„Besuch uns doch mal!“
„Unsere Tochter (20) ist vor kurzem ausgezogen und wohnt in der Nachbarstadt. Wir sind unsicher, ob wir sie nun aktiv und regelmäßig einladen oder lieber warten sollen, dass sie von allein bei uns vorbeikommt.“
Sie haben Ihre Tochter bis zu diesem wichtigen Schritt in die Selbständigkeit begleitet. Nun wird sie neuen Herausforderungen begegnen, die sie ohne die direkte elterliche Hilfe meistern muss. Hier dürfen Sie Ihrer Erziehung zutiefst vertrauen. Aber es werden auch für Sie Veränderungen anstehen, die von vielen Fragen begleitet sind. Eine davon haben Sie formuliert. Ich möchte Ihnen dazu drei Gedanken mit auf den Weg geben.
1. EIN NEUES ZUHAUSE VERBINDET NEUE VERANTWORTUNG MIT NEUER FREIHEIT
Mit dem Auszug hat Ihre Tochter eine wichtige Entscheidung getroffen. Weitere Entscheidungen werden folgen. Sie sollten die Entscheidungsfähigkeit Ihrer Tochter fördern, indem Sie sich zurückhalten und diese Entscheidungen akzeptieren. Bieten Sie Hilfe an, aber übernehmen Sie keine Entscheidungen. Ihre Tochter wird sich neben dem neuen Wohnumfeld auch einen neuen eigenen Wirkungskreis suchen. Das braucht Zeit. Soziale Kontakte, Freundschaften und Freizeitgestaltung bedürfen eines „inneren Angekommenseins“. Gönnen Sie Ihrer Tochter diese Zeit ohne Eifersucht und halten Sie Kontakt durch ein Telefonat.
2. HEIMAT BLEIBT HEIMAT UND RIECHT WIE DAS ALTE ZUHAUSE
Seien Sie sicher, dass Ihre Tochter ein gutes Gespür dafür hat, was ihr Heimat bedeutet. Wer die Heimat besucht, kennt die Straßen und Orte, die Gerüche und Farben. Ein Besuch bei den Eltern weckt alte Erinnerungen. Die Gegebenheiten sind vertraut und die Abläufe klar. Das macht die Heimat so angenehm. Deshalb dürfen Sie getrost davon ausgehen, dass Ihre Tochter gern und aus eigenen Stücken zu Besuch kommt. Halten Sie das Haus offen und ein Bett bereit. Das muss aber nicht das alte Kinderbett, sondern kann durchaus das Gästebett sein.
3. AUSZUG BEDINGT EINE NEUE QUALITÄT DER ELTERN-BEZIEHUNG
Wenn die Kinder das Haus verlassen, braucht es ein Umlernen und Neusortieren zwischen den „verlassenen“ Eltern. Es wächst eine neue Qualität der Beziehung und des Gesprächs jenseits der Themen Kindererziehung und Co. Ähnlich den Veränderungen, die ein Kind mit sich bringt, wenn es in die Zweierbeziehung tritt, muss auch der Prozess des „Verlassens“ gestaltet werden. So ermutige ich Sie, auf den Besuch Ihrer Tochter fröhlich zu warten, aber über dem Warten nicht die eigene neue Entwicklung zu versäumen. Und Sie dürfen auch gern über Ihre Besuchskultur nachdenken. Der Sehnsucht nach einer Begegnung mit Ihrer Tochter kann man auch mit einem eigenen Besuch begegnen. Ihre Tochter freut sich sicher über einen Besuch von Ihnen, bei dem Sie gern auch die obengenannte Frage besprechen können. Sie zeigt Ihnen stolz die neu eingerichtete Wohnung, entdeckt mit Ihnen gern die umliegenden Cafés oder Spazierwege. Dabei wünscht sich Ihre Tochter sicher ein väterliches Lob und eine mütterliche Anerkennung. Wenn Sie die Welt Ihrer Tochter kennenlernen, wird sich ein Gefühl von Stolz und Dankbarkeit einstellen. Also liebevoll warten und fröhlich starten.
Gottfried Muntschick ist Geschäftsführer der CVJM Familienarbeit Mitteldeutschland e.V. und Vater von sechs Kindern, von denen vier bereits ausgezogen sind.
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