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Von wegen „Krönchen richten“: Warum manche Probleme Zeit brauchen

Was kommt nach dem Hinfallen? Manche Hindernisse im Leben brauchen etwas Zeit, damit man sie gut bewältigen kann.

Seit einigen Jahren schon pflege ich eine innige WhatsApp-Freundschaft mit einer lieben Freundin und damit das moderne Äquivalent einer herkömmlichen Brieffreundschaft. So viele Nachrichten sind über die Wochen und Jahre hin- und hergeflogen, dass wir einander, unsere Familien und Lebensumstände sehr gut kennenlernen konnten. Wir teilen die fröhlichen und die traurigen Momente des Alltags, die Kuriositäten und die Banalitäten des Lebens. Aber auch unsere Sorgen und unseren Kummer, unsere Erleichterungen und unsere Höhenflüge. Trotz der räumlichen Distanz ist über die Jahre hinweg eine herzliche Nähe entstanden, Vertrautheit und damit Vertrauen gewachsen.

Wenn ich so zurückblicke, dann gab es aber auch jede Menge zu erzählen, zu verarbeiten und zu sortieren: die Coronajahre, die in so vieler Hinsicht eine Grenzerfahrung für unsere Familien waren. Schulsorgen, Kindersorgen, Jobsorgen, kleine und große Herausforderungen, tiefe Trauer und manchen Ärger – der ganz normale Alltagswahnsinn ganz normaler Familien. Es gab und gibt jede Menge zu bewältigen und so gehen, stolpern, fallen wir durch unsere Leben und haben das Glück, einander davon auf die Mailbox quatschen zu können.

Keine Zeit zum Wundenlecken

Noch etwas fällt mir beim Zurückschauen, aber auch beim Umschauen in meiner nächsten Umgebung auf. Ist die eine Hürde genommen, die Herausforderung gewuppt, das Tal durchquert, dann schütteln wir uns kurz und traben zur nächsten. Das Leben, vor allem das Leben mit vielen lässt einem kaum eine Pause für langes Wundenlecken, gründliche Reflexionen und ordentliches Verdauen der Ereignisse. Und wir selbst bestehen auch nicht darauf, wie sollten wir auch? Zum einen traben Alltag und Leben ebenfalls munter weiter, längere Haltestellen sind nicht vorgesehen. Zum anderen ist menschliche Funktionstüchtigkeit ein hoher Wert in unseren Breiten.

Es gibt eine allseits beliebte Postkarte zu diesem Phänomen, zu finden auf jedem Spruchpostkartenständer in Supermärkten und Geschenkelädchen: „Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen“, heißt es dort kunstvoll gelettert und gern mit Krönchen verziert. Diese Spruchweisheit ist meines Erachtens eine hübsch getarnte Variante des althergebrachten „Reiß dich am Riemen! Stell dich nicht so an, weiter geht‘s!“. Die Karte bringt auf den Punkt, was ich von mir erwarte: Ich lasse mich durch nichts unterkriegen, habe alles im Griff. Wenn ich falle, stehe ich einfach wieder auf und mache unbeirrt weiter. Denn ich bin ja nicht aus Zucker, kein Weichei, und wenn etwas dumm gelaufen ist, mache ich einen Haken dran.

Grenzen ignoriert

Diese Philosophie lässt sich auf nahezu alle Lebensbereiche anwenden, ganz gleich, ob simple Alltagsherausforderung oder echter Ausnahmezustand, ob kleine Kränkung oder veritable Grenzerfahrung. Eine Postkarte für alle Anlässe. So ein Motto, auch wenn es auf eine Postkarte passt, verlangt sehr viel von meinem Herzen und Hirn, meinem Körper und meinem Geist. Es verlangt vor allem, die eigenen Bedürfnisse und Grenzen und die Begrenztheit der eigenen Ressourcen zu ignorieren. Du darfst zwar fallen, aber nur, um gleich wieder aufzustehen und den Stolperstein möglichst schnell hinter dir zu lassen. Wir haben alles in der Hand und zwar mit festem Griff. Vielleicht nicht die Ereignisse, aber doch uns selbst.

