Mut zur Schwäche

Von einem Skandal ist die Rede, wahlweise von einem Eklat. Dass Andreas Kümmert seinen Sieg beim ESC-Vorentscheid nicht annimmt und nicht für Deutschland in Wien auftreten will, empört viele seiner Fans. Und die Fans der anderen Kandidaten, die möglicherweise eine bessere Chance gehabt hätten, wenn der Sänger von vornherein auf seinen Auftritt gestern verzichtet hätte.

Aber es gibt auch Verständnis und Hochachtung vor seiner Entscheidung. Und dem möchte ich mich anschließen. Sowieso ist es schwierig, jemanden zu beurteilen, den man nicht bzw. nur aus dem Fernsehen kennt. Aber das Interview mit seinem Produzenten und einem Vertreter seiner Plattenfirma finde ich sehr erhellend. (http://www.daserste.de/unterhaltung/musik/eurovision-song-contest/videosextern/warum-ist-andreas-kuemmert-zurueckgetreten-100.html) Nein, die Entscheidung war offensichtlich nicht strategisch geplant. Andreas Kümmert hat trotz Fieber pflichtbewusst seinen Auftritt absolviert – so gut, dass er sich gegen alle anderen Kandidaten durchsetzen konnte. Und irgendwann im Laufe der Sendung wohl gemerkt, dass er es nicht packt. Die meisten anderen hätten ihre Zweifel und Befürchtungen wohl brav für sich behalten und das Spiel weiter mitgespielt. Für mich ist es ein Zeichen von Mut und Stärke, so offen zu seiner Schwäche zu stehen. Und vor diesem Publikum zu sagen: „Ich schaffe das nicht.“

Für mich ist Andreas Kümmert ein echtes Vorbild. Denn wie oft spielen wir das Spiel mit – in der Familie, im Beruf, in der Gemeinde? Wie oft machen wir das, was von uns erwartet wird? Wie oft halten wir die Fassade aufrecht? — Bloß keine Schwäche zeigen! Meine Familie braucht mich. Diese Gemeindeveranstaltung läuft nicht ohne mich. Ich kann meine Kollegen doch nicht hängen lassen …

Vielleicht müssen wir es öfter machen wie Andreas Kümmert. Die Reißleine ziehen. Auch wenn der Zeitpunkt ungünstig ist. Ehrlich sagen: „Ich schaff das nicht.“

Im Gegenzug sind wir natürlich auch gefordert, solche Reißleinen-Entscheidungen bei anderen zu akzeptieren und mitzutragen. Auch wenn das für mich mehr Arbeit bedeutet. Auch wenn ich dadurch vielleicht einen Nachteil habe. Mut zur Schwäche – vielleicht ist es das, was wir viel mehr brauchen.

Bettina Wendland

Family-Redakteurin

 

Bild: NDR/Willi Weber

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