Eine Mutter diskutiert mit ihrer erwachsenen Tochter. Symbolbild: Getty Images / jeffbergen

Paartherapeut klärt auf: (Schwieger-)Eltern können nicht alles verlangen!

Manche Eltern und Schwiegereltern sind kein Rückhalt für ihre Kinder. Im Gegenteil, sie enttäuschen ihre erwachsenen Kinder und rauben ihnen Kraft. Müssen Kinder das hinnehmen? Paartherapeut Jörg Berger erklärt, wie sich erwachsene Kinder verhalten sollten und wann es ratsam ist, sich zurückzuziehen.

Es gibt Eltern, die ihre erwachsenen Kinder zu viel Kraft kosten, die viel von ihren Kindern fordern und nicht auf sie eingehen. Im Folgenden sind Namen verändert und die Lebensgeschichten verfremdet wiedergegeben.

Wenn Eltern zu viel Kraft rauben

Wo Eltern ihre Verantwortung nicht übernehmen, fällt sie den Kindern zu. Kinder sind dann auf sich allein gestellt. Oft übernehmen sie sogar Verantwortung für die Eltern, etwa als Sonnenschein oder Partnerersatz. Das setzt sich meist fort, wenn die Kinder erwachsen sind. Manche Eltern sind von Angst bestimmt. Schon immer haben sie ihre Kinder mit dem alleingelassen, was für sie als Eltern zu anstrengend oder zu bedrohlich war. Das tun sie auch heute noch. Sie verschließen einfach Auge, Ohr und Herz, wenn sie sich überfordert fühlen.

Judith zum Beispiel muss ihre Eltern so nehmen, wie sie sind. Ihre zwei Ältesten sind unkompliziert und robust. Sie kommen mit den Großeltern zurecht. Doch Moritz, der Dritte, ist einfach feinfühlig. Er weint, wenn Opa seine derben Späße macht oder ihm „aus Spaß“ Angst einjagt. Einige Gemüsesorten, die Moritz nicht gern isst, landen trotzdem bei den Großeltern immer wieder auf dem Teller. „Hab dich nicht so“, ist die Botschaft, mit der sich Judiths Eltern das Leben einfach machen.

Gefühl der Verpflichtung

Mit ihren Vorschlägen, wie die Eltern besser auf Moritz eingehen können, stößt Judith auf taube Ohren. Es rührt auch in ihrer eigenen Geschichte, denn Judith war wohl früher so sensibel wie Moritz und hätte Eltern gebraucht, die auf sie eingehen, auch wenn es das Leben etwas komplizierter macht. Judith ist fix und fertig nach Besuchen bei den Eltern. Ihr gehen viele Situationen nach. Sie grübelt, wie es beim nächsten Mal besser werden könnte und kommt doch zu keiner Lösung. Ihre Eltern würden sich gar nicht beschweren, wenn sie weniger zu Besuch kommen würde. Sie nehmen alles hin, solange es sie nicht aus ihrer Komfortzone zwingt. Vermutlich würde auch Judiths Kindern nicht viel fehlen. Aber darf sie die Beziehung einfach auslaufen lassen? Zu den eigenen Eltern? Und aus den Großeltern Fremde machen, zu denen ihre Kinder kaum einen Bezug haben? Gibt es nicht so etwas wie eine Verpflichtung, den Kontakt zu Eltern und Großeltern zu pflegen?

Ein Gefühl der Verpflichtung kann auch noch eine andere Quelle haben. Dann zieht die Not eines Elternteils in die Verantwortung.