Das ist ein fataler Irrtum. Eine Postkartenweisheit, die eine Beschaffenheit der menschlichen Seele suggeriert, die der einer Teflonpfanne gleicht und an der alle Herausforderungen abperlen, ohne gravierende Spuren zu hinterlassen. Eine verlockende Illusion hat sie außerdem im Gepäck. Die Idee von Kontrolle, wenn man sich nur genug Mühe gibt. Wir gestatten uns selten bis nie, innezuhalten und zuzugeben: „Das war einfach zu viel. Ich weiß nicht mehr weiter, heute nicht und morgen aller Wahrscheinlichkeit auch nicht. Ich brauche dringend eine Pause, die letzten Wochen waren herausfordernd. Dieser Kummer hat mein Leben für immer verändert. Mit dieser Schuld muss ich leben. Dieses leidige Thema holt mich immer wieder ein.“ Selbst Trauernden wird häufig nur eine begrenzte Zeit zugestanden, bevor sie sich und ihre Emotionen wieder im Griff haben sollen.

Dellen im Krönchen

Meiner bescheidenen Erfahrung nach melden sich aber Altlasten und Gebrochenheiten in schöner Regelmäßigkeit in Form von Stolpersteinen zurück, über die man dann nicht einfach hinweggehen kann. Wer zu lange immer weiter macht, brennt aus. Auf manchen Schmerz gibt es ein lebenslanges Abo, manche Fehler suchen mich immer wieder heim. Nicht alles, was dir widerfährt, wird wieder gut. Du merkst es spätestens dann, wenn der eigene Körper protestiert, weil das Weitermachen nach dem Fallen die einzige Zielrichtung ist und er lieber in die andere Richtung will. Oder liegen bleiben möchte, nur für ein Weilchen. Du fällst, du stehst auf, richtest dein Krönchen und gehst weiter, aber wie? Hinkend und lahmend? Mit zusammengebissenen Zähnen, weil die Teflon-Beschichtung der Seele in Wirklichkeit nicht allzu haltbar ist und sich die Kratzer nur mit viel Mühe ignorieren lassen?

Ich denke allerdings nicht, dass wir nun dringend Postkartenmotive bräuchten mit Lebensweisheiten wie: „Hinfallen, liegen bleiben, noch tiefer einbuddeln und im Jammertal heimisch werden.“ Das wäre kaum eine praktikable Lösung. Und ich wünsche wirklich niemandem ein Leben zusammengekauert in Ausweglosigkeit. Aber zwischen „sich einrichten im Jammertal“ und „beharrlich weitermachen, als wäre nie etwas gewesen“ darf es Rastplätze geben, Seitenstreifen und Ruhebänkchen: eine Weile neben dem Weg sitzen bleiben und die eigenen Glieder und Umstände sortieren. Möglichkeiten finden, um anzuhalten und sich um dringende Bedürfnisse zu kümmern. Auftanken und ausruhen in dem Wissen, dass ich weder die Ereignisse noch mich selbst immer im Griff haben kann und muss. Zeit zum Weinen und Zeit, Frieden zu schließen. Zeit, Atem zu holen und Zeit, still zu werden, weil das Leben zu laut ist.

Hin und wieder vergessen wir im Strudel der Ereignisse, dass wir Menschen sind und nicht Gott. Menschen müssen und können nicht immer funktionieren, weitermachen und unverdrossen weitergehen. Manchmal hat das blöde Krönchen so viele Dellen, dass man es beherzt in die Ecke schmeißen oder gegen einen Regenhut eintauschen darf. Als Menschenkind bin ich wertvoll und geliebt, auch wenn ich ein Weilchen nicht weiterzugehen vermag. Ich darf stolpern, ich darf hinfallen und mich dann getrost an die Seite setzen, um zu klagen, Kraft zu sammeln, Haare zu raufen und Hilfe zu erbitten.

