Beiträge

Ein Paar, zwei Perspektiven: Herz versus Kopf

„Wichtigeres als Schule“

Katharina Hullen weiß, wie die Freunde ihrer Kinder heißen. Wo Bhutan liegt, findet sie nicht so essenziell.

Katharina:

Mark Twain sagte einmal: „Für mich gibt es Wichtigeres im Leben als die Schule.“ Nach monatelangem Homeschooling mit fünf Kindern weiß ich gar nicht, ob ich diesem Satz zustimmen oder widersprechen soll. Insbesondere, da Bildung für die Lehrer-Dynastie Hullen seit Generationen Elternsache ist. Es ist ein Wunder, dass sie mich ungebildetes Wesen überhaupt in ihren Kreis aufgenommen haben, denn wie sich zeigt, bin ich dem Homeschooling schon rein inhaltlich nicht mehr gewachsen. Was für ein Segen, dass es den klugen Lehrer-Papa gibt, der in allen Fächern aushelfen kann, wenn’s mal nicht läuft. Wie wichtig doch Schule und Lehrer sind!
Dennoch kann ich auch Haukes Schüler verstehen, die nicht interessiert, wo Bhutan auf der Weltkarte zu finden ist oder wie sich ein Parlament zusammensetzt. Ich suchte in meiner Schulzeit auf der Landkarte nur die Länder heraus, aus denen Freunde stammten. So wusste ich genau, wo Sri Lanka lag, bei Österreich konnte ich nur raten. Mein Vater ist parteipolitisch engagiert, und zu Hause wurde immer viel diskutiert und gestritten. Ich schaltete bei diesen Debatten immer automatisch ab, was leider auch zu großen Wissenslücken führte. Als ich Hauke kennenlernte, wusste ich daher nicht einmal, was eine „Opposition“ ist. Peinlich. Bei einem der ersten Treffen bei meinen Schwiegereltern in spe wurde beim Kaffeetrinken über die physikalischen Abläufe beim Abbrennen einer Kerze philosophiert. Eine mir bis dahin völlig fremde Gesprächskultur. Und mitreden konnte ich auch nicht. Warum gab es für den belesensten Ehemann von allen und das naive Landei doch noch ein Happy End? Nun, mir waren diese Bildungslücken peinlich. So kaufte ich mir eine große Weltkarte, hängte sie über mein Bett und studierte sie. Ich las in der Zeitung nicht mehr nur den Panorama-Teil und ersetzte einige Serien durch Dokumentationen. Bildung lässt sich also aufholen.
Aber noch viel entscheidender für das Happy End war dieses „Wichtigere im Leben“, das Mark Twain vermutlich meint. Der andere, der bessere Teil von mir, der super zuhören, mitdenken, praktische Lösungen finden, mitfühlen, spontan reagieren und sich jede Menge Zeit für mein Gegenüber nehmen kann. Was hilft das Zahlen-Daten-Fakten-Wissen, wenn man nicht erkennt, wie es den Menschen um einen herum geht? Was nützt Bildung, wenn ich nicht fühlen kann, was jetzt wichtig ist?
Unsere Kinder wachsen in einem Haushalt auf, wo Wissen und Bildung durch Schule, Eltern, Großeltern und der Sendung mit der Maus quasi rund um die Uhr vermittelt wird. Sie erleben den klugen Papa, den man alles zur großen weiten Welt fragen kann, und eine kluge Mama, die weiß, wie die Freunde ihrer Kinder heißen, worüber sie lachen und weinen, die spielt, bastelt, Anteil nimmt und ihnen hilft beim Finden kreativer Ideen. So manche dieser guten Gespräche mit den Kindern gehen an meinem gebildeten Hauke vorbei, obwohl er mit am Tisch sitzt – weil er gerade Zeitung liest!
Ich bin sehr dankbar über unsere Mischung – denn so können unsere Kinder gebildete und einfühlsame Menschen werden. Gott sei Dank!

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

„Weil Liebe nie zerbricht“

Hauke Hullen ist entsetzt, wenn ein Schüler London in Ostchina verortet. Wie gut, dass sein 5-Jähriger die Umrisse von Deutschland kennt.

Hauke:

Beim Abendbrot entspinnt sich ein Gespräch übers Sodbrennen. Da beginnt die 14-Jährige zu dozieren: Die Speiseröhre sei mit einer Schutzschicht ausgekleidet, diese werde jedoch von der Magensäure zerstört, wenn sie aus dem Magen hochsteigt. Anschließend geht es mit Einzelheiten zur Phosphorsäure weiter. Woher sie das alles weiß? Aus dem Chemie-Unterricht. Vor lauter stolzer Glückseligkeit kann ich kaum in mein Brot beißen. Doch es wird noch besser: Wenige Minuten später rupft unser 5-Jähriger den Schinken von seinem Brötchen. Der Knirps hält triumphierend den Fleischlappen in die Runde und ruft: „Das sieht ja aus wie Deutschland!“ Tatsächlich: Durch ein paar Bisswunden entstellt hat der Aufschnitt eine Form angenommen, in der man mit ein bisschen gutem Willen die Umrisse Deutschlands erkennen kann. Nun, ich will das nicht überbewerten, doch dass der jüngste Spross meiner Lenden unsere Landesgrenzen in Rindersaftschinken mit Pfefferkruste wiederfindet … Sicherheitshalber kontrolliere ich, ob das Telefon frei ist, falls das Nobelpreis-Komitee anruft. Denn in der Schule sehe ich oft das Gegenteil: Jugendliche, die erschreckend wenig von der Welt da draußen wissen. Während meinem Dreikäsehoch Aufschnitt reicht, um Deutschland zu identifizieren, kenne ich Oberstufenschüler, die die Bundesrepublik selbst auf einer Weltkarte nicht finden. Angehende Abiturienten, die Kronjuwelen unseres Bildungssystems, welche in Bälde studieren und die Geschicke unseres Landes lenken werden, aber nicht wissen, wo London liegt und irgendwann auf die Ostküste Chinas tippen, weil es dort offensichtlich viele große Städte gibt. Da wird das „Land“ (!) Afrika in Südamerika vermutet, die Entfernung zum Mond auf 80 Kilometer geschätzt und in einem Referat die Eröffnung eines NS-Konzentrationslagers im Jahre 1994 verortet. Das habe so im Internet gestanden. Wer gerade Bundespräsident ist, wissen auch nur 25 Prozent meines Leistungskurses Sozialwissenschaften. Und wenn Sie mal richtig schlechte Laune kriegen wollen, dann fragen Sie einen Teenager, was 15 Prozent von 200 Euro sind. Nun, es ist wohlfeil, sich über Wissenslücken von Jugendlichen lustig zu machen. Aber hier geht es nicht um Unterrichtswissen, sondern um Allgemeinbildung, die jedem zufliegt, der mit offenen Augen und Ohren durch die Welt geht. Wie will man diese Welt verstehen, wenn man nichts von ihr weiß? Wie will man Absurditäten erkennen, wenn kein Orientierungswissen vorhanden ist? Trotz 500 Jahren Aufklärung halten viele Menschen YouTube-Videos für seriöser als den wissenschaftlichen Konsens, vertrauen auf homöopathische Placebo-Medizin und lassen sich willfährig von allerlei Geschwurbel infizieren.

Da tut Bildung not! Darum hatten die beste Ehefrau von allen und ich direkt eine Weltkarte übers Ehebett gehängt. Mit einem Zeigestock ging es dann auf abendliche Weltreise, damit man weiß, wo die Freiheit am Hindukusch verteidigt wurde, wo Nordkorea die USA mit Raketen bedroht oder wo im Nahen Osten die Kulturen aufeinanderstoßen. Und damit man mitreden kann, wenn der 5-Jährige in der Wurst fündig wird.

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Musikalische Früherziehung: So bereiten Sie Ihr Kind optimal auf ein Instrument vor

Warum ist musikalische Früherziehung wichtig und wann ist der richtige Zeitpunkt dafür? Das beantworten Claudia Pössnicker und Carina Beckmann von der Musikschule an der Ruhr im Interview.

