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WG der Eigenheiten – Warum wir nie allein am Tisch sitzen

Am Esstisch nehmen nicht nur die Familienmitglieder Platz. Prägungen aus früheren Generationen sind immer stille Mitbewohner. Manchmal sind es lustige Eigenheiten, manchmal dunkle Schatten, die besser in den Keller gehören. Von Sandra Geissler

Als ich vor vielen Jahren mein Herz an meinen Mann verlor, begannen wir unsere Geschichte, unsere Geschichten und unsere Mahlzeiten zu teilen. Dabei fiel mir eine kuriose Marotte des werdenden Gatten auf. Belegte er sich Brot oder Brötchen, dann schnitt er mit der Akkuratesse eines Hirnchirurgen alles Überstehende ab, bis Belag und Schnitte fein säuberlich Kante auf Kante saßen. So eine Brotbelegungstechnik hatte ich tatsächlich noch nie gesehen.

Einige Zeit später lernte ich den Cousin des Zukünftigen aus dem Norden der Republik kennen und beim Frühstück starrte ich ihn entgeistert an. Da saß er doch, beschnitt seine Käsescheibe und richtete die Gurkenscheiben aus, als wolle er einen Fliesenboden verlegen. Exakt die gleichen Handbewegungen, der gleiche hochkonzentrierte Gesichtsausdruck, die gleiche Schnitttechnik. Seither frage ich mich, welcher Vorfahr vor wie vielen hundert Jahren diese kleine Eigenheit mit ins Leben brachte und sie seither an der ein oder anderen Verästelung des Stammbaumes hervorblitzen lässt.

Dauergäste im Tarnumhang

Heiratet man einen Menschen, dann heiratet man nicht nur seine Art und Weise, ein Brot zu belegen. Man heiratet auch die Menschen seines Lebens, die Geschichte und Geschichten einer Familie, geschrieben über Generationen, ihre Werte und Rituale, ihre Seltsamkeiten und kuriosen Eigenschaften. Sie folgen unserem Lebenslauf, sind verflochten mit Begegnungen, Berufungen und Bedürfnissen. Ein Flechtwerk eingewoben in unsere Herzen, ein Netzwerk aus Prägungen, Erfahrungen und Erinnerungen. Sie sind nicht in Umzugskisten verpackt, nicht klobig sichtbar wie die alte Regalwand aus Kindertagen und werden nicht in einem Sack mit den Klamotten ins gemeinsame Heim getragen. Vielmehr sind es Dauergäste im Tarnumhang, unsichtbare Gepäckstücke des Lebens, über die man hin und wieder stolpert, weil sie an den unpassendsten Stellen im Weg rumstehen, mal klobig und sperrig, mal liebevoll, heiter und weich, wie eine Umarmung. Weil auf diese Weise jeder viele und vieles ist, ist es eine große bunte Gesellschaft, die sich schließlich zusammenfindet und immer was zu sagen hat. Diese Mitbewohner eines jeden Zuhauses zahlen keine Miete, beanspruchen keinen Schlafplatz und keinen eigenen Zahnputzbecher, aber sie gestalten und prägen das Zusammenleben der sichtbaren Menschen munter mit. Sie haben Einfluss auf unsere Art zu streiten und wie wir uns gernhaben. Sie mogeln verjährte Ungerechtigkeiten aus Kindertagen in die tagesaktuelle Schmutzwäsche, legen Reißzwecken alter Empörung aufs Sitzkissen und schaffen es so mühelos, eine kleine Meinungsverschiedenheit in einen handfesten Krach zu verwandeln.

Vorliebe für Quittengelee

Manchmal erinnern sie uns an alte Rituale, die schon immer Trost spendeten, an das Käsekuchenrezept von Tante Lise zum Essen an jedem Ostermontag, an die generationenerprobte Fähigkeit, beizeiten über sich selbst zu lachen. Vielleicht erkennst du im Lächeln deines Kindes das freundliche Gesicht deiner Oma wieder, einen Hang zum Starrsinn in deinem Handeln, weitergegeben wie Opas altes Tintenfass. Vielleicht brennt ein Feuer für Gerechtigkeit schon seit Generationen in euren Herzen, gleich neben der seltsamen Vorliebe für saure Heringe und Quittengelee.

