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Familiengenuss

Warum Tischgemeinschaft zum Familienleben dazugehört – auch mit großen Kindern. Von Stefanie Diekmann

Mit einem ordentlichen „Rumms“ scheppert die Haustür ins Schloss. „Was gibt’s zu essen, Mama? Oder habt ihr schon gegessen?“ Ich muss lächeln. Wenn mein Sohn vom Fußball-Training kommt, fragt er immer als Erstes, was er essen könnte … An unserem Esstisch spielt sich Familie ab. Hier war schon Raum für ausgewachsene Lachanfälle wegen lustiger Versprecher und Grimassen der Kleinkinder. Es gab Fantasiereisen mit den Kindergarten-Helden und Einmal- Eins-Probestunden. Nach dem Schweigemanöver während der Pubertät sind wir nun im Debattier-Club angekommen. Nicht immer ist unsere Tischgemeinschaft eine Oase der liebevollen Worte. Sie ist Raum für echtes Leben. Unser echtes Familienleben.

SMALLTALK UND SCHWEIGE-ANFALL

Schleichend haben Veränderungen an unserem Esstisch Platz genommen. Nach der Grundschulzeit waren wir nicht mehr als komplette Familie dreimal am Tag bei den Mahlzeiten zusammen. Rieka hatte ab der 5. Klasse länger Schule und kam erst nachmittags zurück, mit einem wehmütigen Seufzen, unser Mittagessen verpasst zu haben. Dabei ging es nicht so sehr um schmackhafte Gerichte, sondern um das Verpassen von Infos, Smalltalk und kleinen Absprachen. Wir haben manchmal sogar Gespräche ausgebremst, um nicht ohne Rieka Urlaube zu planen oder Geschenke für Freunde zu überlegen. Rieka hat sich vom Esstisch und vom Familiengefühl entfernt gefühlt. Durch die langen Oberstufen-Schultage haben unsere Mahlzeiten einen weiteren unrhythmischen Schwung bekommen. Kaum ein Tag gleicht dem anderen. Wo vorher feste Begegnungszeiten waren, sitzen nun Jugendliche, die Schweigen und Mürrisch-Sein abonniert haben und ein Gespräch fast zum Entertainment-Auftrag der Eltern machen. Nicht selten fühle ich mich bei einem Schweige-Anfall einsam und möchte die Veränderung als ungebetenen Gast bitten, den Tisch zu verlassen. Dabei erlebe ich meine Kinder als weiser als mich: Sie können mit mir verbunden sein, ohne viel zu reden und „rumzulabern“. Ihnen reicht das Zusammensein und das gemeinsame Ankommen im Zuhause ohne viele Worte: schmecken, durchatmen, genießen.

GEBRAUCHSSPUREN

Gerade weil die gemeinsamen Mahlzeiten reduziert worden sind, versuchen wir als Eltern, unseren Kindern ein Gegenüber zu bleiben. Schon rein körperlich: Wir setzen uns mit an den Tisch, wenn jemand allein nachisst. Wir trinken einen Tee und sind bereit, falls eine Episode aus dem Erlebten nach draußen sprudelt und uns einen Einblick in das pochende Herz des Heranwachsenden gibt. Und diese wundervollen Momente gibt es. Nach einem erhitzten Gespräch über die versemmelte Latein-Arbeit blitzt auf einmal ein Halbsatz mit einem Herzensanliegen auf. Wir haben als Eltern dann die Möglichkeit nachzufragen. Durch das gemeinsame Essen oder Sitzen am Tisch bekommen wir mit, wie traurig der oder die Jugendliche aussieht, wenn er oder sie von einer Mitschülerin spricht. Der Familientisch bleibt Ort von Hinweisen und Fragen – auch wenn manchmal jemand von uns mit erhitztem Gemüt aufspringen und die Diskussion beenden möchte. Durch unsere lange eingeübten Familienregeln bleiben alle am Tisch, bis die Mahlzeit beendet ist. Wir können und wollen uns nicht entrinnen. Hier füttern wir das Zusammengehörigkeitsgefühl. Wenn wir als Familie und mit Freunden am Tisch sitzen, ist Raum für das WIR. Auf unserem Tisch steht immer eine Kerze, oft frische Blumen, manchmal auch Zettel mit Infos oder kleinen Ermutigungen. Henriks Wunsch war es, auch nach einigen Jahren Familienleben den Tisch nicht neu zu lackieren. Er will die Spuren des gemeinsamen Weges am benutzten Tisch sehen und fühlen können.