Was ist musikalische Früherziehung und warum ist sie wichtig für Kinder?
Claudia Pössnicker:
 Musikalische Früherziehung beginnt mit vier Jahren, manchmal auch früher, in der Musikschule oder in Kooperation mit Musikschule und Kita und bedeutet zunächst einmal ganzheitliches Lernen. In den Kursen werden den Kindern zum einen allgemeine Kompetenzen wie sprechen, sehen, hören, tasten, Motorik, Geduld, Konzentration und Koordination beigebracht, aber auch soziale Kompetenzen wie Wertschätzung, Teamfähigkeit, Respekt, Empathie, Konflikt- und Kritikfähigkeit. Auch Selbstkompetenzen wie Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl und Selbstbeobachtung kommen nicht zu kurz. All diese Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erlernen, ist deshalb so wichtig, weil sie das spätere Instrumentalspiel erleichtern. Interessant ist, dass die Kinder mit einem angeborenen Rhythmusgefühl auf die Welt kommen. Sie bewegen sich rhythmisch zur Musik. Wenn diese Fähigkeit nicht aufgegriffen und trainiert wird, kann sie schwächer werden.

Gemeinsam singen ist eine gute Übung

Was kann ich davon zu Hause umsetzen?
Carina Beckmann:
 Man kann gut mit den Kindern zusammen singen. Wir bauen es als Familie oft spielend mit ein, und so entstehen manchmal zu bekannten Melodien lustige neue Texte. Eltern können mit ihren Kindern tanzen, hüpfen, klatschen und vieles mehr. Wir machen uns oft einfach laut Musik an und tanzen herum, spielen Luftgitarre, Bass, Schlagzeug, Keyboard und singen dazu.

Ab wann ist es sinnvoll, „richtigen“ Musikunterricht zu nehmen?
Pössnicker:
 Was Instrumente betrifft, ist es immer dann sinnvoll, damit anzufangen, wenn man den Wunsch dazu verspürt. Das hat meines Erachtens nichts mit dem Alter zu tun, sondern nur mit dem Interesse.

Einfach Instrumente ausprobieren

Wie merke ich, dass mein Kind besonderes Interesse an einem Instrument hat?
Beckmann:
 Das Kind fordert die Eltern zum Beispiel auf, eine bestimmte Musik immer wieder zu hören oder überhaupt Musik zu hören. Es findet vielleicht auch Straßenmusikanten interessant, versucht mit vorhandenen Gegenständen und Spielzeugen Musik „nachzumachen“. Außerdem wird es das Instrument, welches es besonders interessant findet, wahrscheinlich öfter benennen. Wenn Eltern und Kind sich unsicher sind, kann es einfach zur Musikschule kommen und einige Instrumente ausprobieren.

Worauf sollte man achten?
Pössnicker:
 Ganz wichtig finde ich, dass die Musikpädagog/-innen Freude an der Arbeit haben und den Schülerinnen und Schülern diese auch vermitteln können. Dass sie geduldig sind, jedes Kind als Individuum sehen und flexibel auf die Interessen eingehen, keinen Druck ausüben und wissen, was sie tun.
Beckmann: … und dass das Kind Freude daran hat!

Interview: Ruth Korte

Recht auf Bildung versus Angst ums Kind: Darum sind Kinderrechte umstritten

Kinderrechte im Grundgesetz – was sollte man da schon gegen haben? Eine Menge, finden Kritiker. Wir zeigen, was dafür spricht – und was dagegen.

In Deutschland gibt es seit Jahren eine Diskussion darüber, ob die Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden sollen. Die Befürworter sehen darin unter anderem die Chance, das Kindeswohl zu stärken und die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Entscheidungen rechtlich abzusichern. Die Kritiker befürchten vor allem, dass die Rechte der Eltern zugunsten des Staates eingeschränkt werden. Wir haben zwei Menschen, die sich für Kinder und Familien engagieren, gefragt, welche Haltung sie vertreten.

 

Pro: „Kinder müssen in den Fokus gestellt werden.“

Arche-Gründer Bernd Siggelkow plädiert dafür, die Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, damit vor allem benachteiligte Kinder stärker gehört werden.

Kinderrechte gehören ins Grundgesetz, denn die dortige Verankerung macht daraus eine moderne, zukunftsorientierte Verfassung und setzt gleichzeitig ein Zeichen, welche Bedeutung Kindern und Jugendlichen und deren Belangen in Deutschland beigemessen wird. Natürlich möchte ich als Gründer und auch Leiter einer Kinder- und Jugendeinrichtung die Rechte der Eltern innerhalb ihrer Familie nicht beschneiden. Unsere Kinder sind aber keine kleinen Erwachsenen, und deswegen sollten und müssen ihre Rechte gestärkt werden.

Passus reicht nicht

Ein immer wiederkehrendes Gegenargument ist der Hinweis, dass Kinder bereits durch ihr Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Artikel 2 Absatz 1 im Grundgesetz geschützt seien. Dieser Passus reicht aber bei weitem nicht aus. Das hat auch damit etwas zu tun, dass hier nicht ausdrücklich ausgesprochen wird, welche spezifischen Rechte Kinder in Deutschland haben, etwa dass ihr Wohl bei sämtlichen Maßnahmen, die sie betreffen, vorrangig zu berücksichtigen ist und dass Kinder in solchen Fällen beteiligt werden müssen. Es besteht daher ein enormer Bedarf, die bereits bestehenden Kinderrechte im Grundgesetz zu stärken.

Lernen wie zu Omas Zeiten

Kinder müssen in unserem Land endlich in den Fokus gestellt werden, denn die einzigen Ressourcen, die wir in Deutschland haben, sind unsere Kinder. Wir in den Archen treffen täglich auf Kinder und Jugendliche, die in fast allen Belangen benachteiligt werden. Das sind Kinder, die aufgrund ihrer Herkunft nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen dürfen, denn sie kommen zumeist aus prekären Familienverhältnissen. Viele unserer Kinder sind nicht einmal mehr in der Lage, ihre Schulaufgaben zu machen, denn es fehlt an Tablets und Laptops. In den Schulen ohne einflussreiche Förderkreise gibt es zudem kein Geld für zeitgemäße Technik. Die Kinder lernen wie zu Omas Zeiten.

Keine Lobby

Keiner beschwert sich darüber, denn diese Kinder haben keine Lobby. Auch scheitern viele Kinder in den Schulen schon an einfachen Herausforderungen, wie zum Beispiel dem Lesen und Schreiben. Der Lehrkörper richtet sich nach den Schülerinnen und Schülern, die ohne Probleme dem Lehrstoff folgen können. So haben wir es später mit hunderttausenden jungen, funktionalen Analphabeten zu tun. Menschen also, die nicht wirklich lesen und schreiben können.

Nie im Restaurant

Würden Kinderrechte im Grundgesetz verankert sein, könnten Eltern und Kinder den Staat verklagen, weil der seiner Ausbildungspflicht nicht nachkommt. Ich könnte jetzt zahlreiche weitere Punkte aufzählen, aber dafür reicht bei weitem der Platz nicht. Doch eine weitere Sache brennt mir noch auf der Seele. Viele unserer Arche-Besucher, auch die älteren Jugendlichen, waren noch nie in einem Restaurant, noch nie in einem Theater oder Kino. Urlaub, zum Beispiel eine Auslandsreise – davon dürfen unsere Kinder nur träumen. Und so wachsen sie Jahr für Jahr außerhalb unserer Gesellschaft auf.

Vor einige Wochen schenkte ein langjähriger Arche-Unterstützer einem 17-jährigen Mädchen für deren Familie einen Gutschein für einen Restaurantbesuch. Das Mädchen war sehr verunsichert und fragte mich: „Du Bernd, was muss ich damit machen, muss ich das jetzt irgendwo anmelden?“ Sie war noch nie in einem Restaurant. Das Mädchen kann übrigens sehr gut lernen und macht gerade Abitur, eine Ausnahme unter den Kindern der Arche. Aber sie wusste nicht, wie man außerhalb ihrer vier Wände essen geht. So etwas macht mich sehr traurig. Wenn ich könnte, würde ich rechtliche Schritte gegen den Staat einleiten, weil er hunderttausende Jugendliche einfach vergisst. Kämpfen wir gemeinsam für mehr Rechte unserer Kinder!