Klagen und Haareraufen

Oft finde ich Trost in der Bibel. Die Psalmen Davids gehören zu meinen liebsten Texten. Sie sind in gewisser Weise sehr viel menschenfreundlicher als unsere Postkartenweisheiten. Vielmehr sind sie ein wahrer Schatz für beanspruchte Menschenherzen, die dringend eine Pause brauchen. Dort findest du eine wortgewaltige Fülle an Gezeter und Gejammer, an Klagen und Haareraufen. Du findest aber auch Rufe nach Hilfe und Vergebung. Lieder der Zuversicht und des Vertrauens auf Gott, der weiß, dass seine Menschenkinder in schöner Regelmäßigkeit fallen, nicht zuletzt über ihre eigenen Füße, der Zuflucht ist und sichere Burg. Die Psalmen besingen nicht, wie man sich am Riemen reißt oder die Zähne zusammenbeißt.

Ich mag sie, weil sie Gott mitten hinein ins allermenschlichste Leben holen, meinen Gott, der mich tröstet und hält, wenn es mich umgehauen hat. Der Psalmist hat offenbar überhaupt keine Hemmungen, sein Straucheln und Fallen Gott entgegenzusingen, seine Bedürftigkeit nach Zuwendung, Trost und Hilfe. Genau das möchte ich mich häufiger trauen. Wenn das Leben mich zu Fall bringt, muss ich nicht sofort weitermachen, als wäre nichts gewesen.

Ganz praktisch darf ich Termine streichen und das Tempo rausnehmen. Ich darf Nein sagen, wenn es mir zu viel wird. Früh zu Bett gehen und spazieren, traurig sein und mir ratlos die Haare raufen, solange es eben dauert. Wenn ich dann so weit bin, wenn die Kraft wiederkehrt, wenn die Tränen getrocknet und die Sorgen sortiert sind, dann kann ich mich auf den Weg machen. Vielleicht sind die ersten Schritte wacklig und unsicher, langsamer und suchender. Aber ich gehe, in meinem Tempo. Die nächste Herausforderung kommt bestimmt. Wo ein Weg, da auch Hürden. Vielleicht brauchen wir eine Postkarte, die uns erinnert: „Hinsetzen, zu Kräften kommen und mit Gott und lieben Freunden quatschen!“

Sandra Geissler ist katholische Diplomtheologin und arbeitet als Lehrerin und Schulseelsorgerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Nierstein am Rhein und bloggt unter: 7geisslein.com

Der Mist mit dem Krönchen

Was kommt nach dem Hinfallen? Sandra Geissler über den Umgang mit den Hindernissen des Lebens.

Seit einigen Jahren schon pflege ich eine innige WhatsApp-Freundschaft mit einer lieben Freundin und damit das moderne Äquivalent einer herkömmlichen Brieffreundschaft. So viele Nachrichten sind über die Wochen und Jahre hin- und hergeflogen, dass wir einander, unsere Familien und Lebensumstände sehr gut kennenlernen konnten. Wir teilen die fröhlichen und die traurigen Momente des Alltags, die Kuriositäten und die Banalitäten des Lebens. Aber auch unsere Sorgen und unseren Kummer, unsere Erleichterungen und unsere Höhenflüge. Trotz der räumlichen Distanz ist über die Jahre hinweg eine herzliche Nähe entstanden, Vertrautheit und damit Vertrauen gewachsen.

Wenn ich so zurückblicke, dann gab es aber auch jede Menge zu erzählen, zu verarbeiten und zu sortieren: die Coronajahre, die in so vieler Hinsicht eine Grenzerfahrung für unsere Familien waren. Schulsorgen, Kindersorgen, Jobsorgen, kleine und große Herausforderungen, tiefe Trauer und manchen Ärger – der ganz normale Alltagswahnsinn ganz normaler Familien. Es gab und gibt jede Menge zu bewältigen und so gehen, stolpern, fallen wir durch unsere Leben und haben das Glück, einander davon auf die Mailbox quatschen zu können.