GEMEINSAMER START

Wir stehen morgens mit den Kindern auf, auch wenn sie 15 und 17 Jahre alt sind, um im Schweigen und Wachwerden eine Heimat zu bieten, bevor sie schlaftrunken zur Schule wanken. Und auch unsere 20-jährige Tochter genießt es, wenn jemand da ist, bevor sie in ihren Tag startet. Wir verlassen dabei bewusst unser Bett. Einfach als Geste, als Zeichen, dass an unserem Esstisch das Willkommen bleibt. Wir stellen Müsli hin und versuchen jeden Morgen neu, im richtigen Moment ermutigende Worte oder eine Umarmung anzubieten. In die Schule zu starten, kann für Teens eine Hürde sein. Diese wollen wir durch einen gemeinsamen Start einfacher machen. Der gesprochene S egen, oft mit H andauflegung oder U marmung, ist und bleibt seit Beginn der Kindheit unser „Go!“ in den Tag. Manchmal sitzen wir als Eltern mit einem Pausen- Kaffee am Nachmittag zusammen und erzählen uns vom Tag. Und auf einmal füllt sich der Tisch mit unseren Kindern. Eine Geste für uns und unser Herz: Sie werden ein Gegenüber für uns. Die großen Kinder kommentieren unsere Sicht auf den Tag und schenken uns ganz neue Ideen oder ein beherztes Augenrollen für seltsame Erwachsenen- Allüren.

GENUSS-MOMENTE

Wir besprechen immer wieder, was uns zusammen schmeckt. Gerichte haben sich verändert und mittlerweile sind aus Würstchen und Salat Frühlingsrollen oder Avocadocreme geworden. Auch Abneigungen und Vorlieben der Jugendlichen haben sich gefestigt. So essen wir Milchreis nur, wenn Timna nicht da ist und Lasagne an besonderen Tagen. Jahrelang haben wir jeden Freitag Brezeln gegessen (mit der regionalen Spezialität Spundekäs). Nun suchen wir nach neuen Ritualen, denn freitags trifft sich die Jugendgruppe in der Kirchengemeinde. Am Samstag frühstücken wir zu teenager-freundlichen Zeiten ab 12.00 Uhr. Sonntags verzichten wir mittlerweile auf großartige Essen und kochen lieber schnell Nudeln mit Pesto oder abends eine Tütensuppe, die wir alle in Jogginghose schlürfen und dabei die neue Woche durchsprechen. Nicht selten sind weitere Teens an unserem Tisch und bekommen außer Nudeln noch einen Schwung Familienleben mit. Das Essen ist an manchen Tagen ein bewusster Genuss-Moment. Nach wilden Tagen laden wir uns zum gemeinsamen Schmecken ein: Wir kochen zusammen, reden uns warm, um die Nähe aufzusaugen, die bei Tisch entsteht. Wir schnippeln, kommentieren und finden Kompromisse im Würzen oder Anrichten. Am Tisch ist dann die Bereitschaft zum Teilen spürbar. Ich gebe dem anderen einen Einblick in meine witzigsten Missverständnisse, in bohrende Fragen und Glaubenserlebnisse. Dabei ist meine Familie mir in allem ebenbürtig und in allem ehrlich nah – jeder in seiner von Gott gegebenen Charaktereigenschaft: schnell und emotional, zackig und klar, liebevoll zugewandt, fragend verstehend.

RAUER TON

Und bevor hier ein vermeintlich glitzerndes Bild von Familiengenuss entsteht: Der schillernde Glücksmoment endet schneller, als ich gucken kann. Ein Spruch über den Fußball- Schiri-Entscheid des letzten Spiels, und alle Harmonie und Nähe ist hin. Die eben noch gesichtete Seifenblase meines Familienideals ist an der Realität zerplatzt. Mir dämmert: Es bleibt Genuss, und es bleibt Arbeit. Heute gebe ich keine Hinweise zum richtigen Umgang mit dem Besteck, sondern zum Umgang mit verachtender Sprache – und das geht bei Fußballthemen an unserem Esstisch fix. Immer wieder erwische ich mich dabei, dass ich unter dem manchmal rauen Ton der Jugendlichen leide und mir höfliche Gespräche herbeisehne. Ein bisschen mehr Harmonieglitzer halt. Mit etwas Abstand weiß ich: Unsere Kinder und ihre Freunde üben, ihre Meinung zu sagen. Sie trainieren sich im Argumentieren, Entschuldigen und Provozieren. Ein Familientisch ist daher für mich der Genuss, sich selbstbewusst, mutig, forsch und immer wieder herrlich unsachlich nah zu kommen. Guten Appetit!

Stefanie Diekmann ist Diplom-Pädagogin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Ingelheim am Rhein.