Bernd Siggelkow ist Vater von sechs Kindern. Er ist Gründer und Leiter des Kinderhilfswerks Arche, das in Deutschland, Polen und der Schweiz an 28 Standorten Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Verhältnissen fördert und unterstützt.

 

Kontra: „Nicht abschätzbare Folgen“

Rebekka Hofmann sorgt sich, dass eine Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz Folgen für die Freiheit und Verantwortung der Eltern haben könnte.

Kinderrechte ins Grundgesetz – könnte dies ein Türöffner sein, das bisher ausgewogene Verhältnis zwischen der grundlegenden Verantwortung von Eltern und der Wächterfunktion des Staates zulasten der Familien zu verändern?

Verantwortung der Eltern

Als Mutter von drei Kindern, geht es mir – hier spreche ich stellvertretend für viele Eltern – um die Pflicht und Verantwortung zur Erziehung meiner Kinder, der ich mit meinem Mann persönlich nachkommen möchte. Meines Erachtens gibt mir der Artikel 6 in unserem Grundgesetz die Freiheit und auch die Rechtsgrundlage dazu, und so hinterfrage ich die Notwendigkeit zur Aufnahme von Kinderrechten im Grundgesetz. Auch Experten einzelner Juristenverbände weisen eindringlich darauf hin, dass die Wächterfunktion des Staates gegenüber Eltern, die ihre Pflichten und ihre Verantwortung – aus welchen Gründen auch immer – nicht wahrnehmen können oder wollen, bereits jetzt verfassungsrechtlich abgesichert ist. Deren Umsetzung muss eher durch Veränderungen von Rahmenbedingungen verbessert werden als durch eine Ergänzung von Kinderrechten. Deutschland sollte auch nicht aufgrund der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 mit Ländern verglichen werden, in denen bisher nicht einmal Menschenrechte geachtet werden und Kinder aus diesem Grund ganz offensichtlich dringend erweiterten, rechtlichen Schutz benötigen.

Keine Krippenpflicht

Die Forderung, „die Lufthoheit über den Kinderbetten zu erobern“, die Olaf Scholz 2002 angesichts des Ausbaus der Kinderbetreuung geäußert hat, lässt mich aufhorchen und ahnen, dass es beim Thema Kinderrechte um weit mehr geht als darum, ein gefährdetes Kindeswohl demnächst zuverlässiger abwenden zu können. Ein Beispiel: Wir haben unsere Kinder aus Überzeugung in den ersten drei Lebensjahren zu Hause betreut und sehen diese Freiheit in Zukunft gefährdet. Denn ein so genanntes Kinderrecht auf Bildung könnte die Einführung einer KiTa- oder sogar Krippenpflicht zur Folge haben. Werden wir Eltern uns dann als „Bildungsverweigerer“ unserer Kinder verantworten müssen? Wie viel Freiheit und Mündigkeit werden uns in den Entscheidungen für die Belange unserer Kinder noch zugestanden? Welche Erziehungsfehler sind noch tolerierbar und als rein menschlich begründet anzusehen? An welchem Punkt gelten Eltern als verantwortungslos, und wer entscheidet darüber?

Einfluss des Staates

In Norwegen sind Kinderrechte schon länger gesetzlich verankert. Neben den positiven Folgen resultiert daraus leider auch die Zunahme von Inobhutnahmen durch die Kinderschutzbehörde Barnevernet, und es wird vermehrt in Familien eingegriffen und Kinder aufgrund nicht oder kaum nachvollziehbarer Gründe von ihren Eltern getrennt.

Hier geht es nicht um die von der UN geforderten Grundrechte für Kinder, die bereits in unserem Grundgesetz verankert sind, sondern um die zum jetzigen Zeitpunkt für uns nicht abschätzbaren Folgen, die ein weiter verstärkter Einfluss des Staates mithilfe der Kinderrechte auf das Familienleben in unserem Land haben könnte. Dass dann auch intakte Familien durch ein gezieltes Aushebeln der Elternrechte betroffen sein könnten, ist nicht auszuschließen. Das sehe ich problematisch.

Schon mehrfach wurde diese Thematik in unseren Regierungen debattiert. Und es wird sicherlich nicht das letzte Mal gewesen sein. Deshalb möchte ich ermutigen, wachsam zu bleiben und genau hinzuschauen, welche Bestrebungen den Familien und damit auch den Kindern in unserem Land wirklich dienen.

Rebekka Hofmann hat mit ihrem Mann drei Kinder. Sie ist Mitgründerin von Nestbau e.V.. Der Chemnitzer Verein informiert, berät und unterstützt Eltern, die ihre Kinder in den ersten drei Jahren gern selbst betreuen wollen.

 

Die Hintergründe

Vor gut 30 Jahren, im November 1989, wurde die UN-Konvention über die Rechte des Kindes verabschiedet. In den Jahren darauf haben – bis auf die USA – alle Mitgliedsländer der Vereinten Nationen diese Konvention für sich ratifiziert.

Zu den Kinderrechten gehören: das Recht auf Gleichheit, auf Gesundheit, Bildung, Spiel und Freizeit, freie Meinungsäußerung und Beteiligung, Schutz vor Gewalt, Zugang zu Medien, Schutz der Privatsphäre und Würde, Schutz im Krieg und auf der Flucht sowie besondere Fürsorge und Förderung bei Behinderung.

Engagierte Organisationen

Seit Jahren gibt es nun in Deutschland das konkrete Bestreben, die Kinderrechte auch im Grundgesetz zu verankern. Dafür engagieren sich besonders Organisationen wie UNICEF Deutschland, der Deutsche Kinderschutzbund, das Deutsche Kinderhilfswerk und die Deutsche Liga für das Kind.
Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die aktuelle Legislaturperiode enthält im Kapitel „Familie“ die Formulierung: „Wir werden Kinderrechte im Grundgesetz ausdrücklich verankern. Kinder sind Grundrechtsträger, ihre Rechte haben für uns Verfassungsrang. Wir werden ein Kindergrundrecht schaffen. Über die genaue Ausgestaltung sollen Bund und Länder in einer neuen gemeinsamen Arbeitsgruppe beraten und bis spätestens Ende 2019 einen Vorschlag vorlegen.“

Bisherige Formulierung

Diese Arbeitsgruppe hat bis Oktober 2019 verschiedene Optionen erarbeitet, wie die Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden können. Dabei geht es im Wesentlichen um eine Ergänzung des Artikels 6. Darin heißt es bisher: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.“

Neuer Entwurf

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht hat daraufhin einen Gesetzentwurf vorgelegt, der vorsieht, folgenden Absatz im Artikel 6 zu ergänzen: „Jedes Kind hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Grundrechte einschließlich seines Rechts auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft. Das Wohl des Kindes ist bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen. Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte unmittelbar betreffen, einen Anspruch auf rechtliches Gehör.“

Dieser Entwurf geht den Befürwortern nicht weit genug, den Kritikern geht er zu weit. Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis hier eine Lösung gefunden wird.

Bettina Wendland

Viel entspannter beim zweiten Kind

Erst nach der Geburt ihres zweiten Sohns fiel Anna Koppri auf, dass sie beim großen Bruder zu fokussiert auf die prompte Stillung seiner Bedürfnisse gewesen war. Ihre Hebamme spielte hierbei eine wichtige Rolle.

Antonin, mein jahrelang ersehntes Wunschkind – endlich ist er da. Natürlich möchte ich alles richtig machen. Deshalb habe ich mich in der Schwangerschaft ausführlich mit dem Mutterwerden und bedürfnisorientierter Begleitung (das Wort Erziehung mochte ich noch nie) befasst. Ich beherzige den Rat meiner Hebamme: Messe täglich sechsmal seine Temperatur, notiere mir die Stillminuten an jeder Brust, Farbe und Konsistenz seiner Ausscheidungen. Beim Wickeln habe ich stets eine Hand auf dem Kind, damit es nicht vom Tisch purzelt.

