Mann auf einem Pier. Symbolbild: Getty Images / anyaberkut / iStock / Getty Images Plus

ERWACHSEN GLAUBEN

„Zurück zur ersten Liebe“ wird in Predigten oft als Ziel für die Glaubenden ausgegeben. Martin Benz plädiert dagegen für einen Aufbruch zu einer neuen, tieferen Liebe.

Glaube entwickelt sich. Wenn ich mein eigenes Leben betrachte, dann sieht mein heutiger Glaube anders aus als im Alter von 13 Jahren. Glaube geht durch Phasen, und es dient seiner Gesundheit, dass er immer wieder die Übereinstimmung mit der eigenen Lebensrealität sucht.

Je ernster Menschen ihren Glauben nehmen, desto absoluter und unveränderlicher wünschen sie ihn sich. Sie unternehmen große Anstrengungen, damit er sich nicht verändert, nicht verwässert oder lau wird. Glaube soll bleiben wie am Anfang, immer deckungsgleich mit dem Mix an Überzeugungen, den man aus einem bestimmten Bibelverständnis hergeleitet hat. Und doch erleben manche Christen über die Jahre hinweg die zunehmende Entfremdung ihres starren Glaubens von ihrem Leben. Mir begegnen immer mehr Christen, die mit ihrem Glauben ehrlich werden wollen. Für sie ist die innere Spannung zu groß geworden, und sie erleben den Glauben zunehmend als frustrierende Erfahrung. Diese Christen sind glaubensmüde, sie fühlen sich in ihrem eigenen Glauben nicht mehr zu Hause. Ein bestimmtes Entwicklungsmuster begegnet mir dabei immer wieder.

Erste Leidenschaft

Bei vielen Christen beginnt das Glaubensleben mit dem, was man typischerweise als „erste Liebe“ bezeichnet. Überwältigende Erfahrungen mit Gott oder Gemeinschaft zünden ein inneres Feuer an, das viel Glaubensenergie freisetzt. Es ist eine Phase hoher Aktivität bei nicht so hoher Reflexion dessen, was man da eigentlich glaubt. Das Leben kommt durch den Glauben erst einmal in Bewegung.

Als ich den Glauben als Teenager entdeckt habe, war er von dieser radikalen Leidenschaft geprägt. Ich habe die Bibel zweimal im Jahr durchgelesen, meine Klassenkameraden zu allen möglichen christlichen Veranstaltungen eingeladen, auf Jugendfreizeiten Traktate verteilt, meine weltlichen Schallplatten zerbrochen und die Spielkarten der Eltern verbrannt.

Klare Glaubenssysteme

Im Laufe der Zeit entwickelt sich daraus ein Glaubenssystem. Es wachsen theologische Überzeugungen und Prägungen, und man eignet sich ein bestimmtes Set an Glaubensinhalten an. Der Glaube gewinnt an Profil mit klaren Ansichten. In dieser Phase erlebt man zunächst eine wachsende Übereinstimmung zwischen Lebensrealität und Glaubensrealität.

Durch meine geistliche Prägung war ich zutiefst davon überzeugt, dass Gott alle Kranken heilt, die Bibel wörtlich zu nehmen ist, all ihre Moralvorstellungen immer noch gültig sind und Gott die Seinen vor allem Übel bewahren wird.

Ernüchternde Realität

In der dritten Phase wird diese Übereinstimmung empfindlich gestört. Durch ausbleibende Gebetserhörungen, geplatzte Lebensträume, Brüche in der eigenen Biografie, Gemeindekonflikte, Zweifel am bisherigen Bibelverständnis oder die Konfrontation mit anderen Glaubensmodellen bekommt das Glaubenssystem Risse. Die Eindeutigkeit bisheriger Überzeugungen schwindet, und man erlebt eine wachsende Enttäuschung, Skepsis und Ernüchterung dem Glauben gegenüber. Diese Phase ist oft mit Schuldgefühlen verbunden, weil man weiß, was man glauben sollte, es aber nicht mehr kann.

Bei mir war es eine zerbrochene Ehe, die mich auf den harten Boden der Realität aufschlagen ließ und an den Grundfesten meiner Glaubensüberzeugungen gerüttelt hat. Warum hat Gott meine Ehe nicht bewahrt? Warum die vielen Gebete für unsere Familie nicht erhört? Mein Gottesbild und Bibelverständnis passten nicht länger zu meiner Lebensrealität.

Wachsender Zynismus

Oftmals hält ein inneres Aufbäumen gegenüber Ernüchterung und Frustration eine Zeit lang an, nur um einen dann umso härter auf den Boden der Realität zu werfen. Die Fragen und der Zweifel, die sich eingeschlichen haben, lassen sich irgendwann nicht mehr zum Schweigen bringen. Die ständigen Appelle an die erste Liebe ziehen nicht mehr. Wer dies oft genug mitgemacht hat, dessen Ernüchterung und Frustration kann am Ende so weit führen, dass nur noch ein dumpfer Zynismus bleibt oder der Glaube gänzlich verloren geht.

Ich plädiere für einen anderen Weg: nicht zurück zur ersten Liebe, sondern durch die Veränderung unseres Glaubens, das Ernstnehmen unserer Brüche, Fragen und Zweifel die Möglichkeit schaffen, dass Glaube und Leben sich wieder zueinander entwickeln. Dadurch können eine neue Liebe und eine neue Leidenschaft wachsen für einen Glauben, der wieder authentisch und im wahrsten Sinne „glaubwürdig“ ist.

Damit Glaube sich verändert, muss er sich weiterentwickeln. Manchmal fühlt sich der eigene Glaube wie eine Wohnung an, in der man sich nicht mehr zu Hause fühlt und in die man niemanden mehr einladen möchte. Wie bei einem normalen Umzug muss sich auch der Glaube die Fragen stellen: Welche Inhalte, welche Praxis und welche Überzeugungen sind wertvoll, die ich bewahren und mit in die Zukunft nehmen möchte? Welche muss ich entsorgen, weil sie sich nicht bewährt haben oder in krankmachender Spannung zu meiner Lebensrealität stehen? Und welche sollte ich mir neu aneignen, damit der Glaube an Perspektive, Freiheit und Möglichkeiten gewinnt? Mitnehmen, entsorgen, neu anschaffen – so kann Glaube erwachsen werden.

Martin Benz arbeitet seit 30 Jahren als Theologe und Pastor und wohnt mit seiner Familie in Erlangen. Gerade ist sein Buch „Wenn der Glaube nicht mehr passt“ bei Neukirchener erschienen.