich spät abends nach Hause komme, spontane gute Gespräche am Familientisch oder die nette WhatsApp, die mir ein Lächeln aufs Gesicht zaubert. Ich brauche nicht nur Zeit für die Dinge, die mich glücklich machen, sondern vor allem einen wachen Blick dafür und die Freiheit, sie zu genießen. Sonst kann es nämlich passieren, dass all diese schönen Dinge mit „Glückspotenzial“ im Alltagsgrau unsichtbar werden, anstatt mich glücklich zu machen.
Elisabeth Vollmer ist Religionspädagogin und lebt mit ihrer Familie in Merzhausen bei Freiburg.