Immer an der Seite des Kindes

Schon bald liegt er jeden Abend pünktlich um 19 Uhr in seinem Bettchen, um die „richtige Zeit zum Einschlafen“ zu verinnerlichen. Niemals würde ich ihn allein in einem Raum lassen, es sei denn er schläft gerade und das Babyfon ist eingeschaltet. Wenn mein Baby meckert, bin ich sofort zur Stelle, nehme es hoch, schuckle, biete Brust oder Schnuller an – schließlich möchte ich, dass er eine sichere Bindung zu mir bekommt. Einige meiner Rezeptoren sind stets mit meinem Baby verbunden, und so fällt es mir in den ersten Monaten sehr schwer, abzuschalten. Wandle ich durch die Wohnung, um etwas zu erledigen, wird das mit ziemlicher Sicherheit durch ein Bedürfnis des Kindes unterbrochen.

Glanzfolie und Glöckchen zur Beschäftigung

Sobald er etwas wacher ist, bemühe ich mich, meinen Sohn bestmöglich zu beschäftigen. Der Spielebogen steht eigentlich ununterbrochen über dem kleinen Geschöpf, das so neugierig alles aufsaugt, das man ihm bietet. Bald reichen ihm die drei Figuren, die da baumeln, nicht mehr aus. So hänge ich auf Anraten der Hebamme ständig neues Spielzeug über ihm auf: knisternde Glanzfolie, Glöckchen … Meinen Tagesablauf gestalte ich nach den Schlaf-, Wach- und Essenszeiten meines Babys. Gegen 17:30 Uhr weint er viel, um die Eindrücke des Tages zu verarbeiten, weshalb ich um diese Zeit stets mit ihm zu Hause bin. Das hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt. Ich dachte, ich könnte ihn überall hin mitnehmen.

Fast eine Helikoptermutter

Naja, ich bin in Elternzeit, und die ist schließlich dazu da, meine ganze Energie in das neue Leben zu stecken. Klar mache ich auch Dinge, die mir Spaß machen. Zum Beispiel verbringe ich fast den ganzen Sommer mit ihm am See. Meine Freunde würden wohl nicht auf die Idee kommen, ausgerechnet mich als Helikoptermutter zu beschreiben. Doch dieses Kind ist mein absoluter Fokus. Ich achte darauf, dass er in seinem ersten Jahr möglichst kein Körnchen Salz zu sich nimmt und auch kein Sonnenstrahl ihn direkt trifft. Sein Vater und ich, beide sehr freiheitsliebende Individualisten, bekommen eine ganze neue Verbindung durch den gemeinsamen Fokus auf unser Kind.

Das zweite Kind ändert alles

Drei Jahre später ist Antonins kleiner Bruder Benjamin da. Dieses Ereignis erleben wir wesentlich unaufgeregter als die Ankunft des Ersten. Wir sind zwar genauso verliebt in das kleine Wesen, doch beschäftige ich mich wesentlich weniger damit, was ich nun alles richtig oder falsch machen könnte. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr ich um mein erstes Baby gekreist bin. Ständig habe ich mir Gedanken gemacht, ob ihm zu kalt, zu warm oder etwa langweilig sein könnte. Ständig hatte ich dieses unbestimmte Gefühl, ein Bedürfnis zu übersehen oder ihm nicht gerecht zu werden. Ständig waren alle Augen und Erwartungen auf ihn gerichtet.

„Lass ihn ruhig meckern“

Mit meiner neuen Hebamme, die ich als tiefenentspannt und sehr ganzheitlich erlebe, lerne ich einiges, was ich gern schon bei Antonin gewusst hätte. Wir stehen am Wickeltisch, auf dem das neugeborene Menschlein liegt. Als Benjamin anfängt zu meckern, stecke ich routiniert meinen kleinen Finger in seinen Mund, um ihn zu beruhigen. „Lass ihn ruhig ein bisschen meckern. Das darf er, er möchte sich auch mitteilen. Wenn er immer sofort etwas in den Mund bekommt, erhält er die Botschaft, dass das unerwünscht ist,“ erklärt Susanne. Okay, so habe ich das noch gar nicht gesehen.

Das Kind braucht Zeit alleine

Weil Benja so ein ausgeglichener Knirps ist, lasse ich ihn manchmal allein im Wohnzimmer liegen – sofern der große Bruder gerade keine Gefahr für ihn darstellt. Der probiert gern mal aus, ob er ihn schon tragen kann. Ich schaue so gut wie gar nicht auf die Uhr, sondern gestalte ganz normal meinen Tag mit dem Großen, der coronabedingt gerade monatelang zu Hause ist. Das Baby kommt einfach immer mit.

Oft liegt Benja mehr als eine Stunde zufrieden auf einer Decke im Garten oder Wohnzimmer und unterhält sich mit den Bäumen oder der Wand. Manchmal habe ich fast ein schlechtes Gewissen, dass sich so lange niemand mit ihm beschäftigt. Doch meine Hebamme bestärkt mich darin, einfach zu genießen, dass ihm das Liegen und Schauen schon ausreicht: „Es ist sogar wichtig für die Entwicklung der Kleinen, auch mal allein zu sein, ihre Umgebung wahrzunehmen und nicht ständig beschäftigt zu werden oder im Fokus zu sein.“ Den Spielebogen soll ich ihm frühestens mit sechs bis acht Wochen anbieten und dann auch immer nur mal für ein paar Minuten, um ihn nicht zu überfordern oder an zu viel Entertainment zu gewöhnen. Benja ist in diesen Spielzeug-Minuten tatsächlich immer völlig aus dem Häuschen und braucht danach eine Weile, um wieder runterzukommen. Sein liebstes Spielzeug sind schon seit Wochen seine kleinen Händchen und Füßchen.

Viel mehr Vertrauen – trotz weniger Aufmerksamkeit

Aus Gewohnheit biete ich ihm auch noch mit drei Monaten alle eineinhalb bis zwei Stunden die Brust an, wenn er meckert, so wie ich es aus seinen ersten Wochen kenne. Er trinkt meist ein paar Schluck, wendet sich dann ab und schreit oder verschluckt sich. Zuerst halte ich das für ganz normal. Aber als er ein paar Tage lang fast völlig das Trinken verweigert, frage ich meine Hebamme um Rat. Sie erklärt mir, dass Benja ein sicher gebundenes Kind ist und in diesem Alter höchstens alle drei bis vier Stunden Milch braucht. Nicht jedes Mal, wenn er an seinen Fingern lutsche, bedeute das, dass er Hunger habe. Ein echter Augenöffner für mich, und sobald ich ihren Rat beherzige, reguliert sich unsere Stillbeziehung wie von selbst. Erstaunlich, dass mein zweiter Sohn, der den Großteil des Tages mit sich allein auf einer Decke liegt, mehr Vertrauen zu haben scheint als mein erster, dem ich jedes Bedürfnis von den Augen abgelesen und sofort gestillt habe.

Corona schafft Routinen

Mit vier Monaten liegt Benjamin noch immer zufrieden auf seiner Decke. Natürlich nicht immerzu, er ist ein ganz normales Baby, das auch mal schreit. Doch der Corona-Lockdown bekommt ihm sehr gut. Immer dieselben Routinen und Umgebungen lassen ihn sich sicher und aufgehoben fühlen. Solange sein Bruder um ihn herum spielt und seine Eltern sich ihm zwischendurch immer mal zuwenden, ist seine kleine Welt im Lot.

