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Konflikte mit den Schwiegereltern – was tun?

Wenn ein Paar heiratet, kommt ein neues Mitglied in die Familie. Das kann zu Konflikten zwischen (Schwieger-)Eltern und Kindern, aber auch zwischen den Partnern selbst führen.  Psychologe Jörg Berger über ein herausforderndes Beziehungsdreieck.

Warum sind Schwiegermütter so sprichwörtlich geworden – als Schreckgestalt, besonders für ihre Schwiegertöchter? Schwiegermütter sind ja auch Ehefrau, Freundin, Kollegin und vielleicht Oma. Irgendetwas muss an der Rolle der Schwiegermutter besonders verhängnisvoll sein. Natürlich können auch Schwiegerväter zum Albtraum ihrer Schwiegerkinder werden. Das Verhängnis liegt in der Dreiecksbeziehung, die zwischen Schwiegereltern, Kindern und Schwiegerkindern entsteht.

Schwiegereltern haben Erwartungen an ihre erwachsenen Kinder. Je weniger reif sie mit diesen Erwartungen umgehen, desto mehr Konflikte entstehen. Ein Partner, der noch stark unter dem Einfluss seiner Eltern steht, sitzt dann zwischen den Stühlen. Er stellt sich manchmal auf die Seite seiner Eltern, wo er an der Seite der Partnerin stehen sollte, oder schweigt, obwohl er die Eltern konfrontieren sollte.

Außerdem hat die Position eines Schwiegerkindes gleich zwei Nachteile. Einerseits kann man den Schwiegereltern nicht einfach aus dem Weg gehen. Sie sind Teil der eigenen Familie geworden. Andererseits ist man nicht ihr Kind, man kann sich nicht sicher sein, von ihnen so vorbehaltlos geliebt zu werden und ihnen so wichtig zu sein, wie ein eigenes Kind. Stattdessen werden Schwiegerkinder manchmal wie Eindringlinge empfunden. Sie werden bewertet und nur in dem Maß geliebt, wie sie sich an die Regeln und Sichtweisen der Schwiegerfamilie anpassen. Natürlich kann es auch anders sein: Dann finden Schwiegerkinder eine wunderbare Ergänzung zu dem, was sie aus ihrer eigenen Familie kennen. Doch an dieser Stelle soll es um die schwierigen Konstellationen gehen.

Die Basis der Dreiecksbeziehung

Eigentlich dürfte es keine Probleme mit Schwiegereltern geben, auch nicht, wenn diese schwierig sind: Denn es gibt ja den Partner. Als Tochter oder als Sohn können Partner durchsetzen, dass sich die Eltern fair und liebevoll verhalten, wenn sie ihrer Schwiegertochter oder ihrem Schwiegersohn begegnen. Wie das möglich ist, habe ich in den ersten beiden Teilen der Serie gezeigt. Doch nicht immer ist sich ein Paar einig. Manche Partner sind gegenüber den Schwächen ihrer Eltern abgestumpft: „So sind sie eben. Warum soll man mit ihnen streiten? Die werden sich nicht ändern. Man muss sie eben ertragen.“ Doch dann stehen Schwiegerkinder allein da. Sie sind nicht abgestumpft, sondern sie leiden. Sie haben nicht resigniert, sondern wollen nicht alles ertragen, was die Schwiegereltern ihnen zumuten. Wenn man es genau betrachtet, haben Schwiegerkinder dann kein Problem mit den Schwiegereltern. Sie haben ein Problem mit dem Partner. Denn der Partner verschließt die Augen und macht sich auch stumpf gegenüber dem, was der oder die andere von den Schwiegereltern erleidet. Deshalb findet sich der Ansatzpunkt zunächst in der Paarbeziehung. Hier finden Sie einen Crashkurs für den Umgang mit einem Partner, der gegenüber schwierigen Eltern resigniert hat:

