Das geht uns doch was an!

Als Kind erlebte unsere Autorin eine Kultur des Wegsehens und Schweigens. „Das geht uns nichts an!“, bekam sie zu hören. Erst als junge Erwachsene erlebte sie, was Zivilcourage bewirken kann.

Heute Morgen las ich einen Zeitungsartikel und fühlte mich zurückkatapultiert in meine Kindheit. Ein Mann berichtete, wie er von angetrunkenen Jugendlichen in einer Straßenbahn angegriffen, an einer Haltestelle aus der Bahn geworfen, krankenhausreif geschlagen und von Straßenbahnführer und Mitreisenden schlicht ignoriert wurde. Geholfen wurde ihm erst, als er sich selbst in ein Krankenhaus schleppte. Später behauptete der Straßenbahnführer, von nichts gewusst zu haben. Kein Mitfahrer oder Passant meldete sich als Zeuge. Ich war nach dem Lesen dieses Berichts fassungslos. Und dann plötzlich sickerten Erinnerungen aus meiner Kindheit durch: Der Tag, an dem ich vom Fenster aus diese Beine aus der Hecke herauslugen sah. Ich muss sieben oder acht Jahre alt gewesen sein. Wir wohnten in einem Mehrfamilienhaus am Bahnhof. Von unserer Wohnung aus konnte man den Parkplatz und einen guten Teil des Bahnhofsgeländes überblicken. Und eines Tages lag da ein Mann reglos im Gebüsch. Ich zerrte meine Eltern ans Fenster und deutete völlig aufgelöst auf die Beine. Und meine Eltern? Sie taten nichts. „Der wird zu viel getrunken haben!“, sagte mein Vater. Damit war die Sache erledigt. Für meine Eltern. Ich dagegen war total aufgewühlt und schlich immer wieder ans Fenster, um zu gucken, was geschehen würde. Irgendwann kam ein Streifenwagen, zog den Mann aus den Büschen und verfrachtete ihn ins Auto.

DAS GIBT BLOSS ÄRGER!“
Ein paar Jahre später klingelte es abends an der Tür. Mein Vater öffnete, und da stand ein Polizist. Der wollte wissen, ob meine Eltern etwas von dem Kerl mitbekommen hätten, der gestern mit einer Schreckschusspistole einen Taxifahrer unten am Bahnhof bedroht hätte. „Nein, da kann ich Ihnen leider gar nicht weiterhelfen“, sagte mein Vater, und der Polizist verabschiedete sich.

 

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