Von meiner Hebamme lerne ich, dass es dem Kind auch Sicherheit vermittelt, wenn ich ihm jeweils nach etwa eineinhalb Stunden Wachphase wieder in den Schlaf helfe, sofern er nicht selbst dorthin findet. Jetzt mit vier Monaten könne es auch immer mal vorkommen, dass er dann schreit. Erstaunlich oft und immer wieder große Verwunderung bei unseren Freunden auslösend, schafft er es allerdings, ganz allein in den Schlaf zu finden. Seinen Nachtschlaf beginnt er, genau wie sein großer Bruder, gegen 21 Uhr, und dafür schläft er morgens auch bis acht oder neun (natürlich mit Stillunterbrechungen). Als Eltern können wir uns nicht über zu kurze Nächte beklagen. Manchmal frage ich mich, weshalb ich damals bei Antonin das Gefühl hatte, keine Zeit zu haben. Wenn ich jetzt nur Benjamin zu Hause hätte, hätte ich unglaublich viel Zeit für alles Mögliche.

Nachts schreien beide noch

Mein Dreijähriger wacht nachts immer mal auf und schreit dann fast wie ein Baby. Ich frage meine Hebamme, weshalb er das wohl tut. Sie vermutet, dass das damit zusammenhängt, dass wir immer sofort gesprungen sind und ihm etwas angeboten haben, wenn er sich als Baby gemeldet hat. Er habe dadurch noch nicht gelernt, sich selbst zu regulieren. Nachts greife er auf das Schreien zurück, um von uns reguliert zu werden. Auch Benja lassen wir natürlich nicht schreien, doch manchmal darf er sich ein bisschen beschweren und meckern, ohne dass wir ihm sofort etwas anbieten. Meist findet er einen seiner Finger und nuckelt daran, bis er sich wieder entspannen kann, oder ich rede ein bisschen mit ihm, was ihn auch schon beruhigt.

Inzwischen ist Benja ein halbes Jahr alt, Antonin geht wieder in die Kita und dem Kleinen ist es manchmal ein bisschen zu ruhig mit Mama allein. Dann bemühe ich mich um etwas Entertainment, versuche das aber in Grenzen zu halten und habe recht viel Zeit für anderes. Selten gibt es Situationen, die mich beunruhigen, was am gesunden, ausgeglichenen Wesen von Benja, aber sicher auch an meiner inneren Entspanntheit liegt. Davon hätte ich mir bei meinem Großen ein wenig mehr gewünscht.

Anna Koppri liebt es, Mama zu sein und sich nebenher Gedanken über Gott und die Welt zu machen, zum Beispiel auf ihrem Blog: liebenlernenblog.wordpress.com

Helikoptermutter? Erst bei ihrem zweiten Kind kann Anna entspannen

Anna Koppri liest ihrem ersten Sohn jeden Wunsch von den Lippen ab. Erst beim zweiten Kind merkt sie: Das kann ein Fehler sein.

Antonin, mein jahrelang ersehntes Wunschkind – endlich ist er da. Natürlich möchte ich alles richtig machen. Deshalb habe ich mich in der Schwangerschaft ausführlich mit dem Mutterwerden und bedürfnisorientierter Begleitung (das Wort Erziehung mochte ich noch nie) befasst. Ich beherzige den Rat meiner Hebamme: Messe täglich sechsmal seine Temperatur, notiere mir die Stillminuten an jeder Brust, Farbe und Konsistenz seiner Ausscheidungen. Beim Wickeln habe ich stets eine Hand auf dem Kind, damit es nicht vom Tisch purzelt.

Immer an der Seite des Kindes

Schon bald liegt er jeden Abend pünktlich um 19 Uhr in seinem Bettchen, um die „richtige Zeit zum Einschlafen“ zu verinnerlichen. Niemals würde ich ihn allein in einem Raum lassen, es sei denn er schläft gerade und das Babyfon ist eingeschaltet. Wenn mein Baby meckert, bin ich sofort zur Stelle, nehme es hoch, schuckle, biete Brust oder Schnuller an – schließlich möchte ich, dass er eine sichere Bindung zu mir bekommt. Einige meiner Rezeptoren sind stets mit meinem Baby verbunden, und so fällt es mir in den ersten Monaten sehr schwer, abzuschalten. Wandle ich durch die Wohnung, um etwas zu erledigen, wird das mit ziemlicher Sicherheit durch ein Bedürfnis des Kindes unterbrochen.

Glanzfolie und Glöckchen zur Beschäftigung

Sobald er etwas wacher ist, bemühe ich mich, meinen Sohn bestmöglich zu beschäftigen. Der Spielebogen steht eigentlich ununterbrochen über dem kleinen Geschöpf, das so neugierig alles aufsaugt, das man ihm bietet. Bald reichen ihm die drei Figuren, die da baumeln, nicht mehr aus. So hänge ich auf Anraten der Hebamme ständig neues Spielzeug über ihm auf: knisternde Glanzfolie, Glöckchen … Meinen Tagesablauf gestalte ich nach den Schlaf-, Wach- und Essenszeiten meines Babys. Gegen 17:30 Uhr weint er viel, um die Eindrücke des Tages zu verarbeiten, weshalb ich um diese Zeit stets mit ihm zu Hause bin. Das hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt. Ich dachte, ich könnte ihn überall hin mitnehmen.

Fast eine Helikoptermutter

Naja, ich bin in Elternzeit, und die ist schließlich dazu da, meine ganze Energie in das neue Leben zu stecken. Klar mache ich auch Dinge, die mir Spaß machen. Zum Beispiel verbringe ich fast den ganzen Sommer mit ihm am See. Meine Freunde würden wohl nicht auf die Idee kommen, ausgerechnet mich als Helikoptermutter zu beschreiben. Doch dieses Kind ist mein absoluter Fokus. Ich achte darauf, dass er in seinem ersten Jahr möglichst kein Körnchen Salz zu sich nimmt und auch kein Sonnenstrahl ihn direkt trifft. Sein Vater und ich, beide sehr freiheitsliebende Individualisten, bekommen eine ganze neue Verbindung durch den gemeinsamen Fokus auf unser Kind.

Das zweite Kind ändert alles

Drei Jahre später ist Antonins kleiner Bruder Benjamin da. Dieses Ereignis erleben wir wesentlich unaufgeregter als die Ankunft des Ersten. Wir sind zwar genauso verliebt in das kleine Wesen, doch beschäftige ich mich wesentlich weniger damit, was ich nun alles richtig oder falsch machen könnte. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr ich um mein erstes Baby gekreist bin. Ständig habe ich mir Gedanken gemacht, ob ihm zu kalt, zu warm oder etwa langweilig sein könnte. Ständig hatte ich dieses unbestimmte Gefühl, ein Bedürfnis zu übersehen oder ihm nicht gerecht zu werden. Ständig waren alle Augen und Erwartungen auf ihn gerichtet.

„Lass ihn ruhig meckern“

Mit meiner neuen Hebamme, die ich als tiefenentspannt und sehr ganzheitlich erlebe, lerne ich einiges, was ich gern schon bei Antonin gewusst hätte. Wir stehen am Wickeltisch, auf dem das neugeborene Menschlein liegt. Als Benjamin anfängt zu meckern, stecke ich routiniert meinen kleinen Finger in seinen Mund, um ihn zu beruhigen. „Lass ihn ruhig ein bisschen meckern. Das darf er, er möchte sich auch mitteilen. Wenn er immer sofort etwas in den Mund bekommt, erhält er die Botschaft, dass das unerwünscht ist,“ erklärt Susanne. Okay, so habe ich das noch gar nicht gesehen.

Das Kind braucht Zeit alleine

Weil Benja so ein ausgeglichener Knirps ist, lasse ich ihn manchmal allein im Wohnzimmer liegen – sofern der große Bruder gerade keine Gefahr für ihn darstellt. Der probiert gern mal aus, ob er ihn schon tragen kann. Ich schaue so gut wie gar nicht auf die Uhr, sondern gestalte ganz normal meinen Tag mit dem Großen, der coronabedingt gerade monatelang zu Hause ist. Das Baby kommt einfach immer mit.