Keine Zeit zum Wundenlecken

Noch etwas fällt mir beim Zurückschauen, aber auch beim Umschauen in meiner nächsten Umgebung auf. Ist die eine Hürde genommen, die Herausforderung gewuppt, das Tal durchquert, dann schütteln wir uns kurz und traben zur nächsten. Das Leben, vor allem das Leben mit vielen lässt einem kaum eine Pause für langes Wundenlecken, gründliche Reflexionen und ordentliches Verdauen der Ereignisse. Und wir selbst bestehen auch nicht darauf, wie sollten wir auch? Zum einen traben Alltag und Leben ebenfalls munter weiter, längere Haltestellen sind nicht vorgesehen. Zum anderen ist menschliche Funktionstüchtigkeit ein hoher Wert in unseren Breiten.

Es gibt eine allseits beliebte Postkarte zu diesem Phänomen, zu finden auf jedem Spruchpostkartenständer in Supermärkten und Geschenkelädchen: „Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen“, heißt es dort kunstvoll gelettert und gern mit Krönchen verziert. Diese Spruchweisheit ist meines Erachtens eine hübsch getarnte Variante des althergebrachten „Reiß dich am Riemen! Stell dich nicht so an, weiter geht‘s!“. Die Karte bringt auf den Punkt, was ich von mir erwarte: Ich lasse mich durch nichts unterkriegen, habe alles im Griff. Wenn ich falle, stehe ich einfach wieder auf und mache unbeirrt weiter. Denn ich bin ja nicht aus Zucker, kein Weichei, und wenn etwas dumm gelaufen ist, mache ich einen Haken dran.

Grenzen ignoriert

Diese Philosophie lässt sich auf nahezu alle Lebensbereiche anwenden, ganz gleich, ob simple Alltagsherausforderung oder echter Ausnahmezustand, ob kleine Kränkung oder veritable Grenzerfahrung. Eine Postkarte für alle Anlässe. So ein Motto, auch wenn es auf eine Postkarte passt, verlangt sehr viel von meinem Herzen und Hirn, meinem Körper und meinem Geist. Es verlangt vor allem, die eigenen Bedürfnisse und Grenzen und die Begrenztheit der eigenen Ressourcen zu ignorieren. Du darfst zwar fallen, aber nur, um gleich wieder aufzustehen und den Stolperstein möglichst schnell hinter dir zu lassen. Wir haben alles in der Hand und zwar mit festem Griff. Vielleicht nicht die Ereignisse, aber doch uns selbst.

Das ist ein fataler Irrtum. Eine Postkartenweisheit, die eine Beschaffenheit der menschlichen Seele suggeriert, die der einer Teflonpfanne gleicht und an der alle Herausforderungen abperlen, ohne gravierende Spuren zu hinterlassen. Eine verlockende Illusion hat sie außerdem im Gepäck. Die Idee von Kontrolle, wenn man sich nur genug Mühe gibt. Wir gestatten uns selten bis nie, innezuhalten und zuzugeben: „Das war einfach zu viel. Ich weiß nicht mehr weiter, heute nicht und morgen aller Wahrscheinlichkeit auch nicht. Ich brauche dringend eine Pause, die letzten Wochen waren herausfordernd. Dieser Kummer hat mein Leben für immer verändert. Mit dieser Schuld muss ich leben. Dieses leidige Thema holt mich immer wieder ein.“ Selbst Trauernden wird häufig nur eine begrenzte Zeit zugestanden, bevor sie sich und ihre Emotionen wieder im Griff haben sollen.

Dellen im Krönchen

Meiner bescheidenen Erfahrung nach melden sich aber Altlasten und Gebrochenheiten in schöner Regelmäßigkeit in Form von Stolpersteinen zurück, über die man dann nicht einfach hinweggehen kann. Wer zu lange immer weiter macht, brennt aus. Auf manchen Schmerz gibt es ein lebenslanges Abo, manche Fehler suchen mich immer wieder heim. Nicht alles, was dir widerfährt, wird wieder gut. Du merkst es spätestens dann, wenn der eigene Körper protestiert, weil das Weitermachen nach dem Fallen die einzige Zielrichtung ist und er lieber in die andere Richtung will. Oder liegen bleiben möchte, nur für ein Weilchen. Du fällst, du stehst auf, richtest dein Krönchen und gehst weiter, aber wie? Hinkend und lahmend? Mit zusammengebissenen Zähnen, weil die Teflon-Beschichtung der Seele in Wirklichkeit nicht allzu haltbar ist und sich die Kratzer nur mit viel Mühe ignorieren lassen?