All diese Unsichtbarkeiten leben mit uns und in uns, in unseren Kindern und Kindeskindern, mischen sich ein und mischen auf und manches Mal, wenn sie es gar zu bunt treiben, müssen sie zur Räson gebracht werden. Es ist nicht immer einfach, mit all den Gestalten und Gepäckstücken zu leben. Manche von ihnen sind so gut getarnt, dass man wirklich genau hinspüren muss, wer oder was sich da gerade zu Wort meldet. Dann stehen wir mitten im Streit, in einem Kummer oder einer scheinbaren Harmlosigkeit und wundern uns, warum unser Gegenüber, das wir zu kennen glaubten, reagiert, wie es reagiert.

Dem Schatten die Tür weisen

Es kommt nicht selten vor, dass die wunderbare bunte Truppe der Mitbewohner einige echte Störenfriede unter sich hat, Rucksäcke voll mit schwerwiegenden Erinnerungen, Trauer und Not. Die stehen nicht irgendwo im Keller des Lebens rum, sondern wiegen schwer auf den Schultern, scheuern Rücken und Seele auf und machen das Zusammenleben für alle zur Qual. Dann wird es höchste Zeit, sich zu lösen, sich freizumachen, einen neuen Ort für altes Gepäck zu suchen. Dafür darf man sich nicht nur Zeit, sondern auch Hilfe nehmen.

Wir müssen nicht jeden und alles ertragen, mit manchen lässt sich Frieden schließen und manchem Schatten muss man beherzt die Tür weisen. Manch tradierte Eigenheit ist eine Belastung, die niemand mehr tragen will. Dafür muss man sie sichtbar machen, ansprechen und aussprechen. Wenn Jähzorn schon seit Generationen in einer Familie zu Hause ist, dann darf er trotzdem nicht bleiben. Wenn Schläge die Sprache der Vorfahren waren, dann sind sie dennoch keine angebrachte Kommunikationsform mehr. Und wenn es auch ein ganz und gar undramatisches Erbstück ist, das du einfach nicht mehr haben willst, dann weg damit.

Augenzwinkern aus der Ewigkeit

Diese bunte Wohngemeinschaft des Lebens ist ein großartiges, wohldurchdachtes Netzwerk. Als Christin glaube ich, dass Gott uns nicht aus dem Nichts ins Nichts gestellt hat. Unsere Geschichte und unsere Geschichten, unsere Eigenarten und Besonderheiten sind miteinander und ineinander verflochten, eingewoben in das große Buch der Menschheitsgeschichte. Ein Netzwerk, das beflügelt und Halt gibt, das uns bereichern und bestärken kann. Es verknüpft Gegenwärtiges mit dem Vergangenen, das Diesseits mit dem Jenseits. Und plötzlich merkst du, dass die Art, wie deine Tochter sich das Haar aus der Stirn streicht, die Lachfältchen um die Augen deines Mannes und deine Begeisterung für blühende Gärten einem Augenzwinkern aus der Ewigkeit gleicht. Ein Augenzwinkern, das spricht: „Ich bin noch da, bin noch bei euch und lebe in euch weiter.“

Manchmal sitze ich beim Abendessen und beobachte mit großem Vergnügen, wie eines unserer Kinder sein Brot belegt. Mit der Akkuratesse eines Hirnchirurgen und der Genauigkeit eines Fliesenlegers, Belag auf Schnitte, Kante auf Kante.

Sandra Geissler ist katholische Diplomtheologin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Nierstein am Rhein und bloggt unter 7geisslein.com.

7 kreative Ideen, den Großeltern trotz Abstand nahe zu sein

Der Kinderarzt Dr. Harvey Karp hat sieben kreative Möglichkeiten zusammengetragen, wie Großeltern und Enkel sich trotz aller Corona-Einschränkungen und Vorsichtsmaßnahmen nahe fühlen können.

