Ein Vater spielt mit dem Sohn Basketball. Symbolbild: Getty Images / pixdeluxe / iStock / Getty Images Plus

Stützen und loslassen: Was große Kinder von den Eltern brauchen

Jugendliche müssen ihren eigenen Weg finden. Der Pädagoge Axel Hudak erklärt, welche Unterstützung sie dabei von den Eltern brauchen und was Mutmachen mit Loslassen zu tun hat.

Eltern werden ist nicht schwer, Eltern sein dagegen sehr.“ Diese abgewandelte Version des bekannten Zitats von Wilhelm Busch (der nur die Väter im Blick hatte) würden viele Eltern von Jugendlichen wohl seufzend unterschreiben. Wobei die Herausforderungen, die sich mit dem Familienzuwachs einstellen, ja nicht erst in der Pubertät beginnen. Erfahrene Eltern wissen: Die Sorgen um das Kind beginnen mit dem ersten Atemzug, manchmal – „dank“ moderner medizinischer Diagnostik – sogar bereits im Mutterleib.

So ging es uns im Sommer 2003, als die Gynäkologin meiner Frau und mir bei einem turnusmäßigen Ultraschall erklärte, dass die Nieren unseres Sohnes eine ungewöhnliche Fehlbildung aufwiesen. Ihr gut gemeinter, aber etwas lapidarer Satz: „Das müssen Sie nach der Geburt dann mal anschauen lassen“, klingt mir jetzt noch in den Ohren. Dieses Nachschauen wuchs sich zu einem jahrelangen Klinikmarathon aus, der bis heute andauert. Verständlich, dass man ein solches Kind in Watte packt und es beschützt und behütet, oder nicht?

Löweneltern ja, Helikoptereltern nein

Wir haben uns damals bewusst anders entschieden. Als Eltern mit medizinischer Erfahrung (Krankenschwester und Krankenpfleger, später dann Pflegepädagoge) waren und sind wir heute noch oft Löweneltern, wenn es in der Klinik darum geht, gemeinsam mit den behandelnden Ärzten Entscheidungen zu treffen. Löweneltern meint, dass wir zur Not auch einem Konflikt nicht aus dem Weg gehen, wenn es für das Wohl unseres Sohnes nötig ist. Und doch war uns gleichzeitig klar: Wir wollen ihm ein möglichst selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Und das geht nur, wenn wir nicht zu Helikoptereltern werden, sondern ihn von klein auf loslassen und ihn seine eigenen Erfahrungen machen lassen: die freudigen genauso wie die schmerzlichen.

Damit er und auch seine nachfolgenden beiden Geschwister ihre eigenen Wege finden und gestalten konnten, war uns von Anfang an klar: Wir möchten, dass unsere Kinder mündige und mutige Menschen werden, die in der Lage sind, Situationen zu überblicken, Beweggründe zu hinterfragen und fundiert eigene Standpunkte zu beziehen. Dafür brauchen sie unsere Ermutigung. Mittlerweile sind unsere beiden Großen siebzehn und neunzehn Jahre alt, und sie stehen vor neuen Herausforderungen: Was will ich mit meinem Leben nach der Schule anfangen? Wird der Beruf oder Studiengang, den ich wähle, mich wirklich mein ganzes Leben begleiten? Wie gehe ich damit um, wenn meine Entscheidungen und Aussichten eher Angst erzeugen als Vorfreude?

Entscheidungen treffen

Bei unseren Kindern, aber auch bei ihren Freunden erlebten wir in den letzten Jahren zunehmende Zukunftsängste in Bezug auf den Klimawandel und die weltpolitische Situation. Aber es ergaben sich auch persönliche Fragezeichen, in welche Richtung es denn beruflich und schulisch gehen sollte. Beide Kinder entschieden sich nach dem mittleren Schulabschluss für ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ).

Diese Entscheidung, eine Art „Pausenjahr“ einzulegen, stellte sich als sehr weise und segensreich heraus. Dieses erste Hineinschnuppern in die Arbeitswelt gepaart mit der großen Entlastung, ein ganzes Jahr nicht durch Noten bemessen und bewertet zu werden, empfanden unsere Kinder als eine sehr wertvolle Erfahrung. Gleichzeitig bemerkten wir, wie sie in ihren Persönlichkeiten reiften. Beide legen eine uns Eltern völlig neue Strukturiertheit und Stringenz an den Tag, die uns verblüfft und gleichzeitig darin bestätigt, dass diese Entscheidung richtig war.

