Kayane und Raffi Messerlian. Foto: Stefanie Ramsperger

Ein Monatsgehalt für Strom in Beirut: „Es ist besser für unsere Kinder, wenn sie gehen“

Die Kinder von Raffi Messerlian verlassen den Libanon aus wirtschaftlichen Gründen. Der Vater trauert – und doch weiß er keine andere Lösung. Ein Interview.

Reverend Raffi, Sie leben in Beirut im Libanon. Nehmen Sie uns mit hinein in die Welt der Gerüche, Farben und Geräusche Ihres Heimatlandes.
Ich denke an die duftende Zeder, mit ihren Farben grün, weiß und rot, wie sie auf unserer Landesflagge abgebildet ist. Der Baum erinnert an eine lange Geschichte, über die auch die Bibel viel zu sagen hat. Auch der Duft von Kiefern ist typisch für den Libanon. Kirchenglocken, deren Klang sich mischt mit den Rufen der Muezzin von den Minaretten im Land, weisen auf die Werte im Libanon hin, wo Christen und Muslime Tür an Tür wohnen. Sie leben miteinander in einer einzigartigen Kultur.

Das ist die eine Seite des Landes. Es gibt auch die andere. Erzählen Sie von der wirtschaftlichen Situation im Libanon.
Der Libanon hat sehr große soziale, wirtschaftliche und finanzielle Probleme. Die krasse Inflation im Land führt dazu, dass die Menschen von Tag zu Tag ärmer und hoffnungsloser werden. Eins unserer größten Probleme ist, dass es uns an Strom fehlt. Vom Staat bekommen wir zwei Stunden Strom täglich. Alles andere müssen wir privat dazukaufen. Möchte ich für meine Familie 14 bis 16 Stunden Strom am Tag haben, habe ich meinen kompletten Lohn dafür ausgegeben. Dann ist für nichts anderes mehr Geld übrig. Das kann man sich vielleicht schwer vorstellen, wenn man in einem Land lebt, in dem es normal ist, 24 Stunden am Tag Strom nutzen zu können.

Menschen protestieren – ohne Sicht auf Besserung

Gegen diese Entwicklung haben Menschen in Beirut Ende 2019 protestiert.
Und seither ist es immer schlimmer geworden. Nach der Explosion am Hafen von Beirut im August 2020 gab es wieder verstärkt Proteste. Die Krise hat sich immer weiter zugespitzt und die Menschen verlieren den Mut. Im November 2019 hat mein Sohn Hovsep angefangen, davon zu sprechen, dass er wegen der wirtschaftlichen und finanziellen Probleme keine Perspektive im Libanon für sich sieht.

Was sind stattdessen seine Pläne?
Hovsep möchte sein Studium beenden und das Land dann verlassen. Als Vater verstehe ich ihn, weil die Situation hier tatsächlich hoffnungslos und sehr schwer ist. Aber natürlich sind wir auch sehr traurig, wenn er unsere Familie verlässt. Ich kann es ihm nicht übel nehmen, weil der Libanon gefühlt alle 15 Jahre eine Krise durchmacht, die das Leben hier extrem unsicher macht. Von 1975 bis 1990 hatten wir Bürgerkrieg im Land. Nun ist es die wirtschaftliche Situation und eine korrupte politische Führung, die Leute daran hindert, ihre grundlegendsten Bedürfnisse zu stillen.

Junge Menschen können keine Familie gründen

Die Situation verbessert sich nicht, wenn die jungen Leute abwandern.
Das nicht, aber sie finden hier im Land kaum Jobs, nachdem sie vorher ein kleines Vermögen in ihre Ausbildung gesteckt haben. Und selbst wenn sie einen Job bekommen, ist ihr Lohn im Verhältnis zum tatsächlichen Wert des Geldes so gering, dass sie sich davon kein Haus oder irgendwas leisten können, was ihnen ermöglichen würde, eine eigene Familie zu gründen. Manche sehen auch deswegen die Auswanderung als Perspektive, weil sie auf diese Weise ihre Familie, die im Libanon zurückbleibt, unterstützen können.