1 Eine Umarmung per Post verschicken

Dieser Tipp lädt die Kinder zum Basteln ein: Zunächst ein großes Stück Papier, z.B. eine auseinandergeklappte Einkaufstüte auf den Boden legen. Das Kind legt sich mit ausgebreiteten Armen auf das Papier und Mama oder Papa zeichnen die Körperumrisse nach. Im Anschluss kann das Kind den Körper ausmalen. Das ist besonders für kleine Kinder eine lustige Aktivität. Am Ende das Papier zusammenfalten, mit einer Notiz versehen, dass es sich um eine Umarmung aus der Ferne handelt und mit der Post an die Großeltern versenden.

2 Handgeschriebene Karte oder Brief

Selbst wenn die Worte falsch geschrieben sind, eine Karte oder ein Brief von den Enkeln im Postkasten erfreut Oma und Opa immer. Beim Briefeschreiben üben Kinder nicht nur die korrekte Rechtschreibung, sondern lernen dabei auch, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Kinder, die noch nicht schreiben können, können ihren Eltern diktieren, was sie den Großeltern mitteilen möchten und den Brief mit ihrem Handabdruck “unterzeichnen”. 

3 Interview mit den Großeltern

Die Großeltern haben in ihrem Leben schon viel erlebt. Oftmals wissen die Enkel jedoch gar nicht, was Oma und Opa eigentlich einmal gearbeitet haben oder wo sie aufgewachsen sind. Gemeinsam mit den Eltern können sich Kinder eine Liste interessanter Fragen über das Leben von Oma und Opa ausdenken. Anschließend spielen die Enkel Reporter und  interviewen die Großeltern per Telefon oder Video-Chat. 

4 Besuche am Gartenzaun

Für Familien, die nahe bei den Großeltern leben, könnte ein spontaner Besuch am Gartenzaun, bei dem jeder mindestens zwei Meter Abstand hält, eine schöne Überraschung sein. Auch wenn Umarmungen und Küsse nicht erlaubt sind, können sich zumindest alle für eine kurze Zeit persönlich sehen.

5 Gute-Nacht-Geschichte

Kleine Kinder lieben es, wenn ihnen vorgelesen wird. Also einfach mal das Telefon oder Tablet zur Schlafenszeit mit ins Bett nehmen und Oma oder Opa die Lieblingsgeschichte vorlesen lassen. Großeltern können das Vorlesen auch als Video- oder Audio-Datei aufnehmen: Auf diese Weise können die Enkel sich ihre Lieblingsgeschichte oder einfach die Stimme von Oma oder Opa immer und immer wieder anhören. 

6 Basteln, backen oder ein Brettspiel spielen – per Videotelefonie

Manche Kinder (und Großeltern!) sitzen nicht gerne vor dem Bildschirm und reden einfach nur. Stattdessen können Enkel mit Oma und Opa etwas gemeinsam machen. Mit ein wenig Planung können Kinder und Großeltern zusammen basteln, ein Brettspiel spielen und sogar backen. Dazu alle benötigten Materialien bereit stellen und Oma oder Opa übernehmen die Anleitung beim Falten, Schneiden und Kleben. Wenn Mama und Papa helfen, klappt auch das virtuelle Plätzchen backen.

7 Das Care-Paket

Einfach einen Karton schnappen und mit lustigen Dingen für die Großeltern füllen, z.B. Omas leckere Schokokekse, die nach ihrem Rezept gebacken wurden, eine handgeschriebene Karte, ein Bild oder eine Bastelarbeit des Enkels oder andere Dinge, die für die Großeltern von Bedeutung sein könnten.

Dr. Harvey Karp ist Kinderarzt und Gründer des Unternehmens Happiest Baby.

Ein Kind isst Schokolade aus einem Glas.

