„Alle lieb, keine blieb.“

Erst hieß sie Maria, dann hieß sie Monica, dann Christina oder war es Karina? Sophie, Gabi, Katharina, Eva, Anne-Marie, Irina, Birgit, Ramona, Renate … Manche blieben kurz, manche länger, manche sprachen deutsch, manche nicht, manche waren jung, manche älter, manche blond, manche braunhaarig … Nein, es geht nicht um die Liebhaberinnen eines jungen Mannes. Es sind die Bezugspersonen unserer Kinder in einer Münchner KiTa. Die Namen sind selbstverständlich erfunden. Die Zahlen und die Fakten leider nicht.

Die Münchner KiTa, die die kleine Lilly (auch dieser Name ist erfunden) aufgenommen hat, eröffnete im April 2014. Mit viel Hoffnung und zwölf neuen Kindern, die zum ersten Mal die Wärme und Geborgenheit ihrer Familie verließen. Zwölf zarte Kinder, die erst zehn Minuten, dann 30 Minuten, dann zwei Stunden, dann fünf, acht oder gar neun Stunden ganz allein ohne Mama und ohne Papa den halben Tag bei zwei für sie „fremden Wesen“ blieben. Liebevoll haben diese „Wesen“ die zwölf Kinder „eingewöhnt“, aufgenommen, gewickelt, gekitzelt, ihnen Butterbrötchen geschmiert und das Schnitzel kleingeschnitten, haben mit ihnen gekuschelt, gespielt, ihnen vorgesungen, vorgelesen, ihre Hand gehalten, damit sie einschlafen, ihre Stirn gekühlt, jedes Mal wenn sie gestürzt sind. Noch dazu haben sie ihren Eltern täglich ganz Tolles über ihre süßen Krümelchen berichtet und ihnen Tipps und Anregungen gegeben. Diese leistungsstarken, verantwortungsvollen, geborgenheitsschenkenden, wunderbaren Wesen heißen auf Deutsch „Erzieherinnen“ und „Kinderpflegerinnen“. Und die Geschichte klingt märchenhaft schön.

Auch die kleine Lilly hatte zwei liebe Bezugspersonen: eine Erzieherin und eine Kinderpflegerin. Und dann zwei neue. Von ihnen blieb nur eine. Sie wurden wieder zwei. Dann blieb wieder nur eine. Dann keine. Doch wieder zwei. Elf wurden sie insgesamt. Elf unterschiedliche „Ersatzmamis“ hatte die kleine Lilly — und dies innerhalb von eineinhalb Jahren.

In dieser KiTa geht es bei den Fachkräften merkwürdigerweise zu wie im Vogelschlag. Alle paar Monate entdecken die Kinder in der KiTa neue Gesichter. Mit neuen Liedern, neuen Spielen, neuem Geruch, neuen Armen zum Kuscheln, neuen Stimmen zum Vorlesen, neuen Bastelideen, neuen Persönlichkeiten … Alle lieb, aber keine blieb. Es stimmt nicht so ganz: Einigen wurde gekündigt, andere kündigten, aber fünf blieben doch in der KiTa, wurden einfach in die neu eröffneten Gruppen versetzt. Nach dem Motto „rechte Tasche, linke Tasche, vielleicht wird das Geld dadurch mehr“. Personalmangel? Unverträglichkeiten zwischen Kollegen? Konflikte mit Eltern? Unruhige Kinder? Oder irgendwelche anderen Schwierigkeiten? Alles lässt sich mit Versetzung oder Kündigung blitzschnell lösen! Zeit und Geduld, Dialog, Beratung, Supervision: Das ist doch alles passé!

„Bin ich schuld?“, denkt sich die kleine Lilly. Kinder beziehen eben alles auf sich.

Wer ist schuld? Die Erzieherin, die einen besseren Job gefunden hat? Nein. Die KiTa-Leitung, die noch unerfahren ist? Nein. Vielleicht der Träger? Nein, denn er findet kein Personal. Die Stadt München? Nein, denn „das Problem ist auf den in Deutschland herrschenden Fachkräftemangel zurückzuführen“. Das bayerische Staatsministerium? Frau Merkel? Die Europäische Kommission? Niemand fühlt sich verantwortlich. Jeder denkt an seine eigenen Interessen. Und keiner denkt an die kleine Lilly.

Sprachförderung, mathematische Früherziehung, naturwissenschaftliche Früherziehung, Vorbereitung auf Lesen und Schreiben, Singen und Musizieren, musikalische Früherziehung, bildnerisches Gestalten, sportliche Früherziehung — all das sollen unsere Kinder bis zum Schuleintritt können. Und freies Spiel. Mit so genannten Entwicklungsfragebögen wird geprüft, ob sie alles rechtzeitig geschafft haben. Somit ist eine leistungsfähige Jugend für die Zukunft des Landes gesichert. Sie müssen uns ja immerhin bei der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf unterstützen und unsere Renten zahlen. Wenn man früh genug anfängt, kann man mehr erreichen.

Nur die emotionelle Früherziehung steht nicht auf der Liste des Bundesministeriums: Bindung und Geborgenheit, Vertrauen aufbauen, zwischenmenschliche Probleme durchstehen können, Konflikte lösen, aufeinander achten, anderen zuhören, sich trauen, eine eigene Meinung zu haben, die eigenen Gefühle verständlich ausdrücken, tiefe langfristige Beziehungen bauen. Das müsste man auch üben und trainieren, genauso wie 1+1 und Hände waschen. Dafür sind die Ersatzmamis gezwungen, auf ihre eigene Erfahrung zurückzugreifen und ihrem eigenen Instinkt zu folgen. Denn es gibt keine entsprechende PDF-Datei zum Download auf der Seite des Bundesministeriums für Bildung. Emotionelle Entwicklung ist selbstverständlich und sie muss zwischendurch erfolgen, weil das pädagogische Programm schon voll ist.

Nun wollte die kleine Lilly einfach mit ihren Freunden spielen, während die nette Ersatzmami im gleichen Raum das Obst klein schneidet und den Tisch deckt. Es ist ja so gemütlich … Das wurde ihr aber nicht gegönnt. Fast wie das Kinderlied, dass Lilly gerade in der KiTa lernt: „Meine Ersatzmami ist verschwuuunden, ich habe keine Ersatzmami meeehr. Ach, da ist eine neue wieder, trala lala lala laaa …“

Warum versuchen wir, den Kindern mühevoll alles beizubringen? Am Ende werden sie sowieso das tun, was sie von uns sehen. Was lernt die kleine Lilly aus so einer Erfahrung? Sich nicht auf Mitmenschen zu verlassen; keine Versprechen zu halten; nur an sich selber denken; Probleme zu umgehen, anstatt sie anzusprechen und zu lösen; sich anpassen und bloß nicht zu viel Persönlichkeit zeigen; gute Leistung bringen, um beliebt zu werden. Diese erworbenen Eigenschaften, zusammen mit dem „pädagogischen Angebot“, werden unsere Ellenbogengesellschaft bestimmt bereichern.

Marina Varouta, Mama einer 2,5-Jährigen und Lehrerin für musikalische Früherziehung und Klavier

 

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