Beiträge

Stützen und loslassen: Was große Kinder von den Eltern brauchen

Jugendliche müssen ihren eigenen Weg finden. Der Pädagoge Axel Hudak erklärt, welche Unterstützung sie dabei von den Eltern brauchen und was Mutmachen mit Loslassen zu tun hat.

Eltern werden ist nicht schwer, Eltern sein dagegen sehr.“ Diese abgewandelte Version des bekannten Zitats von Wilhelm Busch (der nur die Väter im Blick hatte) würden viele Eltern von Jugendlichen wohl seufzend unterschreiben. Wobei die Herausforderungen, die sich mit dem Familienzuwachs einstellen, ja nicht erst in der Pubertät beginnen. Erfahrene Eltern wissen: Die Sorgen um das Kind beginnen mit dem ersten Atemzug, manchmal – „dank“ moderner medizinischer Diagnostik – sogar bereits im Mutterleib.

So ging es uns im Sommer 2003, als die Gynäkologin meiner Frau und mir bei einem turnusmäßigen Ultraschall erklärte, dass die Nieren unseres Sohnes eine ungewöhnliche Fehlbildung aufwiesen. Ihr gut gemeinter, aber etwas lapidarer Satz: „Das müssen Sie nach der Geburt dann mal anschauen lassen“, klingt mir jetzt noch in den Ohren. Dieses Nachschauen wuchs sich zu einem jahrelangen Klinikmarathon aus, der bis heute andauert. Verständlich, dass man ein solches Kind in Watte packt und es beschützt und behütet, oder nicht?

Löweneltern ja, Helikoptereltern nein

Wir haben uns damals bewusst anders entschieden. Als Eltern mit medizinischer Erfahrung (Krankenschwester und Krankenpfleger, später dann Pflegepädagoge) waren und sind wir heute noch oft Löweneltern, wenn es in der Klinik darum geht, gemeinsam mit den behandelnden Ärzten Entscheidungen zu treffen. Löweneltern meint, dass wir zur Not auch einem Konflikt nicht aus dem Weg gehen, wenn es für das Wohl unseres Sohnes nötig ist. Und doch war uns gleichzeitig klar: Wir wollen ihm ein möglichst selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Und das geht nur, wenn wir nicht zu Helikoptereltern werden, sondern ihn von klein auf loslassen und ihn seine eigenen Erfahrungen machen lassen: die freudigen genauso wie die schmerzlichen.

Damit er und auch seine nachfolgenden beiden Geschwister ihre eigenen Wege finden und gestalten konnten, war uns von Anfang an klar: Wir möchten, dass unsere Kinder mündige und mutige Menschen werden, die in der Lage sind, Situationen zu überblicken, Beweggründe zu hinterfragen und fundiert eigene Standpunkte zu beziehen. Dafür brauchen sie unsere Ermutigung. Mittlerweile sind unsere beiden Großen siebzehn und neunzehn Jahre alt, und sie stehen vor neuen Herausforderungen: Was will ich mit meinem Leben nach der Schule anfangen? Wird der Beruf oder Studiengang, den ich wähle, mich wirklich mein ganzes Leben begleiten? Wie gehe ich damit um, wenn meine Entscheidungen und Aussichten eher Angst erzeugen als Vorfreude?

Entscheidungen treffen

Bei unseren Kindern, aber auch bei ihren Freunden erlebten wir in den letzten Jahren zunehmende Zukunftsängste in Bezug auf den Klimawandel und die weltpolitische Situation. Aber es ergaben sich auch persönliche Fragezeichen, in welche Richtung es denn beruflich und schulisch gehen sollte. Beide Kinder entschieden sich nach dem mittleren Schulabschluss für ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ).

Diese Entscheidung, eine Art „Pausenjahr“ einzulegen, stellte sich als sehr weise und segensreich heraus. Dieses erste Hineinschnuppern in die Arbeitswelt gepaart mit der großen Entlastung, ein ganzes Jahr nicht durch Noten bemessen und bewertet zu werden, empfanden unsere Kinder als eine sehr wertvolle Erfahrung. Gleichzeitig bemerkten wir, wie sie in ihren Persönlichkeiten reiften. Beide legen eine uns Eltern völlig neue Strukturiertheit und Stringenz an den Tag, die uns verblüfft und gleichzeitig darin bestätigt, dass diese Entscheidung richtig war.