Nutellafrühstück bei Oma

Mit den Eltern unter einem Dach zu leben, ist für eine Familie Gewinn und Herausforderung zugleich. Von Beate Kuhn

„Man sollte als junges Ehepaar so weit weg von den Eltern wohnen, dass man die Schürze ausziehen muss, um sich gegenseitig zu besuchen!“ Als junge Frau habe ich über diese Lebensweisheit den Kopf geschüttelt: Damals lebte ich als unerfahrene Mutter von zwei kleinen Kindern und mit einem vielbeschäftigten Ehemann 320 Kilometer entfernt von meinen Eltern und vermisste viel zu sehr den gegenseitigen Kontakt, um den Wahrheitskern zu erahnen. Erst später habe ich verstanden, dass ein gewisser Abstand beiden Seiten auch guttun kann.

Zurück nach Hause

Nach zwölf Jahren zogen wir aus beruflichen Gründen zurück in die alte Heimat und nahmen das großzügige Angebot meiner Eltern an: Ihnen war das Haus nach dem Tod meiner Großeltern zu groß geworden. Sie verkleinerten sich auf das Dachgeschoss und machten uns als fünfköpfiger Familie Platz. Den konnten wir gut gebrauchen. Nach Mehrfamilienhaus und Gemeinschaftsgarten fühlten wir uns auf nunmehr 200 Quadratmetern und Garten wie im Paradies und breiteten uns aus. Die darauffolgenden Jahre unter einem Dach sind angefüllt mit vielen schönen Erfahrungen, aber auch mit manchem Konfliktstoff. Kinder und Eltern wurden älter – und wir mittendrin: Verwoben in eine Gratwanderung zwischen dem Idealbild der harmonischen Großfamilie und der Realität, dass wir alle Fehler machen. Wenn ich darüber erzähle, möchte ich weder schwarzmalen noch idealisieren.

Heimliche Verschwörungen

Das Zusammenleben birgt eine Menge Vorteile: Die Kinder hatten Oma und Opa in greifbarer Nähe – für beide Seiten ein Schatz fürs Leben! Die Palette der großelterlichen Liebestaten ging vom großzügigen Nutellabrotfrühstück über geduldige Taxifahrten bis hin zu heimlichen „Verschwörungen“. So kennen wir bis heute nicht die wirklichen Geschehnisse jener ereignisreichen, spontanen Partynacht, in der wir als Eltern außer Haus waren und Oma und Opa Hintergrunddienst hatten.

Auch wir Älteren profitieren: Bis heute wandern alle Näharbeiten in den Nähkorb meiner Mutter – und mein Mann hat seine Schwiegereltern geduldig an die Finessen und Tücken eines Tablets und Smartphones herangeführt. Geteilte Arbeit ist halbe Arbeit: Mein Vater werkelt gern, und einmal in der Woche kocht meine Mutter für uns alle, was uns einiges an Arbeit abnimmt. Und sobald eine Regenwolke am Horizont auftaucht, bietet mir mein Vater sein Auto an. Wie lieb!

Im Notfall ganz nah

Als mein Vater schwer erkrankte, haben wir miteinander die Hände gefaltet und Gott in den Ohren gelegen. Tatsächlich offenbaren Krankheitstage den kostbaren Wert einer solchen Hausgemeinschaft: Schnell mal die Treppe hochzuspringen, nach dem Rechten zu schauen und ein freundliches Wort zu wechseln, kostet keine Minute. Die zumutbare Fürsorge für den Fall einer dauerhaften Pflegebedürftigkeit ist bisher nicht eingetreten, aber miteinander vereinbart.

Nicht zuletzt hat es finanzielle Vorteile, anfallende Kosten zu teilen – so sind wir alle an einem Ort, den wir lieben und der Platz und Freiheiten bietet, die sich eine Partei für sich allein auf Dauer nicht leisten könnte.

Bitte anklopfen!

Natürlich gibt es auch Konfliktfelder: Die in unseren ersten Ehejahren liebgewonnene Unabhängigkeit war nicht so leicht aufrechtzuerhalten. Mein Mann mag seine Schwiegereltern sehr, aber ebenso seine Privatsphäre. Er plädierte deshalb von Anfang an für den Einbau eines üblichen Türschlosses. Ich wiederum fürchtete, dass dies von meinen Eltern missverstanden würde und hoffte darauf, dass das vereinbarte Beachten der Privatsphäre funktionieren würde.