  • Kritisieren Sie die Schwiegereltern nicht. Die dürfen bleiben, wie sie sind, und sein, wie sie wollen. Doch auch Sie dürfen so sein, wie Sie sind, und auf die Schwiegereltern reagieren, wie es Ihnen und Ihrem Wohlbefinden entspricht.
  • Kritisieren Sie nicht, wie Ihr Partner mit den Eltern umgeht. Abstumpfung ist auch ein Weg. Im Alter werden viele Schwiegereltern milder, und es kann wieder ganz nett mit ihnen werden. Aber Abstumpfung ist vielleicht nicht Ihr Weg. Auch dazu dürfen Sie stehen.
  • Bleiben Sie bei sich und beschreiben Sie Ihrem Partner ohne Vorwürfe, wie es Ihnen mit den Schwiegereltern geht und warum Sie sich das auf Dauer so nicht vorstellen können.
  • Machen Sie Ihrem Partner konkrete Vorschläge, wie er Sie vor den Schwiegereltern besser schützen könnte.
  • Machen Sie Ihrem Partner deutlich, dass Sie zur Not auch allein einen Weg gehen werden, an dessen Ende Sie sich mit den Schwiegereltern wieder wohlfühlen werden. Meist beinhaltet das, gegenüber den Schwiegereltern taktvoll auszusprechen, dass man sich mit ihnen nicht immer wohlfühlt und warum das so ist. Das lädt Schwiegereltern zu einer besseren Beziehung ein. Vielleicht ändert sich etwas. Wenn nicht, können Sie Besuche einschränken oder vermeiden, mit den Schwiegereltern Zeit allein zu verbringen. Sie können sogar etwas anderes unternehmen, wenn die Schwiegereltern zu Besuch kommen.

Schwiegereltern und die Regeln der Gastfreundschaft

Wir machen uns das nicht immer bewusst, doch jede Gastfreundschaft beruht auf einem feinfühligen Umgang mit Zumutungen. Der Gast tritt in die Welt des Gastgebers ein und muss mit dem zurechtkommen, was er dort vorfindet: die Einrichtung, die Umgangsformen, die Abläufe, die Getränke und Mahlzeiten. Ein Gast zeigt auch da Wertschätzung, wo der Gastgeber seinen Geschmack nicht trifft. Ein Gast erträgt höflich, wenn ein Gastgeber seine Bedürfnisse nicht erkennt. Im Gegenzug tut ein Gastgeber alles, damit sich ein Gast wohlfühlen kann. Er erkundet aufmerksam, was dazu nötig ist.

Dieses Wechselspiel ist nicht immer einfach. Wer könnte keine Geschichten von missglückten Besuchen erzählen? Von Gästen, nach deren Gehen man aufatmet. Von Gastgebern, deren Einladung man kein zweites Mal annimmt. Schwiegereltern können jedoch zum Härtefall der Gastfreundschaft werden. Denn sie besucht man häufig und oft länger als zum Beispiel Freunde. Ihre nächste Einladung kann man kaum ausschlagen, nur weil man sich beim letzten Mal nicht wohlgefühlt hat. Außerdem begegnet man bei Besuchen nicht nur den Schwiegereltern, sondern manchmal der ganzen Sippe, zum Beispiel bei Geburtstagen oder Familienfesten. Dann sind Geschwister da, Tanten, Onkel oder Großeltern.

Eine andere Familienkultur

Schwiegerkinder sind einer Familienkultur ausgesetzt, die alle für selbstverständlich halten. In manchen Familien herrscht ein derber Humor, der für angeheiratete Partner verletzend sein kann. Manche Familien entspannen sich bei oberflächlicher Konversation, während Schwiegerkinder das Gefühl haben, emotional zu verhungern. Sie fühlen sich austauschbar und erleben kein persönliches Interesse. In anderen Familien wird laut gestritten, schamlos werden Konkurrenzkämpfe ausgetragen, eines der Geschwisterkinder wird noch heute gemobbt oder es gibt eine allseits bewunderte Person, die alle Aufmerksamkeit an sich bindet. All das mag für die Familie in Ordnung sein, doch sobald ein Gast da ist, der nicht aus der Sippe stammt, verpflichtet die Gastfreundschaft zur Rücksicht: Fühlt sich ein Gast mit unserer Familienkultur wohl?

Allen schwierigen Eltern und Schwiegereltern ist gemeinsam, dass sie sich diese Frage nicht stellen. Schwiegerkinder haben dann nur zwei schlechte Möglichkeiten: Entweder leiden sie still oder sie erscheinen als undankbarer, unzufriedener oder überempfindlicher Gast. Denn die Höflichkeit gebietet ja, als Gast dankbar zu empfangen, was man vorfindet. Sich aus dieser Position gegen die Familienkultur zu stemmen, ist zwar nicht unmöglich, aber sehr, sehr schwierig.

