Zwei gestresste Eltern sitzen auf der Couch während die Kinder herumrennen.

Beziehungsprobleme durch Überforderung? Experte gibt Tipps

Reagieren Partner ständig gereizt, sind gestresst und dünnhäutig, steht schnell die Frage im Raum, ob etwas mit der Beziehung nicht stimmt. Doch manchmal ist Überforderung das, erklärt Psychotherapeut Jörg Berger.

Jede Paarbeziehung hat Kipppunkte. Werden sie überschritten, verändert sich das Gleichgewicht, in das sich das gemeinsame Leben eingependelt hat. Maren und Bastian (Namen geändert) zum Beispiel sind glücklich in die Liebe gestartet. Sie hatten tolle erste Jahre. In den Augen ihrer Freunde waren sie ein Dream-Team und irgendwie sind sie es auch heute noch. Trotzdem ist Maren frustriert. Sie fühlt sich im Stich gelassen mit allem, was erledigt werden muss. Warum verzieht sich Bastian in den Garten und pflegt ihn, obwohl drinnen das Chaos herrscht? „Das entspannt mich“, entschuldigt er sich. „Ich brauche auch Zeit für mich. Das war doch schon immer so.“ Umgekehrt fehlen Bastian Zärtlichkeit, Sex und Austausch mit Maren. „Wenn alles an mir hängt“, verteidigt sich Maren, „muss ich doch abends weiter machen. Dann bin ich müde und falle ins Bett.“ Sind das Beziehungsprobleme? Oder doch Überforderung?

Kein Beziehungsproblem

Haben Maren und Bastian ein Problem in ihrer Paarbeziehung? Kommen persönliche Defizite ans Licht, von denen sie früher nur nichts gemerkt haben? Ich kann verstehen, wenn es den beiden so vorkommt. Doch ich sehe nichts dergleichen, als ich sie kennenlerne. Sie haben ein Defizit, das nichts mit ihnen zu tun hat: Ihnen fehlt Zeit. Sie haben viel zu wenig Zeit für ihre Aufgaben, für das Miteinander und für sich selbst. Bis zum zweiten Kind ging es noch irgendwie.

Doch mit dem dritten ist es gekippt. Die Hoffnung, dass es nach der Geburt wieder entspannter wird, hat sich nicht erfüllt. Alles, was ungeplant dazu kommt, ist nun viel zu viel: eine ADS-Verdachtsdiagnose der Fünfjährigen, ein Wasserschaden im Keller. Bastian sitzt beim Abendessen und kann sich nicht entspannen. Es ist ihm zu laut und er schämt sich zugleich dafür. Es sind doch seine geliebten Kinder. Wenn die Kinder streiten oder jemand etwas runterwirft, reagiert er gereizt. Als Maren ihn dann auch noch tadelnd ansieht, steht er wütend auf und geht. „Super“, denkt sich Maren. „Jetzt muss ich schon wieder alles allein machen und er hat seine Ruhe.“

Überforderung erkennen

Wenn Maren und Bastian darüber nachdenken, was eigentlich los ist, stehen sie unter dem gleichen Tabu wie ich bei der Einschätzung ihres Problems. Sie können kaum ihre kleine Lia ansehen und sich denken: „Ohne dich wären wir noch im Gleichgewicht.“ Doch andere Einschätzungen führen in Sackgassen, wie etwa die, dass Bastian seine Verantwortung nicht übernehme und selbstbezogen sei oder dass Maren nur noch die Kinder liebe und ihr Bastians Bedürfnisse egal seien. Denn das stimmt nicht. So waren beide nie. Unter normalen Umständen sind beide verantwortungsvoll und großzügig. Doch die Umstände sind nicht normal. Es ist alles so viel.

Wie viel Familienleben ein Paar bewältigen kann, liegt auch an gesellschaftlichen Faktoren. Manchmal entlastet es ein Paar, wenn ich darauf aufmerksam mache:

„Die Anforderungen an Familien sind enorm gestiegen. Kindergarten und Schule binden Eltern viel mehr ein, als es früher der Fall war. Außerdem hat die Mobilität zugenommen. Deshalb ist Ihre Situation ganz typisch: Ihre Eltern wohnen nicht in der Nähe. Auch Ihre Geschwister können gerade kaum aushelfen. Sie sind weit weg oder selbst in der Überforderungsfalle. Schließlich gehen junge Paare wie Sie mehr auf die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder ein, als es Ihre Eltern getan haben. Das ist natürlich gut. Aber das braucht Zeit und kostet Kraft.“

Maren und Bastian können allmählich erkennen, dass sie sich den Umständen entsprechend gut schlagen. Sie tragen schon Verantwortung über ihre Leistungsgrenzen hinaus. Es ist nicht selbstverständlich, dass es überhaupt noch schöne Momente zu zweit gibt. Diese Sicht entspannt und schafft auch eine Grundlage für einen Aktionsplan.

