Mental Load: Was hinter dem neuen Stressbegriff steckt
Mental Load: Der Modebegriff lässt Familienarbeit hauptsächlich als Belastung erscheinen. Ist das gerechtfertigt?
Wenn unsere Kinder heranwachsen und als Erwachsene eine Partnerschaft gestalten, tauchen Themen aus unserem eigenen Leben plötzlich in einem anderen Licht auf. Ich erlebe, dass unsere Töchter über manches Arrangement zwischen meinem Mann und mir die Augen rollen. Sie werfen uns vor, dass wir in patriarchalen Strukturen festhängen und dass ich null feministische Entwicklung durchgemacht habe.
Ich kann das in der Regel wohlwollend als eigene Meinung einer neuen und selbstbestimmten Generation einordnen. Eine Diskussionsebene jedoch hat sich bei mir anders angefühlt: Schon länger lese ich in sozialen Medien vom Sichtbarmachen des Mental Loads. Und ich gebe zu: Für mich ist das beim ersten Betrachten totaler Quatsch. Wenn mein Mann und ich unseren Alltag mit dem dazugehörigen Mental Load sichtbar machen würden, wäre schnell klar: Ich habe viel. Er hat viel.
Ich habe nie verstanden, warum feministisch geprägte Frauen darum kämpfen, ihre Gedanken als „Load“, als Belastung zu beschreiben. Für mich ist diese Definition eine falsche Grundannahme. Es ist für mich kein „Load“, keine Belastung, wenn ich an Zahnarzttermine, Kindergeburtstagsgeschenke oder den Elternbrief für die Schule denken muss. Klar – es fordert mich. Aber ich habe mich in dieses Abenteuer Familie mit all den unsichtbaren und sichtbaren Aufgaben begeben. Sie gehören für mich dazu.
Erschöpfende Care-Arbeit
Wenn ich in den sozialen Medien von Mental Load lese, spüre ich, dass es mich piekst, wenn Familienarbeit und Care-Arbeit als Belastung, als Erschöpfungsquelle gesehen werden. Natürlich sind Nächte mit weniger als drei Stunden Schlaf und tägliche Diskussionen beim Anziehen eine große körperliche Aufgabe. Natürlich kostet es unglaublich viel Kraft, wenn ein vierjähriges Kind seine Emotionen trainiert. Ich habe oft heulend vor Wut auf mich selbst auf dem Badewannenrand gekauert und mich lieber in ein Meeting gewünscht. Aber mich stört die grundsätzliche Annahme, dass Alltagstätigkeiten in der Familie eine Belastung sind. Diese Annahme macht mich ratlos. Ich möchte am liebsten sofort, wenn jemand dieses Wort benutzt, ein kleines Grundsatz-Referat halten.
Während ich also meine Meinung über Mental Load ausplaudere, explodieren meine Kinder. Sie sind irritiert und entsetzt. Sie verstehen nicht, warum ich grundsätzlich so anders an dieses Thema herangehe, weil sie so viel Gutes daran finden. Meine Tochter und ihr Mann besprechen viele der für mich natürlich zugeordneten Aufgaben, um zu schauen, wer was erledigt. Da gibt es keine Zuordnung für Mülleimer, Abwasch, Geburtstagsgeschenke. Stattdessen werden diese Themen täglich oder wöchentlich besprochen und durchdacht. Für mich scheint das energiebindend, für sie nicht. In der Diskussion spüre ich ihren Eifer, und das bewegt mich. Liege ich so falsch mit meiner inneren Distanz zu dem Thema?
Keine echte Wahl
Ich hole mir Rat bei Priska Lachmann, die ihre Masterarbeit über Mental Load geschrieben hat. Sie gibt mir einiges zu bedenken:
- Patricia Cammarata, eine der führenden deutschen Autorinnen zu Mental Load, betont in ihrem Buch „Musterbruch“, dass es auch Frauen gibt, die es als erfüllend empfinden, Mutter und Hausfrau zu sein. In einer gerechten Welt hätten die Menschen die Wahl, ob sie erwerbstätig sein oder sich um ihre Kinder kümmern wollten. Eine gerechte Welt würde aber auch dafür sorgen, dass Menschen unabhängig von ihrer Entscheidung nicht finanziell abhängig sind und auf Altersarmut zusteuern. Dann hinge die Wahl auch nicht davon ab, wer mehr verdient. Und es würde auch nicht der Eindruck entstehen, dass Pflegearbeit etwas Lästiges ist.
- Die Philosophin Tove Soiland betont, Fürsorge sei ein Geschenk, das nicht in Handlungen besteht, sondern in der Beziehung: „Die Gebende gibt einen Teil von sich.“ Fürsorge brauche unverplante Zeiten, tiefe Gespräche, emotionalen Austausch, schreibt auch Patricia Cammarata. Sie könne nicht mit bloßer Versorgung gleichgesetzt und nicht zweitrangig neben der Erwerbsarbeit gesehen werden.