Es ist deshalb zuallererst Aufgabe des erwachsenen Kindes, in seiner Herkunftsfamilie echte Gastfreundschaft einzufordern. Oft gelingt das mit geduldiger Aufklärung. Das kann zum Beispiel so klingen:

  • „Papa, ich finde, wir sind eine tolle Familie. Aber in einer Sache sind wir extrem. Ich glaube, dass es nicht viele Familien gibt, in denen so laut gestritten wird. Ich habe mich daran gewöhnt, aber Vanessa fühlt sich dadurch bedroht. Sie hat aber auch das Recht, sich bei uns wohlzufühlen. Vielleicht denkst du jetzt: In meinem Zuhause kann ich mich so verhalten, wie ich es für richtig halte. Das stimmt auch, solange keine Gäste da sind. Wenn du erwartest, dass Vanessa das einfach erträgt, wird sie irgendwann nicht mehr gerne kommen.“
  • „Mama, jetzt ist mal gut. Du merkst wahrscheinlich gar nicht, wie sehr du Tim gerade bedrängst und in welche Verlegenheit du ihn bringst. Wenn ich mit Tims Augen auf unsere Familie sehe, dann fällt mir auf, wie sehr wir uns einmischen und wie schwer es uns fällt, unterschiedliche Sichtweisen einfach mal stehen zu lassen.“
  • „Papa, wir sind als Familie ja nicht so wahnsinnig gut darin, über Gefühle zu sprechen und uns persönlich für andere zu interessieren. Das ist auch okay so. Aber ich fände es schön, wenn du bei jedem Besuch einmal nachfragst, wie es Hanna geht. Das ist eine kleine Geste, die ihr viel bedeuten würde.“

Freie Herzen und Hände

So kann man zur Not immer wieder die gleiche Botschaft aussenden: Schwiegerkinder sind Gäste und verdienen Gastfreundschaft. Keiner kann erwarten, dass sie sich einer fremden Familienkultur einverleiben lassen. Wer seine Gäste schlecht behandelt, muss damit rechnen, dass sie nicht mehr kommen.

Viele Paare, die ich begleitet habe, erleben einen zweiten Frühling, wenn es mit den Schwiegereltern besser wird. Erst im Nachhinein kann das Paar spüren, wie groß die Last war, die es durch die schwierige Beziehung zu den (Schwieger-)Eltern getragen hat. Sie hat so viel Energie gekostet, so viele schwierige Gespräche erfordert und sogar zu Streit in der Paarbeziehung geführt. Paare staunen deshalb über die Leichtigkeit, die in ihre Beziehung einzieht, wenn das Verhältnis zu den Schwiegereltern geklärt ist. Es ist plötzlich mehr Energie da, die ein Paar in lohnende Aufgaben investieren kann.

Jörg Berger ist Diplom-Psychologe und Autor. Er arbeitet als Psychotherapeut in eigener Praxis in Heidelberg.

Wenn die Seele schmerzt: Alte Verletzungen erkennen und heilen

Manche seelischen Verletzungen aus der Kindheit holen uns im Erwachsenenalter ein. Um innerlich heilen zu können, ist es wichtig, diese aufzudecken.

Woran könnten wir erkennen, dass uns seelische Verletzungen aus der Vergangenheit einholen? Es ist oft ein Konglomerat aus Angst, Wut, Verzweiflung, mangelndem Selbstwert, Antriebslosigkeit, Trauer, Desinteresse, sozialem Rückzug, starker Gereiztheit, aggressivem Verhalten, fremd wirkenden Gefühlen oder gar Lebensmüdigkeit. Es können aber auch psychosomatische Beschwerden entstehen wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder Verdauungsschwierigkeiten. Um nicht darüber hinwegzusehen, ist es wichtig, regelmäßig auch mit sich selbst in Kontakt zu sein. Fragen wie: „Wie geht es meiner Seele?“, „Wonach sehnt sie sich?“, „Was raubt mir die Kraft?“ sind wichtig. Wir nennen es Selbstwahrnehmung und Selbstfürsorge.