Und so gibt es immer wieder Situationen, die schwierig sind: Meine Eltern müssen sich bis heute dazu überwinden, im ehemals eigenen Haus den Weg in den Keller nicht durch unsere Wohnung, sondern außen um das Haus herum zu nehmen. Oder unseren Bereich tatsächlich nicht zu betreten, wenn niemand von innen „Herein“ ruft. Auch der Umgang mit Nacktheit in den eigenen vier Wänden erfordert Erfindungsreichtum und eine gehörige Portion Humor. Dann das Konfliktfeld Garten: Meine Eltern lieben gepflegte Beete, wir ziehen bei schönem Wetter einen Ausflug dem Rasenmähen vor. Kompromisse sind auf beiden Seiten nötig. Der Samstag war in meiner Herkunftsfamilie von jeher Arbeitstag, mein Mann freut sich jedoch nach einer stressigen Woche auf „lazy time“. So muss immer ein Mittelweg gefunden werden. Als Ehefrau und Tochter stehe ich öfter zwischen den Stühlen. Das empfinde ich als anstrengend.

Nicht alles mitbekommen

Beim Zusammenleben ist klare Kommunikation eine große Hilfe, hier war und ist mir mein Mann ein großer Lehrmeister.

Mittlerweile sind die Kinder ausgezogen und wir sind nur noch zu viert. Unsere Kinder und Enkelkinder leben alle weiter weg. Wenn ich sie treffen möchte, muss ich mir nicht nur „die Schürze abbinden“, sondern jedes Mal einen Koffer packen! Das bedaure ich schon mal. Aber auch wenn mein Omaherz dann seufzt, weiß mein Kopf: Die junge Familie ist eine Einheit für sich. Nichts braucht sie weniger als Großeltern, die alles mitbekommen. Und offen gestanden: Neben aller Sehnsucht genießen wir Alten ebenfalls, dass wir nicht alles mitbekommen!

Ganz viel Verständnis

Wir sind also nun selbst schon fast in der Phase angekommen, in der meine Eltern damals die Entscheidung getroffen haben, uns den Einzug anzubieten. Ihre damit verbundenen Opfer und Lernprozesse kann ich deshalb immer besser verstehen. Dazu kommt unsere wachsende Einsicht über die Prägung der Generation Kriegskinder, für die Ordnung und Besitz einen anderen Stellenwert haben als in meiner Generation. Ich verstehe meinen Vater, wenn er seinen Rasen pflegen möchte. Und ich verstehe mich, wenn ich bei schönem Wetter manchmal andere Pläne habe. Dazwischen liegt der weise Satz des Paulus: „Einer achte den anderen höher als sich selbst.“ – Lösung und Kunststück zugleich. Danke, Paulus!

Beate Kuhn ist Ehefrau, Mutter, Oma und Tochter, lebt in Bad Berleburg und bezeichnet ihre derzeitige Lebensphase als spannenden „Altweibersommer“.

Von Opa lernen …

… möchte Sandra Geissler. Denn wie ihr Schwiegervater von seinem Leben erzählt, ist für sie vorbildhaft.

„Der Opa kommt!“, tönt ein lauter Schrei durchs Haus. Irgendeiner entdeckt ihn immer, lange bevor er auch nur in die Nähe unserer Türklingel gelangen kann. Und schon rast die gesamte Kinderschar wie eine wildgewordene Büffelherde zur Haustür. In kürzester Zeit weiß die ganze Nachbarschaft Bescheid: Der Opa kommt! Es dauert immer eine Weile, bis sich die tumultartigen Zustände wieder gelegt haben, bis jeder ausgiebig gedrückt und durch feste Klopfer auf den Rücken auf seine Vollständigkeit hin überprüft wurde. Dann erst kann sich der ersehnte Gast endlich bis ins Wohnzimmer vorarbeiten und auf seinem Stuhl verschnaufen. Meistens hat er für jeden eine Kleinigkeit dabei. Eine Handvoll Schlümpfe von 1980 vielleicht, die er irgendwo in den Tiefen seines Hauses entdeckt hat, einige alte Matchboxautos, ein paar Schokokugeln oder eine Tüte Gummibärchen zum Teilen. Mein Schwiegervater ist 88 Jahre alt, und man merkt es ihm langsam ein wenig an. Doch immer noch ist er stark wie eine alte Eiche, groß, gewaltig und ein bisschen polterig. Er lacht gern und laut, ist diskussionsfreudig und herzlich. Nur das mit dem Hören funktioniert nicht mehr richtig, was den Lärmpegel in unserem eh schon immer lauten Haus in ungeahnte Höhen treibt. Man stelle sich fünf Kinder vor, die gleichzeitig versuchen, sich einem schwerhörigen Opa verständlich zu machen …