- Wir halten es für erstrebenswert, uns auf die Erwerbsarbeit zu konzentrieren und dem männlichen Stereotyp zu folgen, führt Cammarata weiter aus. Doch damit werten wir Sorgearbeit ab und ignorieren, dass das männliche Stereotyp auch Nachteile haben kann
Scheinbar klassische Rollen
Ich verstehe neu in der Diskussion, dass es sowohl meinen Kindern als auch den Autorinnen darum geht, sichtbar zu machen, was unsichtbar ist. Sie wollen das Innerdynamische der Familie aufwerten. Und zwar nicht auf der Ebene der praktischen To-do-Liste, sondern tiefer und grundlegender. Es geht um eine Unsichtbarkeit, die in einer Ehe oder Beziehung zu einem Ungleichgewicht führen kann. Das hat nichts mit Begabung zu tun, sondern mit Bequemlichkeit oder gar mit sozialem und auch falsch verstandenem Druck.
Vielleicht sind mir diese Diskussionen auch deshalb fremd, weil bei meinem Mann und mir die scheinbar klassischen Rollen zu unseren Begabungen passen. Ich bin eine Chaotin, mir machen volle Mülleimer nichts. Mein Mann hingegen kann entspannt über mit Zahnpasta verzierte Spiegel hinwegsehen, was mich rasend macht. Während ich mir im Januar eines Jahres verschiedene Vorsorgetermine setze und immer auch gleich die der Kinder mitgeplant habe, erträgt mein Mann die Situation in einem Wartezimmer besser. Deshalb hat er sich mit den Kindern zu geplanten und ungeplanten Arztterminen begeben.
In einer Phase unserer Familie war ich 100 Prozent zu Hause und Henrik 100 Prozent in Erwerbsarbeit. Einige Jahre später war ich 100 Prozent erwerbstätig und Henrik hat neben seiner 50-Prozent-Stelle wichtige Fürsorgearbeit geleistet – unsichtbare Arbeit, die ihm keine Rentenpunkte ermöglichte. Ich finde unser Miteinander gut und fühle mich wohl darin. Unsere starken Töchter und unser empathischer Sohn zeigen mir jedoch: Im Leben heute wird eine Rollenneutralität verlangt, ja fast schon gefordert. Eine kochende, selbstbewusste junge Frau ist fast schon zu hinterfragen und ein handwerklich begeisterter junger Mann wird irritiert zur Kenntnis genommen.
Mental Load: Eine unsichtbare Last
Aber zurück zum Mental Load: Wenn ich an die Kleinkindphase unserer Familie zurückdenke, kann ich mir kaum vorstellen, wie ich die kleinen und unsichtbaren Aufgaben auf einer Tafel oder in einer Handy-App hätte benennen sollen. Wie wäre wohl mein junges Mama-Ich heute? Würde ich die Postkarte an meine Großmutter auf die To-do-Liste schreiben oder die Postkarte einfach schreiben und meinem Mann zur Unterschrift vorlegen? Würde ich Freunde zum Essen einladen und unsere Speisekammer durchchecken, ob Essbares da ist? Oder würde ich die Idee zur Einladung auf die To-do-Liste schreiben und mehr nicht?
Ich übe mich darin zu spüren, dass das Sichtbarmachen der Care-Arbeit keine Verkomplizierung bedeutet, sondern eine Aufwertung. Und dass es darum geht, dem anderen zuzutrauen, dass er sich auch kümmern will. Dass das Leben gemeinsam zu gestalten ist. Es soll nicht eine Person in der Partnerschaft über Gebühr erschöpft, sondern der Alltag gemeinsam gestaltet werden. Nun fallen mir mehr und mehr Beispiele ein, die den Wert von Fürsorge unsichtbar machen. Immer mehr Momente, in denen ich meinen Partner mehr einbinden will. Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr merke ich: Es gibt tatsächlich eine Last, die ich trage. Ich empfinde es als Last, ein bezahlbares Urlaubsdomizil zu finden, die Beziehung zu den Kindern zu gestalten und als Paar den Glauben zu leben.
Nachdem ich mich ausreichend über das Wort aufgeregt habe, spüre ich, dass es auch in meinem Leben Mental Load gibt, den ich nicht teile. Bei manchen Aufgaben wünsche ich mir, dass wir gemeinsam darauf schauen und zusammen eine Lösung entwickeln: bei der Gestaltung des nächsten Erntedankfestes mit unseren Kindern oder der inneren Nähe zu Freunden. Ich wünsche mir, dass meine Fürsorgearbeit genauso wertvoll ist wie die Bankgeschäfte meines Mannes.
Wow! Wieder einmal haben meine Kinder mir etwas Neues beigebracht. Ich darf die kleinen Nuancen der Alltagsideen, die in meinem Kopf hin- und herspringen wie lustige Tischtennisbälle, auf die To-do-Liste schreiben. Und während Henrik morgens Zeitung liest, kann ich ihm diese Liste zeigen. Erstaunlicherweise hat er praktische und entlastende Ideen, wie aus meinen hüpfenden Gedanken eine sinnvolle Reihung von Alltagsperlen wird. Wie gut, dass wir darüber reden und zusammen unsere Jobs und Familie gut füllen wollen. Dass wir sichtbar machen wollen, was auch in unserem Alltag immer noch verborgen ist. So suche ich weiter nach einem Wort, das Familienarbeit mehr würdigt, und bin doch sensibler geworden durch die aktuelle Diskussion.
Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin und lebt mit ihrem Mann Henrik in Göttingen.