Delegieren und Standards senken

Kinder sind ein Geschenk an die Gesellschaft. Warum sollte es nicht in Ordnung sein, um mehr Hilfe zu bitten? Wenn man es erklärt und die Hilfe wertschätzt, sind viele bereit, zu unterstützen, auch wenn sich Geben und Nehmen nicht ausgleichen. Entlastung bringen Kinderbetreuung, Fahrten zu Terminen oder Hilfe in Haus und Garten. Vielleicht finanzieren Großeltern, die weiter weg wohnen, eine Haushaltshilfe oder einen Babysitter, wenn sie wissen, wie sehr das eine notvolle Situation entlastet.

Wenn überlastete Paare ihre Ansprüche senken, sind die Folgen oft nicht so katastrophal wie befürchtet. Ein Kindergeburtstag mit süßen Stückchen und Limo, Sackhüpfen und freiem Spiel auf dem Hof macht genauso viel Freude wie der durchgestylte Geburtstag mit raffinierter Verköstigung, Bastelaktion und süßen Tütchen zum Abschied. Vielleicht erleben die kleinen Gäste sogar intensiver, worum es eigentlich geht: um Spaß mit dem Geburtstagskind.

Mit einigen Lehrern lassen sich Bündnisse schließen, wenn man sich anvertraut. Bei Buchvorstellungen oder Präsentationen ist es vielleicht in Ordnung, dass ein Kind selbstständig sein Bestes gibt und dafür genauso gelobt wird wie andere Kinder, die stundenlang mit den Eltern gefeilt haben. Vielleicht dürfen Eltern auch mal eine Notiz ins Heft kleben, dass es in einer Woche nicht für alle Hausaufgaben gereicht hat. Das würde nicht nur entlasten, es wäre auch eine Lebensschule für das Kind: Man muss nicht über jedes Stöckchen springen, das einem jemand hinhält.

Der Preis fürs Familiesein

„Könnten Sie es vielleicht auch akzeptieren?“ Das klingt seltsam aus dem Mund eines Therapeuten, zu dem man doch kommt, um etwas zu ändern. Doch manche Probleme sind einfach der Preis, den ein Paar bezahlt, um eine so große Familie zu sein, wie man es möchte – und manchmal auch: wie es sich ergeben hat. Vielleicht gehört es für ein paar Jahre dazu, dass beide unausgeglichen sind und überreagieren. Man streitet sich und versöhnt sich oder geht einander ein paar Stunden aus dem Weg. Vielleicht kann man mit dem leben, was einem fehlt: einem Mangel an Zeit zu zweit, an Intimität oder an Sicherheit, dass der andere mit anpackt, wenn man selbst nicht mehr kann. Angenommen, dies wäre der Preis fürs Familiesein, wäre es das nicht wert? Und könnte es den Mangel und die Überforderung aufwiegen, wenn man genug Zeiten mit den Kindern gestaltet, die einen auch selbst glücklich machen?

Ich will nicht zu viel versprechen, doch manchmal liegt der Schlüssel zur Veränderung in der Akzeptanz. Dann machen überforderte Paare die Erfahrung: „Wenn ich den Mangel annehme, spürt meine Frau weniger Erwartungen und geht wieder auf mich zu.“ – „Wenn ich schätzen kann, was der andere schon beiträgt, motiviert das, und mein Mann findet zu der Extrameile, die eigentlich schon über seine Grenzen geht.“

Welchen Preis können wir zahlen?

Eine ähnliche Doppelbelastung aus Mangel und Überforderung kann auch durch andere Situationen ins Leben kommen. Es kann auch ein Karriereschritt zu viel sein oder ein umfangreiches Ehrenamt. Doch nicht immer ist das Zuviel selbst gewählt. Manchmal ist es auch eine Erkrankung oder ein Elternteil des Paares, das akut hilfsbedürftig wird. Auch dann könnten die beschriebenen Strategien helfen, sich in Überforderung und Frust zu entlasten.

Ist die Entscheidung darüber, wie groß die Familie werden darf, noch nicht gefallen? Dass wir mit jeder Lebensentscheidung ins Risiko gehen, sollte uns nicht ängstlich machen. Warum sollten wir für das, was wir wirklich wollen, nicht auch einen Preis zahlen? Umgekehrt hilft diese Frage herauszufinden, was ein Paar wirklich will: Wäre es uns eine größere Familie wert, zur Not eine Lebensphase lang einen Mangel in der Paarbeziehung zu tragen oder überfordert zu sein? Eine mutige Entscheidung ließe sich so auf eine tragfähige Grundlage stellen. Das wäre auch realistisch. Denn ein Paar kann lernen, mit einem Mangel oder einer Überforderung liebevoll umzugehen. Es gibt aber keinen therapeutischen Trick, der beides aus der Welt schafft, wenn die Zeit nicht für alles reicht. Andererseits kann es auch Liebe sein, die sagt: „Mehr traue ich mir und uns nicht zu.“

Jörg Berger ist Psychologe und Psychotherapeut mit eigener Praxis in Heidelberg. psychotherapie-berger.de

Zum Vertiefen Jörg Berger: „Die Anti-Erschöpfungsstrategie“ (Herder Verlag, 2023)