GESCHICHTEN AUS ALTEN ZEITEN

Hat der Opa dann endlich sein Plätzchen gefunden, sein Stückchen Kuchen verzehrt, die zweite Tasse Kaffee vor sich und ein Enkelchen auf dem Schoß, dann kommt meist der Moment, den meine Kinder lieben. Der Opa fängt an zu erzählen. Von seinen Weltreisen als junger Mann, ganz ohne All Inclusive und ausgebauter Infrastruktur, von den Nächten in Heuschobern oder in freier Wildbahn, von den Abenteuern, die er mit seinen Brüdern erlebt hat, von der Liebe seiner Eltern und von seiner Zeit als junger Familienvater. Die Kinder hängen an seinen Lippen, wenn der Opa erzählt, und sie erfahren Geschichten aus fernen Ländern und alten Zeiten, von der Oma, die sie nie kennenlernen konnten, von Tagen, an denen ihr Papa ein kleiner Junge war und wieviel Blödsinn er mit seinen Brüdern angestellt hat. Oft sitze ich da und staune, wie sehr meine Kinder sich von den alten Geschichten fesseln lassen. Noch mehr aber bestaune ich diesen Mann, der mit fast neunzig Jahren so ganz im Reinen ist, mit sich und der Welt, der nicht schimpft und nicht hadert, weder mit der Vergangenheit, noch mit dem Jetzt. Nach zwei Stunden verabschiedet sich der Opa wieder und unter lautem Hupen und wildem Winken fährt er davon. Wir winken und brüllen alle hinterher. Bis zum nächsten Mal.

NICHT DAS SCHWERE ZÄHLT

Oft schon haben mein Mann und ich nach solchen Stunden mit dem Opa überlegt, dass dieser Mann auch eine ganz andere Geschichte seines Lebens erzählen könnte. Die Geschichte einer Kriegskindheit, vom Hunger und einem zerbombten Zuhause. Von der Granate, die ihm beim Spielen einige Finger kostete. Von den Mühen, vier nicht gerade einfache Jungs auf den rechten Lebensweg zu bringen und der großen Trauer um seine viel zu früh verstorbene Frau. Von der Einsamkeit in einem nun längst zu großen, leeren Haus, den Beschwerlichkeiten des Alters und den alten Freunden, die nicht mehr sind. Aber so erzählt er die Geschichte nicht. Er erzählt seine Geschichte anders. Es ist nicht so, als wäre das alles nicht gewesen. Er negiert das Schwere nicht, es gehört dazu und ist Teil seiner Erzählungen. Aber es ist nicht das, was zählt. Was zählt, ist das wilde, schöne Leben in all seinen Facetten. Die Freude an diesem Leben, an Familie und zehn Enkelkindern, an Reisen und an guten Erinnerungen, an ungewöhnlichen Problemlösungen und überstandenen Krisen. Er feiert dieses Leben, das vergangene und das gegenwärtige, indem er es bejaht. Und er vergrault es nicht, indem er hadert. Der Opa behält das Gute und schaut gespannt nach vorne. Denn 95 wolle er auf jeden Fall werden, sagt er.

