Keine Angst vorm Tod: Schon als Kind schiebt Bestattungsfahrer Benjamin Särge durch die Gegend
Wie ist es, als Kind neben Toten zu spielen? Benjamin Rosenthal weiß es, denn seine Familie fährt seit Generationen die Toten zu ihrer Ruhestätte.
Böhmisch-Rixdorf. Wer in diesem Teil von Berlin-Neukölln ankommt, hat das Gefühl, in eine andere Zeit zurückversetzt worden zu sein. Die Betlehemskirche aus dem 15. Jahrhundert mit ihrem hölzernen Glockenturm. Berlins älteste Schmiede, in der heute immer noch Schmuckstücke oder Messer in der heißen Glut geschmiedet werden. Die historischen, blumenberankten Häuser und die alte Dieselzapfsäule aus den 50ern. Das Kopfsteinpflaster führt direkt in den Hof des Familienunternehmens Gustav Schöne. „1894“ prangt groß auf einem der Gebäude – das Gründungsjahr. Geschäftsführer Benjamin Rosenthal empfängt mich dort in kurzer Lederhose und blauem T-Shirt. Aufschrift: SUPERDAY. Viele, die auf diesem Hof eintreffen, haben allerdings keinen super Tag, sondern ihren letzten bereits erlebt. Das Bestattungsfuhrunternehmen befördert seit vielen Jahren die Toten Berlins: Abholung aus der Wohnung oder dem Krankenhaus, Zwischenlagerung in einem der 100 Kühlfächer, Fahrt zum Friedhof oder Krematorium.
Hochzeitsfahrten lohnen sich nicht mehr
Benjamin Rosenthal öffnet die schwere, hölzerne Tür und führt mich in den Kutschenstall. Zwei weiße Hochzeitskutschen stehen hier, ein schwarzer, eindrucksvoll düsterer Bestattungswagen aus handgeschnitzter Eiche, eine gelbe Postkutsche. An der Wand hängt altes Pferdegeschirr. Im 19. Jahrhundert startete der Firmengründer Gustav Schöne seinen Fuhrbetrieb mit zwei Pferden und fuhr Ärzte zu Patienten. Nach und nach kamen Fahrten für die Müllabfuhr und die Post hinzu, später auch Hochzeitsfahrten. 1927 wurde das erste Auto angeschafft. Heute werden die Kutschen nur noch als Filmrequisiten ausgeliehen, selbst die Hochzeitsfahrten lohnen sich nicht mehr. So hat sich das Unternehmen mittlerweile auf Bestattungsfahrten spezialisiert. Benjamin Rosenthal leitet das Geschäft in fünfter Generation, gemeinsam mit seinem Bruder und seiner Mutter.
Die letzte Fahrt in Würde
Um sechs Uhr morgens war er heute schon auf dem Hof, um aufzuschließen. „Dann kommen die ersten, liefern Särge oder es kommt jemand vom Krematorium und holt eine Verstorbene ab“, erklärt er. Der Großteil seiner Arbeit besteht aus logistischen Tätigkeiten. Wer fährt mit welchem Wagen wann wohin? Um die Übersicht zu behalten, hat der Betrieb im Büro einen Bildschirm, der den Standort der Transporter anzeigt. Diese Woche ist es ruhig, es sind nur 6 von seinen 20 „Jungs“, so wie er sie nennt, im Einsatz. Manchmal ist auch mehr los, dann befördern sie zwischen 20 und 40 Tote jeden Tag.
Auch heute fährt Benjamin Rosenthal manchmal noch mit und holt Verstorbene mit einem der Bestattungswagen ab. Gerade steht die neue, cremeweiße E-Klasse auf dem Hof. Rosenthal öffnet den Kofferraum. Der Sargraum ist hell und schlicht ausgestattet. Zwei Panoramafenster mit Vorhängen geben den Hinterbliebenen die Möglichkeit, einen letzten Blick auf den Sarg werfen zu können. An der Decke leuchten kleine LED-Sterne, wie am schwarzen Nachthimmel.
Fußballspiel zwischen Särgen
Benjamin Rosenthal ist auf dem Hof groß geworden, spielte als Kind hier oft Fußball oder sauste mit dem Fahrrad herum. Wenn die Türen zum Kühlraum mal aufstanden und ein Sarg zum Abschiednahme-Raum geschoben wurde, dann fassten er und sein Bruder mit an. „Für mich war das was ganz Normales“, erzählt er. Tod und Sterben waren für ihn schon als Kind so selbstverständlich, dass er sich nicht mehr daran erinnern kann, wann er das erste Mal verstand, wer in den Särgen liegt. Oft wird der Familienunternehmer gefragt, wie er als Kind damit umgegangen sei. Dann antwortet er, dass der Tod für ihn schon immer mit zum Leben gehörte.