Oft liegt Benja mehr als eine Stunde zufrieden auf einer Decke im Garten oder Wohnzimmer und unterhält sich mit den Bäumen oder der Wand. Manchmal habe ich fast ein schlechtes Gewissen, dass sich so lange niemand mit ihm beschäftigt. Doch meine Hebamme bestärkt mich darin, einfach zu genießen, dass ihm das Liegen und Schauen schon ausreicht: „Es ist sogar wichtig für die Entwicklung der Kleinen, auch mal allein zu sein, ihre Umgebung wahrzunehmen und nicht ständig beschäftigt zu werden oder im Fokus zu sein.“ Den Spielebogen soll ich ihm frühestens mit sechs bis acht Wochen anbieten und dann auch immer nur mal für ein paar Minuten, um ihn nicht zu überfordern oder an zu viel Entertainment zu gewöhnen. Benja ist in diesen Spielzeug-Minuten tatsächlich immer völlig aus dem Häuschen und braucht danach eine Weile, um wieder runterzukommen. Sein liebstes Spielzeug sind schon seit Wochen seine kleinen Händchen und Füßchen.

Viel mehr Vertrauen – trotz weniger Aufmerksamkeit

Aus Gewohnheit biete ich ihm auch noch mit drei Monaten alle eineinhalb bis zwei Stunden die Brust an, wenn er meckert, so wie ich es aus seinen ersten Wochen kenne. Er trinkt meist ein paar Schluck, wendet sich dann ab und schreit oder verschluckt sich. Zuerst halte ich das für ganz normal. Aber als er ein paar Tage lang fast völlig das Trinken verweigert, frage ich meine Hebamme um Rat. Sie erklärt mir, dass Benja ein sicher gebundenes Kind ist und in diesem Alter höchstens alle drei bis vier Stunden Milch braucht. Nicht jedes Mal, wenn er an seinen Fingern lutsche, bedeute das, dass er Hunger habe. Ein echter Augenöffner für mich, und sobald ich ihren Rat beherzige, reguliert sich unsere Stillbeziehung wie von selbst. Erstaunlich, dass mein zweiter Sohn, der den Großteil des Tages mit sich allein auf einer Decke liegt, mehr Vertrauen zu haben scheint als mein erster, dem ich jedes Bedürfnis von den Augen abgelesen und sofort gestillt habe.

Corona schafft Routinen

Mit vier Monaten liegt Benjamin noch immer zufrieden auf seiner Decke. Natürlich nicht immerzu, er ist ein ganz normales Baby, das auch mal schreit. Doch der Corona-Lockdown bekommt ihm sehr gut. Immer dieselben Routinen und Umgebungen lassen ihn sich sicher und aufgehoben fühlen. Solange sein Bruder um ihn herum spielt und seine Eltern sich ihm zwischendurch immer mal zuwenden, ist seine kleine Welt im Lot.

Von meiner Hebamme lerne ich, dass es dem Kind auch Sicherheit vermittelt, wenn ich ihm jeweils nach etwa eineinhalb Stunden Wachphase wieder in den Schlaf helfe, sofern er nicht selbst dorthin findet. Jetzt mit vier Monaten könne es auch immer mal vorkommen, dass er dann schreit. Erstaunlich oft und immer wieder große Verwunderung bei unseren Freunden auslösend, schafft er es allerdings, ganz allein in den Schlaf zu finden. Seinen Nachtschlaf beginnt er, genau wie sein großer Bruder, gegen 21 Uhr, und dafür schläft er morgens auch bis acht oder neun (natürlich mit Stillunterbrechungen). Als Eltern können wir uns nicht über zu kurze Nächte beklagen. Manchmal frage ich mich, weshalb ich damals bei Antonin das Gefühl hatte, keine Zeit zu haben. Wenn ich jetzt nur Benjamin zu Hause hätte, hätte ich unglaublich viel Zeit für alles Mögliche.

Nachts schreien beide noch

Mein Dreijähriger wacht nachts immer mal auf und schreit dann fast wie ein Baby. Ich frage meine Hebamme, weshalb er das wohl tut. Sie vermutet, dass das damit zusammenhängt, dass wir immer sofort gesprungen sind und ihm etwas angeboten haben, wenn er sich als Baby gemeldet hat. Er habe dadurch noch nicht gelernt, sich selbst zu regulieren. Nachts greife er auf das Schreien zurück, um von uns reguliert zu werden. Auch Benja lassen wir natürlich nicht schreien, doch manchmal darf er sich ein bisschen beschweren und meckern, ohne dass wir ihm sofort etwas anbieten. Meist findet er einen seiner Finger und nuckelt daran, bis er sich wieder entspannen kann, oder ich rede ein bisschen mit ihm, was ihn auch schon beruhigt.

Inzwischen ist Benja ein halbes Jahr alt, Antonin geht wieder in die Kita und dem Kleinen ist es manchmal ein bisschen zu ruhig mit Mama allein. Dann bemühe ich mich um etwas Entertainment, versuche das aber in Grenzen zu halten und habe recht viel Zeit für anderes. Selten gibt es Situationen, die mich beunruhigen, was am gesunden, ausgeglichenen Wesen von Benja, aber sicher auch an meiner inneren Entspanntheit liegt. Davon hätte ich mir bei meinem Großen ein wenig mehr gewünscht.

Anna Koppri liebt es, Mama zu sein und sich nebenher Gedanken über Gott und die Welt zu machen, zum Beispiel auf ihrem Blog: liebenlernenblog.wordpress.com

Wie Kinder zu ihren Rechten kommen

In Deutschland gibt es seit Jahren eine Diskussion darüber, ob die Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden sollen. Die Befürworter sehen darin unter anderem die Chance, das Kindeswohl zu stärken und die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Entscheidungen rechtlich abzusichern. Die Kritiker befürchten vor allem, dass die Rechte der Eltern zugunsten des Staates eingeschränkt werden. Wir haben zwei Menschen, die sich für Kinder und Familien engagieren, gefragt, welche Haltung sie vertreten.

Die Hintergründe

Vor gut 30 Jahren, im November 1989, wurde die UN-Konvention über die Rechte des Kindes verabschiedet. In den Jahren darauf haben – bis auf die USA – alle Mitgliedsländer der Vereinten Nationen diese Konvention für sich ratifiziert.

Zu den Kinderrechten gehören: das Recht auf Gleichheit, auf Gesundheit, Bildung, Spiel und Freizeit, freie Meinungsäußerung und Beteiligung, Schutz vor Gewalt, Zugang zu Medien, Schutz der Privatsphäre und Würde, Schutz im Krieg und auf der Flucht sowie besondere Fürsorge und Förderung bei Behinderung.

Seit Jahren gibt es nun in Deutschland das konkrete Bestreben, die Kinderrechte auch im Grundgesetz zu verankern. Dafür engagieren sich besonders Organisationen wie UNICEF Deutschland, der Deutsche Kinderschutzbund, das Deutsche Kinderhilfswerk und die Deutsche Liga für das Kind.
Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die aktuelle Legislaturperiode enthält im Kapitel „Familie“ die Formulierung: „Wir werden Kinderrechte im Grundgesetz ausdrücklich verankern. Kinder sind Grundrechtsträger, ihre Rechte haben für uns Verfassungsrang. Wir werden ein Kindergrundrecht schaffen. Über die genaue Ausgestaltung sollen Bund und Länder in einer neuen gemeinsamen Arbeitsgruppe beraten und bis spätestens Ende 2019 einen Vorschlag vorlegen.“

Diese Arbeitsgruppe hat bis Oktober 2019 verschiedene Optionen erarbeitet, wie die Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden können. Dabei geht es im Wesentlichen um eine Ergänzung des Artikels 6. Darin heißt es bisher: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.“

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht hat daraufhin einen Gesetzentwurf vorgelegt, der vorsieht, folgenden Absatz im Artikel 6 zu ergänzen: „Jedes Kind hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Grundrechte einschließlich seines Rechts auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft. Das Wohl des Kindes ist bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen. Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte unmittelbar betreffen, einen Anspruch auf rechtliches Gehör.“

Dieser Entwurf geht den Befürwortern nicht weit genug, den Kritikern geht er zu weit. Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis hier eine Lösung gefunden wird.