Nach der FSJ-Zeit stand für beide die nächste große Kreuzung des Lebens an: Abitur oder Ausbildung? Dieses Bild der Kreuzung im Sinne einer Weggabelung ist hier bewusst gewählt. Denn darum geht es doch bei unseren heranwachsenden, beinahe erwachsenen Kindern: Wir begleiten sie auf ihrem Lebensweg von klein auf; erst an der Hand, dann lernen wir, Stück für Stück loszulassen. Und eines Tages stehen sie an den wichtigen Gabelungen des Lebenswegs und müssen Entscheidungen treffen von einer Tragweite, die sie selbst kaum einschätzen können.

Einen Schritt zurücktreten

Ein erster, völlig natürlicher Reflex wäre es nun, ihnen mit unserer geballten Lebensweisheit zur Seite zu stehen und ihnen zu sagen, was sie unserer Meinung nach am besten tun sollten. Hier hilft es, sich bewusst zu machen: Ich kann mein Kind bis zu dieser Kreuzung begleiten. Gern darf ich gemeinsam mit ihm um die Ecke schauen und herausfinden: Was könnte passieren, wenn ich nach rechts gehe – und was, wenn ich die linke Seite nehme? Ich darf helfen, dass es eine fundierte Entscheidung wird, indem ich Informationen sammle oder meine eventuell vorhandene Expertise zum Besten gebe.

Eins ist dabei allerdings von großer Bedeutung: Ich muss es schaffen, nach diesem Ausblick einen Schritt zurückzutreten und mein Kind diese Entscheidung selbst treffen zu lassen. Es ist ein überaus wichtiger Reifeprozess-Schritt, dass es die Verantwortung für die Entscheidungen des Lebens selbst tragen lernt. „Ich an deiner Stelle würde ja …“ ist hier fehl am Platz. Denn durch diese gut gemeinten Ratschläge übernehme ich die moralische Verantwortung und bevormunde mein Kind sogar ein Stück weit. Hier ist Loslassen angesagt, auch wenn das Eltern und Kind eine Menge Mut kostet!

Fehler zulassen

Hat das Kind sich schließlich für einen der möglichen Wege entschieden, darf ich gern anbieten, mich wieder unterzuhaken und es auf dem eingeschlagenen Weg zu begleiten und auf Wunsch auch aktiv zu unterstützen. Gern gesehen sind hierbei unter anderem Sach- und Finanzspenden … Wenn ich die Entscheidungsverantwortung auf mein Kind übertrage, komme ich im Fall einer Fehlentscheidung auch nicht in die Versuchung zu kommentieren: „Ich hab’s dir ja gesagt …“, denn ich habe es ja nicht gesagt! Ganz im Gegenteil, hier habe ich die Möglichkeit, mein Kind mit offenen Armen aufzufangen, aufzubauen und gemeinsam mit ihm an eine neue, andere Weggabelung zu gehen. Auch das ist eine Form der Ermutigung: eine innerfamiliäre Fehlerkultur zu schaffen, die ein mutiges Ausprobieren erlaubt und gleichzeitig den moralischen Zeigefinger in der Hosentasche lässt. Denn Fehler gehören zum Leben, sind wichtige, lehrreiche Mosaikstücke, die das Gesamtbild Mensch erst rund werden lassen.

Den Mut-Tank auffüllen

Einen wichtigen Punkt dürfen wir bei alldem nicht außer Acht lassen: Ein Ermutiger zu sein, kostet selbst Mut und Kraft! Selbstverständlich ist es nicht leicht, das Kind um die Ecke biegen zu sehen und nicht zu wissen, was aus dieser Entscheidung wird. Wird es seinen Weg gehen? Wird es zurückkommen, und wenn ja: in welcher Verfassung? Für meine Frau und mich ist es deshalb unerlässlich, dass wir auftanken an der besten Kraftquelle, die man finden kann. Gleichzeitig dürfen wir dort all unsere Sorgen und Zweifel adressieren: Der christliche Glaube gibt uns den notwendigen Mut und die Zuversicht und das Gebet gibt uns Kraft. Natürlich verstehen wir nicht alle wege Wege – aber dass wir bei Gott unsere Sorgen abgeben und schwach sein dürfen, tut so gut und füllt unseren Mut-Tank immer wieder neu auf!