Verantwortung für die Eltern

Jonas bekniet seine Mutter: „Mensch, geh’ doch mal zum Arzt.“ Doch seine Mutter entgegnet: „Dein Vater sagt, das sind nur Wehwehchen.“ „Mama, du kannst doch selbst …“, setzt Jonas an, aber er spricht den Satz nicht zu Ende, weil es keinen Sinn hat. Nächste Woche schaut Jonas ohnehin vorbei, dann kann er für die Mutter einen Termin beim Arzt machen. Schon bei dem Gedanken an den Besuch legt sich Jonas eine Last auf die Schultern. Seine Mutter wird klagen: wie sich der Vater schon wieder verhalten hat, dass niemand Zeit für sie hat und dass sie in ihrem Chaos nichts findet. Jonas wird seine übliche Rolle spielen. Er wird zuhören. Er wird ablenken und aufmuntern. Er wird vermutlich wieder vergeblich anregen, dass seine Mutter selbst etwas für ihr Wohlbefinden tut. Danach wird er ausgelaugt zurückfahren.

„Ich könnte das nicht“, sagt Jonas’ Frau, als sie sieht, wie sich Jonas mit Bier, Chips und einer Serie betäubt. Das macht er sonst schon länger nicht mehr, höchstens eben, wenn er bei der Mutter war. „Deine Mutter ist doch erwachsen und gesund. Soll sie doch leben, wie sie es für richtig hält.“ „Stimmt schon“, sagt Jonas und schüttelt vorsichtig die letzten Chips aus der Tüte. „Aber sie ist doch meine Mutter.“ Judith und Jonas haben sich in ihr Schicksal gefügt. Doch Kinder schwieriger Eltern können sich aus der Verantwortungsfalle befreien.

Alte Muster hinter sich lassen

Erwachsene Kinder fühlen sich gegenüber den Eltern so hilflos, wie sie es als Kinder waren. Doch heute verfügen sie über mehr positiven Einfluss, als sie erwarten. Sie sind überrascht, wie leicht sich Eltern manchmal führen lassen und wie gut es gelingt, Grenzen zu setzen. Judith zum Beispiel hat die Zeiten mit ihren Eltern am Telefon vorbereitet: „Papa, du weißt, dass es Moritz nicht gut damit geht, wenn du ihn aus Spaß erschreckst. Das wirst du dieses Mal nicht tun, oder?“ – „Mama, was wirst du denn am Wochenende kochen? (…) Nein, tut mir leid. Bohnen mag Moritz einfach nicht. Das kann nächstes Jahr schon anders sein. Gibt es noch etwas anderes, das du zu den Würstchen kochen kannst?“ Verständnisvoll haben Judiths Eltern auf diese Führung nicht reagiert. Sie haben sich gerechtfertigt und ihr „Hab dich nicht so“ wiederholt. Aber Judith braucht nicht unbedingt Verständnis. Sie hat den Widerstand der Eltern überwunden, indem sie freundlich auf ein paar Dinge bestanden hat.

Jonas hat seiner Mutter eine Grenze gesetzt: „Mama, ich möchte keine negativen Dinge über meinen Vater hören. Das ist doch eher ein Thema für eine Freundin.“ Dass die Mutter keine Freundin hat, mit der sie so offen reden könnte, heißt ja nicht, dass Jonas diese Rolle übernehmen muss. Wann immer Jonas’ Mutter mit Klagen über den Vater beginnt, wiederholt Jonas freundlich seinen Satz. Er wechselt das Thema oder geht in einen anderen Raum, um etwas zu erledigen. Interessanterweise sind die Gespräche mit seiner Mutter dadurch besser geworden. Es haben sich neue Themen ergeben und Jonas hat manches von seiner Mutter erfahren, was er so noch nie gehört hat. Wo sich erwachsene Kinder ihrer Sache sicher sind, kommen sie erstaunlich weit, wenn sie in der Beziehung eine positive Führung übernehmen.