Bettina Wendland

 

„NICHT ABSCHÄTZBARE FOLGEN“

Rebekka Hofmann sorgt sich, dass eine Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz Folgen für die Freiheit und Verantwortung der Eltern haben könnte.

Kinderrechte ins Grundgesetz – könnte dies ein Türöffner sein, das bisher ausgewogene Verhältnis zwischen der grundlegenden Verantwortung von Eltern und der Wächterfunktion des Staates zulasten der Familien zu verändern?

Verantwortung der Eltern

Als Mutter von drei Kindern, geht es mir – hier spreche ich stellvertretend für viele Eltern – um die Pflicht und Verantwortung zur Erziehung meiner Kinder, der ich mit meinem Mann persönlich nachkommen möchte. Meines Erachtens gibt mir der Artikel 6 in unserem Grundgesetz die Freiheit und auch die Rechtsgrundlage dazu, und so hinterfrage ich die Notwendigkeit zur Aufnahme von Kinderrechten im Grundgesetz. Auch Experten einzelner Juristenverbände weisen eindringlich darauf hin, dass die Wächterfunktion des Staates gegenüber Eltern, die ihre Pflichten und ihre Verantwortung – aus welchen Gründen auch immer – nicht wahrnehmen können oder wollen, bereits jetzt verfassungsrechtlich abgesichert ist. Deren Umsetzung muss eher durch Veränderungen von Rahmenbedingungen verbessert werden als durch eine Ergänzung von Kinderrechten. Deutschland sollte auch nicht aufgrund der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 mit Ländern verglichen werden, in denen bisher nicht einmal Menschenrechte geachtet werden und Kinder aus diesem Grund ganz offensichtlich dringend erweiterten, rechtlichen Schutz benötigen.

Die Forderung, „die Lufthoheit über den Kinderbetten zu erobern“, die Olaf Scholz 2002 angesichts des Ausbaus der Kinderbetreuung geäußert hat, lässt mich aufhorchen und ahnen, dass es beim Thema Kinderrechte um weit mehr geht als darum, ein gefährdetes Kindeswohl demnächst zuverlässiger abwenden zu können. Ein Beispiel: Wir haben unsere Kinder aus Überzeugung in den ersten drei Lebensjahren zu Hause betreut und sehen diese Freiheit in Zukunft gefährdet. Denn ein so genanntes Kinderrecht auf Bildung könnte die Einführung einer KiTa- oder sogar Krippenpflicht zur Folge haben. Werden wir Eltern uns dann als „Bildungsverweigerer“ unserer Kinder verantworten müssen? Wie viel Freiheit und Mündigkeit werden uns in den Entscheidungen für die Belange unserer Kinder noch zugestanden? Welche Erziehungsfehler sind noch tolerierbar und als rein menschlich begründet anzusehen? An welchem Punkt gelten Eltern als verantwortungslos, und wer entscheidet darüber?

Einfluss des Staates

In Norwegen sind Kinderrechte schon länger gesetzlich verankert. Neben den positiven Folgen resultiert daraus leider auch die Zunahme von Inobhutnahmen durch die Kinderschutzbehörde Barnevernet, und es wird vermehrt in Familien eingegriffen und Kinder aufgrund nicht oder kaum nachvollziehbarer Gründe von ihren Eltern getrennt.

Hier geht es nicht um die von der UN geforderten Grundrechte für Kinder, die bereits in unserem Grundgesetz verankert sind, sondern um die zum jetzigen Zeitpunkt für uns nicht abschätzbaren Folgen, die ein weiter verstärkter Einfluss des Staates mithilfe der Kinderrechte auf das Familienleben in unserem Land haben könnte. Dass dann auch intakte Familien durch ein gezieltes Aushebeln der Elternrechte betroffen sein könnten, ist nicht auszuschließen. Das sehe ich problematisch.
Schon mehrfach wurde diese Thematik in unseren Regierungen debattiert. Und es wird sicherlich nicht das letzte Mal gewesen sein. Deshalb möchte ich ermutigen, wachsam zu bleiben und genau hinzuschauen, welche Bestrebungen den Familien und damit auch den Kindern in unserem Land wirklich dienen.

Rebekka Hofmann hat mit ihrem Mann drei Kinder. Sie ist Mitgründerin von Nestbau e.V.. Der Chemnitzer Verein informiert, berät und unterstützt Eltern, die ihre Kinder in den ersten drei Jahren gern selbst betreuen wollen. www.nestbau-familie.de

 

„KINDER MÜSSEN IN DEN FOKUS GESTELLT WERDEN“

Bernd Siggelkow plädiert dafür, die Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, damit vor allem benachteiligte Kinder stärker gehört werden.

Kinderrechte gehören ins Grundgesetz, denn die dortige Verankerung macht daraus eine moderne, zukunftsorientierte Verfassung und setzt gleichzeitig ein Zeichen, welche Bedeutung Kindern und Jugendlichen und deren Belangen in Deutschland beigemessen wird. Natürlich möchte ich als Gründer und auch Leiter einer Kinder- und Jugendeinrichtung die Rechte der Eltern innerhalb ihrer Familie nicht beschneiden. Unsere Kinder sind aber keine kleinen Erwachsenen, und deswegen sollten und müssen ihre Rechte gestärkt werden.

Ein immer wiederkehrendes Gegenargument ist der Hinweis, dass Kinder bereits durch ihr Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Artikel 2 Absatz 1 im Grundgesetz geschützt seien. Dieser Passus reicht aber bei weitem nicht aus. Das hat auch damit etwas zu tun, dass hier nicht ausdrücklich ausgesprochen wird, welche spezifischen Rechte Kinder in Deutschland haben, etwa dass ihr Wohl bei sämtlichen Maßnahmen, die sie betreffen, vorrangig zu berücksichtigen ist und dass Kinder in solchen Fällen beteiligt werden müssen. Es besteht daher ein enormer Bedarf, die bereits bestehenden Kinderrechte im Grundgesetz zu stärken.

Keine Lobby

Kinder müssen in unserem Land endlich in den Fokus gestellt werden, denn die einzigen Ressourcen, die wir in Deutschland haben, sind unsere Kinder. Wir in den Archen treffen täglich auf Kinder und Jugendliche, die in fast allen Belangen benachteiligt werden. Das sind Kinder, die aufgrund ihrer Herkunft nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen dürfen, denn sie kommen zumeist aus prekären Familienverhältnissen. Viele unserer Kinder sind nicht einmal mehr in der Lage, ihre Schulaufgaben zu machen, denn es fehlt an Tablets und Laptops. In den Schulen ohne einflussreiche Förderkreise gibt es zudem kein Geld für zeitgemäße Technik. Die Kinder lernen wie zu Omas Zeiten.

Keiner beschwert sich darüber, denn diese Kinder haben keine Lobby. Auch scheitern viele Kinder in den Schulen schon an einfachen Herausforderungen, wie zum Beispiel dem Lesen und Schreiben. Der Lehrkörper richtet sich nach den Schülerinnen und Schülern, die ohne Probleme dem Lehrstoff folgen können. So haben wir es später mit hunderttausenden jungen, funktionalen Analphabeten zu tun. Menschen also, die nicht wirklich lesen und schreiben können.

Außerhalb der Gesellschaft

Würden Kinderrechte im Grundgesetz verankert sein, könnten Eltern und Kinder den Staat verklagen, weil der seiner Ausbildungspflicht nicht nachkommt. Ich könnte jetzt zahlreiche weitere Punkte aufzählen, aber dafür reicht bei weitem der Platz nicht. Doch eine weitere Sache brennt mir noch auf der Seele. Viele unserer Arche-Besucher, auch die älteren Jugendlichen, waren noch nie in einem Restaurant, noch nie in einem Theater oder Kino. Urlaub, zum Beispiel eine Auslandsreise – davon dürfen unsere Kinder nur träumen. Und so wachsen sie Jahr für Jahr außerhalb unserer Gesellschaft auf.