Nach der FSJ-Zeit stand für beide die nächste große Kreuzung des Lebens an: Abitur oder Ausbildung? Dieses Bild der Kreuzung im Sinne einer Weggabelung ist hier bewusst gewählt. Denn darum geht es doch bei unseren heranwachsenden, beinahe erwachsenen Kindern: Wir begleiten sie auf ihrem Lebensweg von klein auf; erst an der Hand, dann lernen wir, Stück für Stück loszulassen. Und eines Tages stehen sie an den wichtigen Gabelungen des Lebenswegs und müssen Entscheidungen treffen von einer Tragweite, die sie selbst kaum einschätzen können.

Einen Schritt zurücktreten

Ein erster, völlig natürlicher Reflex wäre es nun, ihnen mit unserer geballten Lebensweisheit zur Seite zu stehen und ihnen zu sagen, was sie unserer Meinung nach am besten tun sollten. Hier hilft es, sich bewusst zu machen: Ich kann mein Kind bis zu dieser Kreuzung begleiten. Gern darf ich gemeinsam mit ihm um die Ecke schauen und herausfinden: Was könnte passieren, wenn ich nach rechts gehe – und was, wenn ich die linke Seite nehme? Ich darf helfen, dass es eine fundierte Entscheidung wird, indem ich Informationen sammle oder meine eventuell vorhandene Expertise zum Besten gebe.

Eins ist dabei allerdings von großer Bedeutung: Ich muss es schaffen, nach diesem Ausblick einen Schritt zurückzutreten und mein Kind diese Entscheidung selbst treffen zu lassen. Es ist ein überaus wichtiger Reifeprozess-Schritt, dass es die Verantwortung für die Entscheidungen des Lebens selbst tragen lernt. „Ich an deiner Stelle würde ja …“ ist hier fehl am Platz. Denn durch diese gut gemeinten Ratschläge übernehme ich die moralische Verantwortung und bevormunde mein Kind sogar ein Stück weit. Hier ist Loslassen angesagt, auch wenn das Eltern und Kind eine Menge Mut kostet!

Fehler zulassen

Hat das Kind sich schließlich für einen der möglichen Wege entschieden, darf ich gern anbieten, mich wieder unterzuhaken und es auf dem eingeschlagenen Weg zu begleiten und auf Wunsch auch aktiv zu unterstützen. Gern gesehen sind hierbei unter anderem Sach- und Finanzspenden … Wenn ich die Entscheidungsverantwortung auf mein Kind übertrage, komme ich im Fall einer Fehlentscheidung auch nicht in die Versuchung zu kommentieren: „Ich hab’s dir ja gesagt …“, denn ich habe es ja nicht gesagt! Ganz im Gegenteil, hier habe ich die Möglichkeit, mein Kind mit offenen Armen aufzufangen, aufzubauen und gemeinsam mit ihm an eine neue, andere Weggabelung zu gehen. Auch das ist eine Form der Ermutigung: eine innerfamiliäre Fehlerkultur zu schaffen, die ein mutiges Ausprobieren erlaubt und gleichzeitig den moralischen Zeigefinger in der Hosentasche lässt. Denn Fehler gehören zum Leben, sind wichtige, lehrreiche Mosaikstücke, die das Gesamtbild Mensch erst rund werden lassen.

Den Mut-Tank auffüllen

Einen wichtigen Punkt dürfen wir bei alldem nicht außer Acht lassen: Ein Ermutiger zu sein, kostet selbst Mut und Kraft! Selbstverständlich ist es nicht leicht, das Kind um die Ecke biegen zu sehen und nicht zu wissen, was aus dieser Entscheidung wird. Wird es seinen Weg gehen? Wird es zurückkommen, und wenn ja: in welcher Verfassung? Für meine Frau und mich ist es deshalb unerlässlich, dass wir auftanken an der besten Kraftquelle, die man finden kann. Gleichzeitig dürfen wir dort all unsere Sorgen und Zweifel adressieren: Der christliche Glaube gibt uns den notwendigen Mut und die Zuversicht und das Gebet gibt uns Kraft. Natürlich verstehen wir nicht alle wege Wege – aber dass wir bei Gott unsere Sorgen abgeben und schwach sein dürfen, tut so gut und füllt unseren Mut-Tank immer wieder neu auf!

„Es steigt der Mut mit der Gelegenheit“, wusste schon Shakespeare. Trauen wir uns doch einfach, unsere Kinder zu ermutigen, indem wir ihnen die Gelegenheiten dazu schaffen – und dann für sie da zu sein, um zu feiern, wenn es gelungen ist, oder ihnen die helfende Hand zu reichen, um wieder aufzustehen.

Axel Hudak arbeitet als Pflegepädagoge an einer Berufsfachschule in Karlsruhe und als selbstständiger Erlebnispädagoge (faszinationerleben.de). Er ist verheiratet und hat drei Kinder.