Erwartungen zurücknehmen

Ein weiterer Schritt hat mit der inneren Ablösung von den Eltern zu tun. Ablösung bedeutet, ihnen gegenüber heute als gleichberechtigte Erwachsene zu empfinden und zu handeln. Dabei stirbt mancher kindliche Wunsch. Für Judith zum Beispiel ist es unendlich enttäuschend, wie wenig ihre Eltern auf sie eingehen. In diese Enttäuschung hat sie bis heute nicht eingewilligt. Sie ahnt, wie viel Trauer und Schmerz das auslösen wird. Doch es führt erwachsene Kinder in einen heilsamen Trauerprozess, wenn sie kindliche Hoffnungen begraben: „Ja, es ist nicht schön, aber meine Eltern sind, wie sie sind. Mehr kann ich an dieser Stelle nicht von ihnen erwarten. Ich nehme das an. Ich kämpfe auch nicht mehr dagegen an. Ich überlege stattdessen realistisch, was das für unsere Beziehung heißt.“

Traurige Stimmungen und Gedanken, schmerzliche Erinnerungen an früher und vielleicht auch Träume, die mit den Eltern zu tun haben, sind Zeichen, dass eine tiefere Ablösung stattfindet. Die Beziehung zu den Eltern ordnet sich in dieser Zeit neu. Judith hat ihren Eltern zum Beispiel mehr Verantwortung für die Beziehung zu den Enkeln gegeben: Sie hat ihnen erklärt, was den Enkeln Freude macht, womit sie sich wohlfühlen und womit nicht. Jetzt ist Judith gespannt. Wenn ihre Eltern das nicht aufgreifen, kommen ihre Enkel vermutlich nicht mehr gern zu ihnen. Judith wird sie dann nicht überreden, von ein paar Familienfesten vielleicht abgesehen. Etwas scheitern lassen zu dürfen, ist ein Kennzeichen einer gelungenen Ablösung. Doch neben den Gefühlsfragen tut sich auch die Gewissensfrage auf.

Auf dem Weg zu einem freien Gewissen

Manche Psychologinnen und Psychologen sehen im vierten der zehn Gebote – du sollst deine Eltern ehren – eine fragwürdige kulturelle Prägung. Zu oft haben sie erlebt, wie es Kinder aus schwierigem Elternhaus in die Pflicht nimmt und wehrlos macht. Missbräuchliche Eltern beanspruchen das vierte Gebot als Komplizen, um auch noch erwachsene Kinder gefügig zu machen. Kirchlich geprägte Eltern berufen sich dabei sogar auf die Bibel, andere müssen nur sagen: „Ich als deine Mutter …“ oder „Willst du etwa deinem Vater …“ – und geben ihren Worten unumstößliche Autorität. Eine ganze Kulturgeschichte von Verpflichtung schwingt in solchen Worten mit. So wird Druck aufgebaut, von dem sich Kinder ohne schlechtes Gewissen ablösen können.

Kinder, die sich von schwierigen Eltern ablösen, entscheiden sich nicht gegen die Eltern. Sie entscheiden sich für etwas. Sie empfangen das Geschenk des Lebens und stellen sich mit liebevollem Einsatz den Aufgaben, die ihnen Familie, Beruf und ihr Umfeld stellen. Wo Eltern und Schwiegereltern das unterstützen, kann man Leben teilen. Wo nicht, ist ein heilsamer Abstand nicht nur erlaubt, sondern notwendig. Auch dann finden sich Gelegenheiten, den Eltern Wertschätzung und Liebe zu schenken. Doch auch schwierige Eltern haben nicht das Recht, ihren Kindern das Geschenk des Lebens zu verderben oder ihnen die Kraft zu rauben, die sie für ihr eigenes Leben brauchen.

Jörg Berger arbeitet als Psychotherapeut und Paartherapeut in eigener Praxis in Heidelberg (epaartherapie.de). Mehr zum Thema gibt es in seinem Buch „Stachlige Eltern und Schwiegereltern. Wie Sie Frieden schließen und versöhnt leben“ (Francke).

1 Kommentar

Trackbacks & Pingbacks

  1. […] Albtraum ihrer Schwiegerkinder werden. Das Verhängnis liegt in der Dreiecksbeziehung, die zwischen Schwiegereltern, Kindern und Schwiegerkindern […]

Kommentare sind deaktiviert.