Wie ist es denn mit Ihrer Tochter? Wo lebt sie?
Meine Tochter Nayiry ist eine Woche nach ihrer Hochzeit in die Niederlande ausgewandert. Uns war klar, dass sie auswandern würde. Dazu muss man wissen: Wir leben auf dem Campus der Armenischen Kirche in Beirut, wo wir auch eine Schule betreiben. Unser Viertel ist sehr stark bevölkert. Es gibt auch viele arme Menschen dort, Afrikaner und vor allem syrische Flüchtlinge. Unsere Tochter hat einen Syrer geheiratet, der mit seiner Familie geflohen ist, als der Krieg dort begonnen hat. Unser Schwiegersohn wollte auf keinen Fall zurück nach Syrien, sollte die Situation sich so ändern, dass sie gezwungen wären, zurückzugehen. Deswegen war es ihm wichtig, einen europäischen Pass zu bekommen, und er hat eine gute Arbeitsstelle in den Niederlanden gefunden.

Welche Gefühle haben Sie, wenn Sie darüber nachdenken?
Wir sind einerseits glücklich für sie, weil sie es geschafft haben, in ein stabiles Land zu ziehen und der Situation, die wir hier im Mittleren Osten haben, entkommen sind. Andererseits sind wir natürlich sehr traurig, weil wir uns sehr nahestanden und sie jetzt weg sind. Es ist auch völlig klar, dass sie nie mehr zurückkommen werden.

Kontakt zur Tochter über WhatsApp

Wie oft können Sie Ihre Tochter sehen?
Ich habe das Glück, beruflich viel reisen zu können. Deswegen kann ich sie alle paar Monate besuchen. Für meine Frau ist es unglaublich schwer. Sie vermisst sie sehr. Wir reden über WhatsApp miteinander. Natürlich wünschen wir uns, dass die Situation hier besser wäre und sie bei uns leben könnten. Das würde unser Leben reicher machen.

Sie sind Pastor. Haben Sie sich bei Gott über die Situation beklagt?
Ehrlich gesagt habe ich nicht mit Gott gehadert. Ich habe es ziemlich schnell so akzeptiert, wie es ist. Ich bete, dass Gott meine Kinder segnet, egal, wo sie sind.

Vielen Familien geht es ähnlich

Befinden sich viele Familien in einer ähnlichen Situation?
Ja, ich kenne viele Familien, deren Kinder auswandern. Wir haben alle dieselben Sorgen. Aber wir können uns auch damit arrangieren, weil wir wissen, dass es für die Zukunft unserer Kinder besser ist, wenn sie den Libanon verlassen.

Was sagen Sie jungen Menschen, die nach Perspektiven suchen?
Natürlich ermutigen wir sie, hierzubleiben. Aber ich versuche sie auch zu verstehen, wenn sie – wie meine Kinder – keine Hoffnung hier sehen, wo wir leben. Wenn sie reisen, geben wir ihnen mit auf den Weg, ihre christlichen Werte beizubehalten. Ich empfehle ihnen auch dringend, den Kontakt zu ihrer Familie aufrechtzuerhalten und in dem Land, in dem sie sind, ihre libanesischen Wurzeln nicht zu vergessen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Reverend Raffi Messerlian ist am 13. Februar 1968 geboren. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Seine 24-jährige Tochter lebt in den Niederlanden, sein 21-jähriger Sohn noch im Libanon. Raffi Messerlian hat Pädagogik und Theologie studiert und arbeitet seit 1996 als Pastor in Beirut. Als Präsident des Jugendverbandes „World Christian Endeavor“, in Deutschland als EC-Verband bekannt, ist er auch international viel unterwegs.

Stefanie Ramsperger arbeitet als freie Journalistin und leitet die Öffentlichkeitsarbeit des Jugendverbands „Entschieden für Christus“ (EC). Sie ist verheiratet und hat eine Tochter.

Hintergrund: Libanon

Die Weltbank hat die Situation im Libanon zu einer der weltweit zehn schwersten ökonomischen Krisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts erklärt. Die Inflation ist immens: Die libanesische Währung hat in den vergangenen Jahren 90 Prozent ihres Wertes verloren. Korruption und Unsicherheit prägen die politische Situation im Land. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut. Dass es an Strom mangelt, ist nicht nur ein Problem für Privathaushalte, sondern auch im öffentlichen Raum, wie zum Beispiel für Krankenhäuser.