Ich denke allerdings nicht, dass wir nun dringend Postkartenmotive bräuchten mit Lebensweisheiten wie: „Hinfallen, liegen bleiben, noch tiefer einbuddeln und im Jammertal heimisch werden.“ Das wäre kaum eine praktikable Lösung. Und ich wünsche wirklich niemandem ein Leben zusammengekauert in Ausweglosigkeit. Aber zwischen „sich einrichten im Jammertal“ und „beharrlich weitermachen, als wäre nie etwas gewesen“ darf es Rastplätze geben, Seitenstreifen und Ruhebänkchen: eine Weile neben dem Weg sitzen bleiben und die eigenen Glieder und Umstände sortieren. Möglichkeiten finden, um anzuhalten und sich um dringende Bedürfnisse zu kümmern. Auftanken und ausruhen in dem Wissen, dass ich weder die Ereignisse noch mich selbst immer im Griff haben kann und muss. Zeit zum Weinen und Zeit, Frieden zu schließen. Zeit, Atem zu holen und Zeit, still zu werden, weil das Leben zu laut ist.

Hin und wieder vergessen wir im Strudel der Ereignisse, dass wir Menschen sind und nicht Gott. Menschen müssen und können nicht immer funktionieren, weitermachen und unverdrossen weitergehen. Manchmal hat das blöde Krönchen so viele Dellen, dass man es beherzt in die Ecke schmeißen oder gegen einen Regenhut eintauschen darf. Als Menschenkind bin ich wertvoll und geliebt, auch wenn ich ein Weilchen nicht weiterzugehen vermag. Ich darf stolpern, ich darf hinfallen und mich dann getrost an die Seite setzen, um zu klagen, Kraft zu sammeln, Haare zu raufen und Hilfe zu erbitten.

Klagen und Haareraufen

Die Psalmen Davids gehören zu meinen liebsten Texten. Sie sind in gewisser Weise sehr viel menschenfreundlicher als unsere Postkartenweisheiten. Vielmehr sind sie ein wahrer Schatz für beanspruchte Menschenherzen, die dringend eine Pause brauchen. Dort findest du eine wortgewaltige Fülle an Gezeter und Gejammer, an Klagen und Haareraufen. Du findest aber auch Rufe nach Hilfe und Vergebung. Lieder der Zuversicht und des Vertrauens auf Gott, der weiß, dass seine Menschenkinder in schöner Regelmäßigkeit fallen, nicht zuletzt über ihre eigenen Füße, der Zuflucht ist und sichere Burg. Die Psalmen besingen nicht, wie man sich am Riemen reißt oder die Zähne zusammenbeißt.

Ich mag sie, weil sie Gott mitten hinein ins allermenschlichste Leben holen, meinen Gott, der mich tröstet und hält, wenn es mich umgehauen hat. Der Psalmist hat offenbar überhaupt keine Hemmungen, sein Straucheln und Fallen Gott entgegenzusingen, seine Bedürftigkeit nach Zuwendung, Trost und Hilfe. Genau das möchte ich mich häufiger trauen. Wenn das Leben mich zu Fall bringt, muss ich nicht sofort weitermachen, als wäre nichts gewesen.