Mit 16 Jahren fuhr er zum ersten Mal im Bestattungswagen mit und holte einen Verstorbenen ab – so wie auch andere Kinder aus familiengeführten Unternehmen irgendwann mitarbeiten. An seinen ersten Toten erinnert er sich nicht mehr, er hatte auch nie Berührungsängste. „Aber den ersten Verstorbenen, der nicht mehr so schön war, den vergisst man nicht. Schon allein wegen des Geruchs“, sagt er. „Wenn jemand zum Beispiel schon sehr lange in der Wohnung lag und dann sind da schon überall die Fliegen.“
Kinder gehen ganz offen mit dem Tod um
Die vierjährige Tochter von Benjamin Rosenthal wächst, wie er damals, auf dem Hof auf. Ist sie gerade da und er schiebt einen Sarg aus der Kühlung, dann bittet er sie manchmal, mit anzupacken. Einmal hat sie ihn gefragt, wer da im Sarg liegen würde. „Und dann sagt man ganz normal: Das ist jemand, der verstorben ist und nicht mehr lebt“, berichtet er. „Alles klar“, war dann die schlichte Antwort seiner Tochter. Mehr Fragen hatte sie bisher nicht. Auch die Kitakinder, die regelmäßig den Hof besuchten, als dort noch Pferde standen, waren mit einer simplen Antwort zufrieden, erzählt Benjamin Rosenthal. „Kinder gehen oft viel offener mit dem Tod um, als wir. Deswegen ist es schade, wenn versucht wird, sie davon fernzuhalten.“
Es wäre sogar viel einfacher für sie zu verstehen, dass Oma oder Opa nicht mehr da sind, wenn sie noch etwas zum Anfassen oder Sehen hätten. Deswegen würden einige Bestatter mittlerweile auch spezielle Angebote für Kinder machen: Sie können beispielsweise den Sarg bemalen oder beschreiben. Manche arbeiten auch mit „Sorgenfressern“, kleinen Puppen, die einen Reißverschluss als Mund haben und denen die Kinder ihren Kummer in Form eines Bildes oder Textes anvertrauen können. „Es gibt auch wunderbare, schön illustrierte Bücher zum Thema. Die kann man als Eltern mit dem Kind lesen“, sagt er.
„Über das, was nach dem Tod kommt, habe ich mir noch nicht so Gedanken gemacht.“
Benjamin Rosenthal ist kein Philosoph. Obwohl er jeden Tag Särge mit Verstorbenen über den Hof schiebt, hat er sich bisher wenig Gedanken gemacht, was danach passiert. Er hofft aber, dass sein eigenes Ende möglichst wenig schmerzhaft ist. Am liebsten würde er einfach zu Hause alt werden und eines Tages nicht mehr aufwachen. Ich frage ihn, was er Menschen antwortet, die Angst vor dem Sterben haben. Längere Gesprächspause. „Das hat mich noch keiner gefragt“, sagt er dann etwas ratlos. Vielleicht ist er zu nah dran, um noch Angst haben zu können.
Er geht das Thema vor allem pragmatisch an und rät, möglichst früh mit Freunden oder Familie über den Ablauf der eigenen Beerdigung zu sprechen. Ist eine Erd- oder eine Feuerbestattung gewünscht? Welche Musik soll gespielt werden? „Viele, denen ich erzähle, dass sie sich vorher über einen groben Ablauf Gedanken machen sollen, haben sich danach bedankt.“ Der Tod lässt sich nicht kontrollieren. Doch wer seine Beerdigung plant, hat das Gefühl, wenigstens einen kleinen Teil davon steuern zu können. Das kann vielleicht ein bisschen die Angst nehmen.
Humor hilft
Am Eingang des Kutschenstalls lehnen ein blaues Kinderfahrrad und ein Motorrad. Wenn Benjamin Rosenthal abschalten möchte, dann setzt er sich auf das Motorrad und fährt los, um eine Weile nichts zu hören und zu sehen. Auch Treffen mit seinen Freunden und Unternehmungen mit seiner Tochter helfen ihm, nicht mehr darüber nachzudenken, was mit den Toten genau passiert ist oder wie eine Familie jetzt gerade leidet. Zudem gäbe es auch noch den Gemeindeseelsorger aus der evangelischen Brüdergemeine, die seine Familie besucht.
Wenn es darum geht, die Verstorbenen zu versorgen, sei sehr viel Mitgefühl gefragt. „Aber wenn wir dann wieder mit den Kollegen im Auto sitzen, unterhalten wir uns ganz normal und machen oft auch Witze. Das ist wie eine Schutzfunktion“, erklärt der Unternehmer. Tagtäglich bekomme er mit, wie schnell das Leben zu Ende gehen kann. Deswegen sei es umso wichtiger, es zu genießen und Spaß zu haben. Wir verlassen den Kutschenstall wieder und gehen dabei an einem Stapel Särge vorbei. Benjamin Rosenthal öffnet einen: „Mal sehen, ob der leer ist“. Kurze Schrecksekunde meinerseits. Natürlich ist er leer. „Kleiner Scherz“, meint er grinsend. „Bestatterhumor“.
Sarah Kröger ist freie Journalistin und Projektmanagerin und bloggt unter neugierigauf.de zu Themen wie Familie, Digitales, Arbeit, Soziales und Nachhaltigkeit.