Die oben genannten Symptome psychischen Angeschlagenseins, die auch in kleineren Krisenzeiten auftauchen können und dann wieder verschwinden, haben das Potenzial, sich in Zeiten der Erschütterung und des Umbruchs zu klinischen Krankheitsbildern zu verdichten. Das müssen nicht zwangsläufig negative Umbrüche sein, wie zum Beispiel Trennungen, Kündigungen oder Krankheiten. Auch freudige Ereignisse wie Schwangerschaft und Hochzeit sind mögliche Auslöser. Dann entstehen zum Beispiel Angststörungen, Depressionen oder psychosomatische Erkrankungen. Nicht selten fördern diese Ereignisse seelische Verletzungen zutage, die in der Entwicklung in der Kindheit oder Jugend liegen, die es gilt, zu erkennen und daran zu arbeiten. Die Psychologie hat gute Konzepte entwickelt, die Menschen eine wertvolle Unterstützung geben können, um schädliche Muster zu erkennen, aus krisenhaften Konflikten herauszufinden und seelisch zu gesunden. Wie so etwas funktionieren kann, möchte ich kurz zeigen. Zwei meiner PatientInnen waren bereit, uns an ihrer Entwicklung teilhaben zu lassen.

Pascal: Selbstständigkeit lernen

Als Pascal (alle Namen geändert) in meine Praxis kam, war er äußerlich gesehen „erfolgreich“. Er studierte im Masterstudiengang Maschinenbau, hatte eine feste Freundin, eine Ehe zogen sie in Betracht. Er lebte immer häufiger in ihrer Wohnung. Folgende Probleme benannte er: „Ich möchte selbstständiger werden, aber meine Eltern setzen mich mit ihrer finanziellen Unterstützung für meine Wohnung unter Druck. Um meine Entscheidungen frei treffen zu können, muss ich mich von ihnen wohl finanziell ganz ablösen und mir mein Leben selbst verdienen!“

Allerdings fühlte es sich für ihn an, als würde er seinen Eltern die Freundschaft kündigen. Alles in ihm sträubte sich gegen diese Entscheidung. Sie führte bei ihm zu Ängsten, starker innerer Unruhe sowie Grübeln mit depressiven Gefühlen. Seine Mutter entwickelte Sorgen um ihn, konnte nachts nicht mehr schlafen und warf ihm vor, nichts mehr mit ihnen zu tun haben zu wollen. „Mir war damals nicht bewusst, dass diese Situation nur die Spitze eines großen Eisbergs von Situationen und Mustern war, denen ich mich stellen musste“, erinnert sich Pascal.

In den Gesprächen wurde mir klar, dass Pascals Probleme ihre Wurzeln im Familiensystem haben mussten, sodass wir uns auf eine Spurensuche begaben. Wir bildeten einen Familienstammbaum (Genogramm) über vier Generationen und entdeckten, dass in der Linie seiner Mutter die Frauen oft herrisch waren, während die Männer zu Gewalt neigten. In der Linie seines Vaters hingegen arbeiteten die Männer viel und waren abwesend. Darüber hinaus führten wir eine Familienaufstellung mit Holzfiguren durch, um die Konstellation seiner Familie in der Kindheit zu analysieren. Hier stellte sich heraus, dass Pascal sich stark von seiner Mutter unterdrückt fühlte. Sie legte ihre Angst auf ihn und war häufig gereizt und überfordert. Die Figur seines Vaters stand schräg hinter der Mutter, da er andauernd arbeitete und zu Hause müde war. Pascal stellte fest: „Mir fehlte ein starkes Vorbild, das mir beibrachte, wie man sich verteidigt und dass man sich für sich selbst einsetzen darf.“

Er war – tiefenpsychologisch gesprochen – als Erwachsener gefangen in einem Konflikt der Kontrolle versus Unterwerfung. In einer Entwicklungsphase, in der er als Kind begann, sich selbstwirksam zu erleben, neue motorische Fähigkeiten auszuprobieren (wie z. B. Krabbeln), mit individuellen Bedürfnissen, und auch mal Nein zu sagen, ist er wahrscheinlich zu sehr kontrolliert und entmutigt worden. Anstatt Autonomie zu lernen, hat Pascal sich den Eltern „unterworfen“, ist gehorsam und angepasst geworden, um ihre Liebe nicht zu verlieren. In einer Lebensphase, in der er naturgemäß immer selbstständiger werden wollte und musste, fühlte er unbewusst den Druck, sich unterzuordnen. Diese tiefe innere Spannung kam an die Oberfläche und die unbewussten Ängste haben einen Konflikt entfacht. Je mehr er diese zugrunde liegende Problematik verstand, desto besser konnte er sich von den Vorstellungen seiner Eltern abgrenzen und erlebte, wie die Symptome zurückgingen.