Ganz praktisch darf ich Termine streichen und das Tempo rausnehmen. Ich darf Nein sagen, wenn es mir zu viel wird. Früh zu Bett gehen und spazieren, traurig sein und mir ratlos die Haare raufen, solange es eben dauert. Wenn ich dann so weit bin, wenn die Kraft wiederkehrt, wenn die Tränen getrocknet und die Sorgen sortiert sind, dann kann ich mich auf den Weg machen. Vielleicht sind die ersten Schritte wacklig und unsicher, langsamer und suchender. Aber ich gehe, in meinem Tempo. Die nächste Herausforderung kommt bestimmt. Wo ein Weg, da auch Hürden. Vielleicht brauchen wir eine Postkarte, die uns erinnert: „Hinsetzen, zu Kräften kommen und mit Gott und lieben Freunden quatschen!“

Sandra Geissler ist katholische Diplomtheologin und arbeitet als Lehrerin und Schulseelsorgerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Nierstein am Rhein und bloggt unter: 7geisslein.com

Eine göttliche Ruhezeit

Bisher dachte Miriam Koller, dass der Sabbat nichts mit unserem Leben heute zu tun hat. Doch als sie sich näher damit beschäftigt, stellt sie fest, wie sehr ein Ruhetag in der Woche das Leben bereichert.

Manchmal habe ich das Gefüh, dass Gott mir etwas Bestimmtes sagen will. Wenn mir ein Thema – scheinbar wie durch Zufall – immer und immer wieder über den Weg läuft, ich mich jedes Mal direkt angesprochen fühle und spüre, hier „stupst“ Gott mich gerade an. Vor Kurzem ging es mir so mit dem Thema „Sabbat“. In drei unterschiedlichen Büchern, die ich zeitgleich las, kam wie aus dem Nichts plötzlich in allen diese biblische Tradition zur Sprache. Zunächst dachte ich, das Thema beträfe mich im Heute nicht mehr, schließlich haben wir in unserer westlichen Welt den Sonntag als Ruhetag und ich arbeite an diesem Tag auch nicht. Und doch ahnte ich: Sabbat ist mehr als unser Sonntag und Gott will mich auf die Spuren dessen führen. Ich verschlang die besagten Bücher. Eines davon war „Das Ende der Rastlosigkeit“ von John Mark Comer. Was ich da las, entfachte ein Feuer in mir. Das wollte ich ausprobieren; das erleben, was diese Menschen hier beschrieben. Die „Sehnsucht Sabbat“ war in mir geweckt, und ich forschte weiter.

Mehr als nur ein Gebot

In der Bibel machte ich folgende Entdeckungen: Für Jesus, der uns ein Vorbild sein will, war der Sabbat ein fester Bestandteil seines Lebensrhythmus. Man kann aber noch sehr viel weiter zurückgehen in der Bibel, um der Wichtigkeit dieses Tages auf den Grund zu kommen. Genau genommen bis an den Anfang der Welt. Gott schuf die Welt in sechs Tagen und am siebten Tag ruhte er. Und in den Zehn Geboten hielt er seine Geschöpfe dazu an, es ihm gleichzutun. Der Sabbat schien für Gott also etwas ganz Essenzielles zu sein. Und wenn ich ehrlich in mich hineinlauschte, merkte ich, dass meine Seele sich eigentlich auch danach sehnt: einen Tag pro Woche wirkliche Ruhe!

Dann wurden jedoch andere Stimmen in mir laut: Du hast eine kleine Tochter, die auch sonntags bespaßt und bekocht werden will. Du hast sonntags Dienste in der Gemeinde. Und nie und nimmer schaffst du es, alles pünktlich zum Samstagabend fertigzuhaben: deinen Haushalt picobello fertig, das Essen für einen Tag vorgekocht, alle Arbeiten deiner To-do-Liste erledigt. Wie bitte soll ein Tag völliger Ruhe praktisch aussehen?

Sabbat – ein Verb

Eine Schlüsselerkenntnis war für mich die wörtliche Übersetzung des jüdischen Wortes „sabbat“. Es ist ein Verb und bedeutet „aufhören/innehalten“. Für mich frei übersetzt: liegen lassen, ganz aktiv liegen lassen! Ich beschloss: Ich probiere es einfach mal aus. Ich lasse am Vorabend unseres Sabbats alles stehen und liegen, atme tief durch und nehme wahr, welche Freiheit mir diese Akzeptanz gibt. Die Akzeptanz der Staubschicht auf meinen Regalen, des noch nicht zusammengelegten Wäschebergs, der noch unbeantworteten E-Mails. Ich darf jetzt einfach 24 Stunden aus dem alltäglichen Hamsterrad der Aufgaben und Erledigungen aussteigen, innehalten, aufhören, durchatmen, ausruhen, meine Hände in den Schoß legen und einmal nicht produktiv sein. Und kann mich dadurch tatsächlich neu für Gottes Gegenwart öffnen.