DAS WILDE, SCHÖNE LEBEN

So möchte ich die Geschichte meines Lebens auch einmal erzählen können, wenn ich eine Oma geworden bin. Und wenn ich es recht bedenke, dann muss ich gar nicht so lange warten. Ich kann direkt damit loslegen, jeden Tag auf ein Neues. Das Leitthema meines Lebensbuches sollen nicht die schweren und traurigen Kapitel sein, auch wenn sie natürlich auch zu meiner Geschichte dazugehören. Das Leitthema soll das wilde, schöne Leben sein in all seinen Facetten, die guten Begegnungen und das Abenteuer Familie, die Liebe, die ich erfahren und schenken durfte, die Dankbarkeit für die guten Momente und das große Glück in den kleinen Dingen. So möchte ich mein Leben feiern, das mir geschenkt wurde, mit allem, was dazu gehört, jeden Tag. In diesen Wochen ist es schwer für unseren Opa. Viele seiner alten Weggefährten sterben, er kämpft mit den Lücken, die sie hinterlassen. Und entschließt sich wieder einmal bewusst für das Leben. Plant ein paar kurze Reisen, lässt die Hörgeräte neu einstellen und lädt sich bei uns zum Kaffee ein. Wir freuen uns. Denn das Leben in all seinem Reichtum zu feiern, anstatt nur seine dunklen Seiten zu lesen, ist manchmal eine Frage des eigenen Entschließens. Das ist das Erbe, das der Opa seinen Enkeln hinterlassen wird. Das ist das Erbe, das ich meinen Enkeln irgendwann schenken möchte.

Sandra Geissler lebt mit ihrer Familie in Nierstein und bloggt unter 7geisslein.wordpress.com.

Zum Dossier-Thema „Das Leben feiern“ gibt es weitere Artikel in der Family 01/2019.

 

Die lieben Großeltern

Ein Gastbeitrag von Anke Bürckner

„Ihr könnt ihr doch nicht ewig Bioessen geben. Sie muss doch auch mal was anderes kriegen.“ „So ein bisschen Vanillesoße kann sie doch schon bekommen, ist doch nicht viel anders als ihre Milch.“ „Wir können ihr ja mal eine rohe Kartoffel geben, zum Draufrumnagen.“ „Das Innere der Krokette kann sie doch schon essen.“ „Wir können ihren Nuckel doch mal in Honig tunken.“

Sie – das ist unsere acht Monate alte Tochter. Die Ratschläge stammen alle von ihren Großeltern und wurden uns mit unzähligen anderen gutgemeinten Tipps in den letzten vier Monaten gegeben. Am Anfang machten mein Mann und ich uns noch die Mühe, genau zu erklären, warum Vanillesoße eben doch anders ist als Muttermilch und sie mit vier Monaten noch nicht bereit ist, etwas anderes zu trinken als ihre Milch. Doch nachdem ich nun gefühlte hundertmal die Vorzüge von Bionahrungsmitteln und selbst gekochten Breien heruntergeleiert habe, habe ich darauf keine Lust mehr. Leider ist mir noch keine Alternative dazu eingefallen, die das Verhältnis zu den Großeltern nicht nachhaltig verschlechtern würde.

Ich habe eigentlich immer gedacht, dass sich Großeltern wahnsinnig freuen müssten, wenn sie wissen, dass ihr Enkelkind altersentsprechend und gesund von seinen informierten Eltern ernährt wird. Oft war ich fassungslos und aufgewühlt nach den Zusammentreffen mit den Großeltern. Mein  Mann brachte dann zumindest für seine Eltern eine schlüssige Erklärung hervor: das schlechte Gewissen. Vor dreißig Jahren galten völlig andere Empfehlungen als heute, und dass diese sich nun als falsch entpuppen, tut den Großeltern weh. Häufig waren die Umstände, unter denen die Kinder damals aufwuchsen, völlig andere. Es war weniger Geld und vielleicht auch weniger Zeit da, denn Kinder bekam man damals früher, man war noch nicht so lange berufstätig und die Hausarbeit war mühsamer, sodass nicht so viel Zeit blieb, um Fachliteratur zu wälzen, Biofleisch und Biogemüse zu delikaten Breien zu kochen oder stundenlang ausgelassen zu spielen. Die Großeltern fühlen sich durch diese Tatsache vielleicht etwas schuldig, besonders wenn sie bei jedem Besuch vorgelebt bekommen, dass wir nun das Geld, das Wissen und die Zeit haben, um für unsere Tochter das Beste zu ermöglichen.