„Es steigt der Mut mit der Gelegenheit“, wusste schon Shakespeare. Trauen wir uns doch einfach, unsere Kinder zu ermutigen, indem wir ihnen die Gelegenheiten dazu schaffen – und dann für sie da zu sein, um zu feiern, wenn es gelungen ist, oder ihnen die helfende Hand zu reichen, um wieder aufzustehen.

Axel Hudak arbeitet als Pflegepädagoge an einer Berufsfachschule in Karlsruhe und als selbstständiger Erlebnispädagoge (faszinationerleben.de). Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Wunsch vs. Wirklichkeit

Es kann herausfordernd sein, einen Weg zwischen dem zu finden, was sich Eltern erträumen und dem, was Kinder wollen. Und nicht immer ist das Ringen um einen Kompromiss stressfrei.

Es ist MEIN Leben!“ – Wie oft habe ich meinen Eltern diesen Satz unter Tränen an den Kopf geworfen? Nach dem Abitur ging ich für ein halbes Jahr von zu Hause weg. Für meine Eltern war der Abschied schmerzhaft, vor allem weil sie es nicht kannten, dass ihre Kinder für eine längere Zeit an einem anderen Ort lebten. Als ich nach sechs Monaten zurückkam, waren sie überglücklich und hatten bereits Pläne im Kopf, wie mein Leben nun weitergehen sollte.

LOSLASSEN LERNEN
Entgegen aller Hoffnungen und Erwartungen entschied ich mich für ein Studium, das etwas weniger als drei Stunden von meiner Heimat entfernt war. Für meine Mutter war es wie ein Stich ins Herz. Ich erinnere mich daran, wie oft sie mich überzeugen wollte, dass es doch ebenso in unserer Umgebung gute Studiengänge gebe. Und auch für mich war der Schritt nicht einfach. Der Gedanke, meine Familie nur noch ab und zu am Wochenende sehen zu können, machte mich traurig. Trotzdem wusste ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte und es an der Zeit war, loszulassen. Loslassen – etwas, mit dem sich meine Mutter auch heute noch, fast drei Jahre nach meiner Entscheidung für das Studium, schwer tut. Im ersten Jahr nach meinem Umzug hatten wir fast täglich Kontakt, haben mehrmals die Woche telefoniert. Mir tat das gut und es hat mir geholfen, weil ich in meiner neuen Stadt noch niemanden kannte und plötzlich auch mit ganz praktischen Fragen konfrontiert war. Mit der Zeit wurde der Kontakt seltener und manchmal wünsche ich mir heute, dass sie öfter fragen würde, wie es mir geht.

FREIHEIT ERWÜNSCHT
Im Abstand von vier bis fünf Wochen fahre ich am Wochenende in die Heimat. Für meine Mama ist es nach wie vor nicht einfach, mich sonntagabends wieder gehen zu lassen. Besonders in der vorlesungsfreien Zeit ist die Erwartung meiner Eltern, dass ich für die gesamte Zeit nach Hause komme. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie noch immer nicht akzeptieren können, dass ich nun in einer anderen Stadt lebe und nicht nur studiere. Immer wieder haben meine Mutter und ich Meinungsverschiedenheiten bezüglich meiner Zukunft. Sie erzählt mir von ihren Wünschen für mein Leben. Ich spüre, dass sie unzufrieden mit meiner Studienwahl ist, dass sie sich etwas anderes für mich wünscht. Das setzt mich unter Druck und macht mich traurig. Was ich jedoch in den letzten drei Jahren lernen musste, ist, dass ich meinen eigenen Weg gehen muss, weil es mein Leben ist! Was ich mir wünschen würde? Mehr Freiheit. Freiheit von Erwartungen; Freiheit, meine Zukunft selbst kreieren zu dürfen. Es ist okay, dass meine Eltern nicht bei jeder meiner Entscheidungen Beifall klatschen. Ich wünsche mir lediglich, dass sie hinter mir stehen – unabhängig davon, ob mein Weg ihrem Ideal entspricht. Zweifelsohne kann ich sagen, dass ich meinen Eltern sehr dankbar bin für ihre Liebe und Unterstützung. Ich danke meiner Mutter für all ihr Nachfragen, ihr Mitgefühl und ihre finanzielle Unterstützung. Und ich danke ihr, dass sie mich jedes Mal, nachdem ich zu Hause war, mit so vielen Lebensmitteln versorgt, dass ich die nächsten vier Wochen überleben kann. Letztendlich weiß ich, dass ich geliebt bin und das ist doch das, was zählt.