Wie geht es dann aber weiter? Was genau mache ich dann? Studierende, Rentner, Ehepaare mit großen Kindern – sie alle würden sich damit leichttun. Meine Tochter dürfte jedoch von der Vorstellung eines ganzen Tages des Nichtstuns weniger zu überzeugen sein … Wie kann Sabbat praktisch gelebt werden in einer jungen Familie?

John Mark Comer schreibt: „Am Sabbat tun wir nichts als ausruhen und Gott anbeten. Wenn ich Sabbat halte, prüfe ich alles, was ich tun will, an diesem Doppelraster: Ist es Ruhe und Anbetung?“ Als ich unseren Ruhetag unter diesem Blickwinkel begutachtete, fielen mir einige Dinge ein, die ich selbst mit kleinem Kind machen konnte: bewusstes Zeitnehmen, um in der Kinderbibel zu lesen, gemeinsames Musikmachen und Gott mit Liedern loben, für ihn tanzen, malen, lachen, reden, kuscheln, spielen, ein entspanntes Treffen mit engen Freunden, ein Spaziergang im Wald, ein gemeinsames Familien-Mittagsschläfchen und immer wieder am Tag bewusst Gespräche mit Gott führen – die Gebete ruhig laut ausgesprochen und gemeinsam mit dem Kind. Ich kann meiner Tochter so viel von klein auf mitgeben – warum nicht auch diese wichtige Praxis: einen Ruhetag pro Woche zu begehen, der dem Herrn geweiht ist und an dem wir ihm Dank bringen für die Fülle, die er uns in unserem Leben schenkt.

Zeit für Gott und Genuss

Und wenn die Kleine im Bett liegt, beginnt für mich eine ganz besondere Zeit. Ich mache mir schönes Licht an, öffne vielleicht eine Flasche alkoholfreien Sekt und mache es mir bewusst gemütlich – mit Gott: Ich lese in der Bibel, spreche intensiv mit ihm, versinke im Lobpreis und genieße es, seine Gegenwart zu spüren. Im trubeligen Alltag geht eine solche bewusste „Zeit mit Gott“ oft unter – leider. Umso mehr genieße ich es, dass ich nun am Sabbat einen festen Abend pro Woche extra dafür reserviert habe. Es tut mir und meiner Beziehung zu Gott so gut.

Mir ist inzwischen unser Ruhetag so zum Gewinn geworden, dass ich ihn nun fest in meinen Terminkalender einplane. Mal kann ich uns den Samstag, mal den Sonntag blockieren, je nachdem, welche Termine und Verpflichtungen anstehen. Es gab auch schon Wochen, in denen kein Sabbat möglich war, weil bereits das ganze Wochenende verplant war. Nach einem solchen Wochenende habe ich am Montagmorgen aber einen erheblichen Unterschied gespürt: Ich kam vor Erschöpfung kaum aus dem Bett, war ungeduldig und unzufrieden mit mir selbst. Ich stellte fest, wie sehr ich einen Ruhetag pro Woche tatsächlich brauche. Ich nahm meinen Kalender zur Hand und habe für die ganzen restlichen Wochen des Jahres gleich meine „Sabbat“-Eintragung gesetzt, damit mir das nicht noch öfter passiert.