Bei meinen Eltern vermute ich einen etwas anderen Grund. Wir leben 250 km von ihnen entfernt. Wir verbringen die Feiertage und Schulferien bei ihnen, damit sie trotz der Entfernung eine gute Beziehung zu ihrem Enkelkind aufbauen können. Bei ihnen ist wohl der Wunsch, unsere Tochter zu verwöhnen, der Auslöser für den ständigen Vorschlag, ihren Nuckel in selbst geschleuderten Honig zu tunken. Ich weiß nicht, wie oft ich schon versucht habe, über die Risiken von Honig für Kinder unter einem Jahr aufzuklären. Vergeblich. Sie wollen ihrem Enkelkind im Gedächtnis bleiben und die Zeit mit ihnen soll von unserer Tochter als besonders schön wahrgenommen werden, damit sie immer wieder gern ihre Großeltern besucht.

Meine Oma wohnte 40 km von mir entfernt, aber da war es auch so. Die Besuche bei ihr waren immer besonders schön, weil es anders war als zu Hause. Es gab anderes Essen, andere Fernsehsender (meine Eltern hatten nur drei Programme) und andere Aktivitäten. Ich erinnere mich noch, wie meine kleine Schwester vom Besuch unserer Oma mit pinken Strähnen in den Haaren zurückkehrte und meine Eltern das damals unmöglich fanden, weil sie nicht um Erlaubnis gefragt wurden. Ich fand das damals ziemlich cool von meiner Oma, würde heute aber auch sauer sein, wenn meine Eltern oder Schwiegereltern so etwas ohne Absprache machen würden.

Mit der Geburt unserer Tochter haben sich die Generationen verschoben und damit auch die Wünsche und Erwartungen. Für die nun zu Großeltern gewordenen bedeutet das: Sie wollen weiterhin ihre Erfahrungen weitergeben und mitbestimmen, werden aber nun von den Neu-Eltern in ihre Schranken gewiesen und müssen erkennen, dass sie – aus heutiger Perspektive betrachtet – vielleicht sogar Fehler in der Erziehung gemacht haben. Das tut weh und sollte von der Elterngeneration aufgefangen werden, auch wenn das bedeutet, dass man zum hundertundersten Mal noch ruhig erklärt, warum der Brei aus Biozutaten bestehen sollte und warum Honig gefährlich sein kann.

Das Problem ist nur, dass man sich als Neu-Eltern nicht respektiert fühlt, wenn immer wieder der gleiche, in den eigenen Augen völlig unsinnige Vorschlag gemacht wird. Und dieses Gefühl verletzt dann wiederum die jungen Eltern.

Der Idealzustand wäre natürlich, wenn die Eltern und die Großeltern sich in ihrer jeweiligen neuen Rolle wertgeschätzt fühlen. Dies lässt sich vielleicht mit Teilhabe erreichen. Die Eltern sollten den Großeltern Aufgaben übertragen und sie dafür loben, wenn sie diese Aufgaben toll bewerkstelligen. Dann fällt es den Omas und Opas auch leichter, Grenzen zu akzeptieren, wenn sie einen Bereich haben, auf dem sie „Experten“ sind. Wir haben sie unsere Tochter mit dem von uns gekochten Brei füttern lassen. Dann ließen die Nachfragen bezüglich der Zubereitung etwas nach. Natürlich gibt es auch weiterhin Reibungspunkte, aber diese gibt es schließlich überall, wo unterschiedliche Generationen und Ansichten aufeinander treffen und ohne die das Leben um einiges langweiliger wäre.

Anke Bürckner

 

Habt ihr ähnliche Erfahrungen gemacht?

Wie regelt ihr solche Meinungsverschiedenheiten mit den Großeltern?