Vor einige Wochen schenkte ein langjähriger Arche-Unterstützer einem 17-jährigen Mädchen für deren Familie einen Gutschein für einen Restaurantbesuch. Das Mädchen war sehr verunsichert und fragte mich: „Du Bernd, was muss ich damit machen, muss ich das jetzt irgendwo anmelden?“ Sie war noch nie in einem Restaurant. Das Mädchen kann übrigens sehr gut lernen und macht gerade Abitur, eine Ausnahme unter den Kindern der Arche. Aber sie wusste nicht, wie man außerhalb ihrer vier Wände essen geht. So etwas macht mich sehr traurig. Wenn ich könnte, würde ich rechtliche Schritte gegen den Staat einleiten, weil er hunderttausende Jugendliche einfach vergisst. Kämpfen wir gemeinsam für mehr Rechte unserer Kinder!

Bernd Siggelkow ist Vater von sechs Kindern. Er ist Gründer und Leiter des Kinderhilfswerks Arche, das in Deutschland, Polen und der Schweiz an 28 Standorten Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Verhältnissen fördert und unterstützt, www.kinderprojekt-arche.de.

„Alle lieb, keine blieb.“

Erst hieß sie Maria, dann hieß sie Monica, dann Christina oder war es Karina? Sophie, Gabi, Katharina, Eva, Anne-Marie, Irina, Birgit, Ramona, Renate … Manche blieben kurz, manche länger, manche sprachen deutsch, manche nicht, manche waren jung, manche älter, manche blond, manche braunhaarig … Nein, es geht nicht um die Liebhaberinnen eines jungen Mannes. Es sind die Bezugspersonen unserer Kinder in einer Münchner KiTa. Die Namen sind selbstverständlich erfunden. Die Zahlen und die Fakten leider nicht.

Die Münchner KiTa, die die kleine Lilly (auch dieser Name ist erfunden) aufgenommen hat, eröffnete im April 2014. Mit viel Hoffnung und zwölf neuen Kindern, die zum ersten Mal die Wärme und Geborgenheit ihrer Familie verließen. Zwölf zarte Kinder, die erst zehn Minuten, dann 30 Minuten, dann zwei Stunden, dann fünf, acht oder gar neun Stunden ganz allein ohne Mama und ohne Papa den halben Tag bei zwei für sie „fremden Wesen“ blieben. Liebevoll haben diese „Wesen“ die zwölf Kinder „eingewöhnt“, aufgenommen, gewickelt, gekitzelt, ihnen Butterbrötchen geschmiert und das Schnitzel kleingeschnitten, haben mit ihnen gekuschelt, gespielt, ihnen vorgesungen, vorgelesen, ihre Hand gehalten, damit sie einschlafen, ihre Stirn gekühlt, jedes Mal wenn sie gestürzt sind. Noch dazu haben sie ihren Eltern täglich ganz Tolles über ihre süßen Krümelchen berichtet und ihnen Tipps und Anregungen gegeben. Diese leistungsstarken, verantwortungsvollen, geborgenheitsschenkenden, wunderbaren Wesen heißen auf Deutsch „Erzieherinnen“ und „Kinderpflegerinnen“. Und die Geschichte klingt märchenhaft schön.

Auch die kleine Lilly hatte zwei liebe Bezugspersonen: eine Erzieherin und eine Kinderpflegerin. Und dann zwei neue. Von ihnen blieb nur eine. Sie wurden wieder zwei. Dann blieb wieder nur eine. Dann keine. Doch wieder zwei. Elf wurden sie insgesamt. Elf unterschiedliche „Ersatzmamis“ hatte die kleine Lilly — und dies innerhalb von eineinhalb Jahren.

In dieser KiTa geht es bei den Fachkräften merkwürdigerweise zu wie im Vogelschlag. Alle paar Monate entdecken die Kinder in der KiTa neue Gesichter. Mit neuen Liedern, neuen Spielen, neuem Geruch, neuen Armen zum Kuscheln, neuen Stimmen zum Vorlesen, neuen Bastelideen, neuen Persönlichkeiten … Alle lieb, aber keine blieb. Es stimmt nicht so ganz: Einigen wurde gekündigt, andere kündigten, aber fünf blieben doch in der KiTa, wurden einfach in die neu eröffneten Gruppen versetzt. Nach dem Motto „rechte Tasche, linke Tasche, vielleicht wird das Geld dadurch mehr“. Personalmangel? Unverträglichkeiten zwischen Kollegen? Konflikte mit Eltern? Unruhige Kinder? Oder irgendwelche anderen Schwierigkeiten? Alles lässt sich mit Versetzung oder Kündigung blitzschnell lösen! Zeit und Geduld, Dialog, Beratung, Supervision: Das ist doch alles passé!

„Bin ich schuld?“, denkt sich die kleine Lilly. Kinder beziehen eben alles auf sich.

Wer ist schuld? Die Erzieherin, die einen besseren Job gefunden hat? Nein. Die KiTa-Leitung, die noch unerfahren ist? Nein. Vielleicht der Träger? Nein, denn er findet kein Personal. Die Stadt München? Nein, denn „das Problem ist auf den in Deutschland herrschenden Fachkräftemangel zurückzuführen“. Das bayerische Staatsministerium? Frau Merkel? Die Europäische Kommission? Niemand fühlt sich verantwortlich. Jeder denkt an seine eigenen Interessen. Und keiner denkt an die kleine Lilly.

Sprachförderung, mathematische Früherziehung, naturwissenschaftliche Früherziehung, Vorbereitung auf Lesen und Schreiben, Singen und Musizieren, musikalische Früherziehung, bildnerisches Gestalten, sportliche Früherziehung — all das sollen unsere Kinder bis zum Schuleintritt können. Und freies Spiel. Mit so genannten Entwicklungsfragebögen wird geprüft, ob sie alles rechtzeitig geschafft haben. Somit ist eine leistungsfähige Jugend für die Zukunft des Landes gesichert. Sie müssen uns ja immerhin bei der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf unterstützen und unsere Renten zahlen. Wenn man früh genug anfängt, kann man mehr erreichen.

Nur die emotionelle Früherziehung steht nicht auf der Liste des Bundesministeriums: Bindung und Geborgenheit, Vertrauen aufbauen, zwischenmenschliche Probleme durchstehen können, Konflikte lösen, aufeinander achten, anderen zuhören, sich trauen, eine eigene Meinung zu haben, die eigenen Gefühle verständlich ausdrücken, tiefe langfristige Beziehungen bauen. Das müsste man auch üben und trainieren, genauso wie 1+1 und Hände waschen. Dafür sind die Ersatzmamis gezwungen, auf ihre eigene Erfahrung zurückzugreifen und ihrem eigenen Instinkt zu folgen. Denn es gibt keine entsprechende PDF-Datei zum Download auf der Seite des Bundesministeriums für Bildung. Emotionelle Entwicklung ist selbstverständlich und sie muss zwischendurch erfolgen, weil das pädagogische Programm schon voll ist.

Nun wollte die kleine Lilly einfach mit ihren Freunden spielen, während die nette Ersatzmami im gleichen Raum das Obst klein schneidet und den Tisch deckt. Es ist ja so gemütlich … Das wurde ihr aber nicht gegönnt. Fast wie das Kinderlied, dass Lilly gerade in der KiTa lernt: „Meine Ersatzmami ist verschwuuunden, ich habe keine Ersatzmami meeehr. Ach, da ist eine neue wieder, trala lala lala laaa …“

Warum versuchen wir, den Kindern mühevoll alles beizubringen? Am Ende werden sie sowieso das tun, was sie von uns sehen. Was lernt die kleine Lilly aus so einer Erfahrung? Sich nicht auf Mitmenschen zu verlassen; keine Versprechen zu halten; nur an sich selber denken; Probleme zu umgehen, anstatt sie anzusprechen und zu lösen; sich anpassen und bloß nicht zu viel Persönlichkeit zeigen; gute Leistung bringen, um beliebt zu werden. Diese erworbenen Eigenschaften, zusammen mit dem „pädagogischen Angebot“, werden unsere Ellenbogengesellschaft bestimmt bereichern.

Marina Varouta, Mama einer 2,5-Jährigen und Lehrerin für musikalische Früherziehung und Klavier