„Genuss“ ist auch noch ein wichtiger Bestandteil unseres Ruhetags: Den Sabbatabend beginnen wir ganz feierlich mit einem besonderen Essen bei Kerzenschein. Wir lesen einen Psalm zusammen, ich spreche meiner Tochter einen Segen zu, wir genießen Traubensaft und Challa-Brot – das traditionelle jüdische Zopfbrot, das daran erinnert, dass Gott in alle Wochentage eingeflochten ist – und danken für Gottes Versorgung. Hinterher gibt es einen besonderen Nachtisch, zum Frühstück am nächsten Morgen Obstsalat, den alle gemeinsam schnippeln. Zum Mittag gibt es ein Wunsch-Lieblingsessen, im Winter nachmittags Tee mit Lebkuchen, im Sommer mal ein Eis mit Schokostreuseln. Wir wollen uns bewusst etwas gönnen und nebenbei die strahlenden Kinderaugen genießen. Und so wird der siebte Tag der Woche zu einem richtigen kleinen „Feiertag“ – mitten im Alltag. Oder wie ein Urlaubstag. Was habe ich mich früher immer quälend von Urlaub zu Urlaub gehangelt … Nun erlebe ich es als einen Quell der Energie, das jetzt einmal pro Woche erleben zu dürfen, und empfinde solch eine Dankbarkeit meinem Schöpfer gegenüber, dass er das so perfekt für uns Menschen eingerichtet hat.

Ausklinken aus der Welt

Was bedeutet Sabbat für mich noch? Kein Kaufen und kein Verkaufen an diesem Tag – auch kein Onlineshopping, kein Essengehen, keinen Lieferservice anrufen. Gezielt nichts unterstützen, das andere Menschen dazu zwingt, an diesem Tag arbeiten zu müssen und keinen Ruhetag zu haben – egal, ob wir samstags oder sonntags unseren Sabbat halten.

Und dann noch das, was für mich die einschneidendste und gleichzeitig gewinnbringendste Übung wurde: Ich schalte mit Beginn des Sabbats mein Handy aus. Ja, so richtig. Für einen kompletten Tag. Auch alle anderen Multimedia-Geräte bleiben am Sabbat bei uns aus. Es ist immens, welchen Effekt das auf mich und uns hat. Erst dadurch fiel mir zum Beispiel auf, wie viel Zeit ich pro Tag mit meinem Handy verbringe (eigentlich: verschwende). Es fühlt sich an wie ein „Ausklinken“ aus dieser lauten Welt. Und auch wenn es anfangs schwer ist, das auszuhalten, diese neue Ruhe in unserer Wohnung und in meinem Kopf – sie ist so unglaublich wohltuend für mich.

Die schönste Erfahrung, die ich machen durfte, war, dass dieser eine Ruhetag pro Woche auch meine restlichen Wochentage verändert hat. Ich komme nicht mehr so sehr an meine Grenzen. Vermutlich lebe ich am Wochenbeginn noch aus der Kraft heraus, die ich am vergangenen Sabbat schöpfen durfte. Und für die letzten Tage der Woche gibt mir die Vorfreude auf den bevorstehenden Sabbat den nötigen Energieschub. Christina Schöffler hat in ihrem Buch „Slow living – Aus der Ruhe leben“ ein wunderschönes Gedicht veröffentlicht. Es beschreibt genau das, was ich Woche für Woche fühle, und was der Grund dafür ist, warum ich unser neues liebgewonnenes Ritual des Sabbats nicht mehr aus unserem Alltag streichen möchte:

Aus dem Nähkästchen
Das Leben reißt und zerrt,
sechs Tage die Woche,
dann hole ich am Sonntag meinen Flickkorb,
nehme einfach den Faden, der gerade obenauf liegt,
und lege ihn in Gottes Hände.
Und dann beobachte ich,
wie er die zerrissenen Teile
Stich für Stich wieder zusammenfügt.
Und während es draußen schon dunkel wird
und er die letzten Fäden abschneidet,
breitet sich sein Schalom in mir aus.
„So, das müsste halten, zumindest bis zum nächsten
Sonntag!“, sagt Gott lächelnd
und legt das Leben zurück in meine Hände.

Christina Schöffler, aus: „Slow living – Aus der Ruhe leben“ (Gerth Medien)

Miriam Koller lebt und arbeitet in Weinstadt in der Nähe von Stuttgart. Sie ist Buchhändlerin in einer christlichen Buchhandlung und Mutter einer Tochter im Kindergartenalter.