Sylvia: Selbstwert entwickeln

Sylvia hätte überglücklich sein können. Sie hatte zwei Ausbildungen und war erfolgreich und zufrieden in ihrem Beruf. Ihr Freund hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie konnte sich darüber aber nicht freuen. Sie wurde ihm gegenüber immer aggressiver und ausfallender. War sie allein, musste sie viel weinen. Sie empfand sich als ungenügend und bedeutungslos, sie verstand die Welt nicht mehr. Auch hier half ein Blick in das Familiensystem, denn der Selbstwert-Konflikt, der zum Vorschein kam, war bereits in ihrer Kindheit angelegt.

Sylvias Vater war ihr gegenüber respektlos und übertrat ständig ihre Grenzen, zum Beispiel, indem er ihre Tagebücher las. Ihre Mutter war überfordert und nicht in der Lage, ihre Tochter zu schützen. Zugleich war Sylvia aber für ihre Individualität und Selbstwertentwicklung darauf angewiesen, in ihren Eltern liebevolle Vorbilder zu sehen, die auf ihr Kind stolz sein können. Da ihr diese Bestätigung verwehrt blieb, zog sich Sylvia resignativ in ein Gefühl der Bedeutungs- und Wertlosigkeit zurück und versuchte, durch Leistung Bewunderung und Anerkennung zu bekommen. In ihrer jetzigen Beziehung fühlte sich Sylvia in ihre Kindheit versetzt und bediente sich früherer Lösungsansätze: Sie versuchte Anerkennung durch Leistung und durch die Abwertung ihrer eigenen Person zu bekommen. Aber in ihr stieg auch verborgene Wut auf. Erst in der Therapie verstand sie, dass ihre Kindheit und das Verhalten ihrer Eltern alles andere als normal und gesundheitsfördernd für sie gewesen waren.

Zur seelischen Stabilisierung und Neuorientierung war für sie als erster Schritt ein (vorübergehender) Abstand zu ihren Eltern wichtig, da die Bindung immer noch sehr eng und die schädlichen Muster aktiv waren. In weiteren Schritten arbeiteten wir vor allem mithilfe von Imaginationen (dem Herstellen von inneren Bildern) schmerzhafte Erinnerungen durch, in denen das Kind von damals Hilfestellung und Korrektur erfahren konnte, sodass sich innere Glaubenssätze und tief verankerte Grundgefühle verändern können. Auf diese Weise können negative neuronale Netzwerke neu verknüpft bzw. überschrieben werden und schon in der Kindheit entstandener Stress kann abgebaut werden. Sylvia ist auf dem Weg, sich als wertvoll anzunehmen, ohne dafür etwas Besonderes leisten zu müssen, und auch ihre – bis dahin unbewusste – Frustration und Wut zu verarbeiten.

Das sind nur zwei Beispiele, wie wir durch die Aufarbeitung von familiären Systemen oder unerfüllten Grundbedürfnissen Konflikte aufdecken und seelisch gesunden können. Daraus ergibt sich für uns als Eltern, die Bedürfnisse unserer Kinder im Blick zu behalten und auch in uns selbst hineinzuschauen, wo wir unbewusst Konflikte in uns tragen. Es muss nicht immer sein, dass schwerwiegende Symptome entstehen. Aber wenn es dazu kommt, ist professioneller Rat in jedem Fall angemessen.

Wir brauchen Bindung

Was schützt uns nun also vor solchen Fehlentwicklungen, und was brauchen unsere Kinder, um die vor ihnen liegenden Entwicklungsstufen zu bewältigen und seelisch gesund zu sein und bleiben zu können? Auch später als Erwachsene? Sie brauchen das Gefühl, sicher gebunden und um ihrer selbst willen geliebt zu sein.

Marion Geissler ist Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet in Kassel in einer Praxis.