 

Die Autorin möchte anonym bleiben.

Warten mit Mehrwert

Warum gerade die Herausforderungen und Schwierigkeiten des Elternseins segensreich sein können.

Ein Zahnarztbesuch steht an. Im Wartezimmer blättere ich in einem bunten Magazin und lese mich in einer Reportage fest. Diese Lebensgeschichte fasziniert mich. Eine Frau erzählt: Früher sei sie zurückhaltend und schüchtern gewesen, habe sich wenig zugetraut. Dann wurde ihr Sohn geboren. Er war ein besonderes Kind mit einer geistigen und körperlichen Behinderung. Und sie spürte, dass dieses Kind es brauchen würde, dass sie Rückgrat beweist, dass sie sich in den Gegenwind stellt und für seine Bedürfnisse kämpft. So kam es auch. Sie setzte sich für ihren Sohn ein und erreichte viel mehr, als sie erwartet hätte. Sie lernte, den Mund aufzumachen, sie wurde mutig und schaffte es, aus sich heraus zu gehen. Als ihr Kind mit 16 Jahren starb, war sie nicht mehr dieselbe Frau wie vorher. Nach einer Zeit der Trauer begann sie, ihre neu gewonnenen Fähigkeiten für andere einzusetzen. Inzwischen engagiert sie sich in einem Kinderhospiz. Sie begleitet Kinder und Eltern durch leidvolle Zeiten. Sie tritt als Clownin für kranke Kinder auf, um sie zum Lachen zu bringen und ihnen zu Lebensmut zu verhelfen. Heute, so fasst sie es zusammen, ist ihr Leben erfüllter, und sie ist viel mehr sie selbst als vor der Geburt ihres Sohnes. Ich finde dieses Beispiel tief berührend. Und ich denke, es kann allen Eltern Mut machen. „Der höchste Lohn für unsere Bemühungen ist nicht das, was wir dafür bekommen, sondern das, was wir dadurch werden.“ Diese Erkenntnis von John Rushkin gilt besonders für alle Mühe und Liebe, die Eltern in ihre Kinder investieren. Nicht alle Familien haben eine so große Hürde wie die Behinderung eines Kindes zu bewältigen. Aber jedes Kind bringt individuelle Herausforderungen für seine Eltern mit. Und gerade sie sind es, die uns herausfordern, das zu entfalten, was in uns steckt. Wir Mütter und Väter haben zum Beispiel Geduld zu lernen, Gelassenheit, Verständnis. Wir sind gefordert, uns gegen Widerstände durchzusetzen, für unsere Ziele und Werte zu kämpfen. Vielleicht müssen wir lernen, Grenzen zu ziehen oder Grenzen zu akzeptieren, die uns und unseren Kindern gesetzt sind. Nicht selten sind es gerade die Charakterzüge an unserem Kind, die wir uns nicht ausgesucht hätten, oder Probleme, denen wir lieber ausgewichen wären, die das Potenzial haben, unser Leben reicher zu machen. Gerade sie können dazu beitragen, dass wir als Eltern am inneren Menschen wachsen. Sie tun es nicht automatisch. Ob es gelingt, hat damit zu tun, wie wir uns ihnen stellen. Und mit dem heilsamen und herausfordernden Wirken Gottes in unserem Leben. Dieses Geheimnis bringt Paulus in der Bibel einmal so auf den Punkt: „Wir wissen ja, dass für die, die Gott lieb haben, alle Lebensumstände am Ende zum Guten zusammenwirken“ (Römer 8,28). Wenn wir im Vertrauen auf Gott durch Nöte und Leidenspunkte in unserer Familiengeschichte nicht hart und bitter werden, sondern in Lebensweisheit wachsen und zu reifen, liebesfähigen Persönlichkeiten werden, dann ist das ein Wunder im Alltag, in dem wir den Segen Gottes spüren.

 

 

Ingrid Jope ist Theologin und Sozialpädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Wetter/Ruhr.