Lazy Parenting: Erstmal beobachten und abwarten
Ist mit meinem Kind alles in Ordnung? Müssen wir zum Arzt, zur Therapeutin oder zur Erziehungsberatung? Familienberaterin Daniela Albert rät: Erstmal beobachten!
Mein Lieblingssatz beim Kinderarzt lautet: „Einfach nur beobachten!“ Diese drei Worte, die viele Eltern zur Verzweiflung bringen, sind Musik in meinen Ohren. Sie entbinden mich nämlich davon, in irgendeiner Weise reagieren zu müssen. Sie ersparen mir gefühlte 1.000 Telefonate, um Termine bei Fachärzten zu bekommen, und lange Wege von A nach B, um etwas abklären zu lassen. Und sie ersparen mir Sorgenspiralen, die sich entwickeln, wenn das Kind etwas hat, das abgeklärt werden muss.
Früher war ich da anders. „Einfach nur beobachten!“ hieß für mich, dass mich jemand nicht ernst nimmt. Es kann doch nicht sein, dass mein Kind dauernd Husten und Infekte hat und es keinen tieferliegenden Grund dafür gibt. Den müssen wir doch finden, dachte ich, denn von „Einfach nur beobachten!“ geht das doch nicht weg. Ich hatte damals das Glück, einen Arzt in der Familie zu haben, den ich um Rat fragen konnte – meinen Schwiegervater. Tatsächlich – und zu meinem anfänglichen Entsetzen – schloss dieser sich oft genug der Einschätzung des Kinderarztes an. Es ist nämlich, so musste ich lernen, tatsächlich total normal, dass Kindergartenkinder alle paar Wochen einen Infekt haben und im Winter quasi durchgehend husten. Man kann das wirklich „einfach nur beobachten“.
Vermeidbarer Stress
Auch im Kindergarten hörte ich diesen Satz das eine oder andere Mal, wenn ich Erzieherinnen auf schwierige Situationen ansprach. Oder wenn ich die Rückmeldung bekam, dass mein Kind die Schere oder den Stift noch nicht richtig halten würde oder Wörter falsch aussprach. Dank meines Schwiegervaters war ich das Beobachten schon gewohnt und konnte es besser aushalten.
Im Laufe der Jahre als Mutter habe ich gelernt, dass „Einfach nur beobachten!“ meiner Persönlichkeit viel mehr entspricht, als ich von mir, einem eher ängstlichen Gemüt, gedacht hätte. Ich bin nämlich nicht nur ein bisschen ängstlich, wenn es um meine Lieben geht und sorge mich oft um sie – ich bin auch faul. Ich mache mir nicht gern Arbeit, wenn ich nicht davon überzeugt bin, dass sie es auch wert ist. Und als Arbeit – und zwar eine ziemlich ungeliebte – empfinde ich alles, was man bei Kindern abklären oder behandeln lassen muss. Ich habe keine Lust, Nachmittage in Facharztpraxen, bei Ergotherapeuten oder Bewegungsangeboten zu verbringen, nur um etwas zu therapieren, was vielleicht auch von allein weggegangen wäre.
Versteht mich nicht falsch: Es gibt Dinge, die kann man nicht „einfach nur beobachten“, sondern muss sie gut abklären oder behandeln lassen. Das gilt sowohl für medizinische Fragen als auch wenn es um die kindliche Entwicklung geht. Meine Erfahrung ist jedoch, dass das viel seltener vorkommt, als wir Eltern annehmen. Oft sind wir es nämlich, die darauf drängen, dass Untersuchungen schneller gemacht werden oder bei vermeintlich zu langsam vollzogenen Entwicklungsschritten therapeutisch nachgeholfen wird. Wir machen uns und unseren Kindern dabei Stress, der vermeidbar gewesen wäre. Denn viele Dinge lösen sich in Wohlgefallen auf, wenn man sie einfach nur beobachtet. Die meisten Kinder lernen tatsächlich, auf der Linie zu schneiden, den Stift richtig zu halten, die Füße gerade zu stellen. Und sie werden irgendwann auch seltener krank – ohne dass wir etwas unternehmen.
Beobachten und Abwarten statt planen
Den Grundsatz „Einfach nur beobachten!“ habe ich längst in meine gesamte Erziehungsphilosophie übernommen. Wenn bei uns Schwierigkeiten auftreten, habe ich nicht mehr den Anspruch, sie sofort zu lösen:
- Die Geschwister streiten sich? Ich schaue erst mal, ob sie es allein regeln.
- Mein Kind kommt mit einer Lehrerin nicht auf Anhieb klar? Wir warten mal ab, wie sich das entwickelt.
- Ein Kind hat Schwierigkeiten, Wörter richtig zu schreiben? Vielleicht spielt sich das mit der Zeit von selbst ein.
Mein Kind wird seinen Weg schon gehen. Ich muss sein Leben nicht planen. Ich bin nicht dafür verantwortlich, dass es genügend – und vor allem die richtigen – Hobbys hat, wie es seine Zeit verbringt und mit wem. Mein Kind hat sich mit einem Kind angefreundet, das ich für einen nicht so guten Umgang halte? Einfach mal beobachten, ob die Freundschaft hält und ob das Kind wirklich einen negativen Einfluss auf meins hat.
Mein Kind hat keine Lust auf Sport oder Musikinstrumente? Dann muss ich nicht nach einem Hobby suchen, das passt, sondern kann abwarten, ob sich etwas findet.
Eigene Lösungen finden
Diese Haltung, sich erst einmal faul zurückzulehnen und nicht einzugreifen, in der Hoffnung, dass sich die Dinge von allein regeln, ist nicht nur für uns gut. Tatsächlich ist sie auch das Beste, was unseren Kindern passieren kann. Schon Jesper Juul, der verstorbene Autor und Familientherapeut, feierte „faule Eltern“. Nicht solche, die ihre Kinder tatsächlich vernachlässigen, auf keinen Fall! Aber die, die nicht jedes Mal in Aktion treten, wenn es scheinbar Grund dafür gäbe. Indem wir uns zurücknehmen und abwarten, geben wir unserem Kind den Raum, sich selbst zu entwickeln, eigene Lösungen zu finden, allein zu entdecken, wer es ist und was es will. Und letztlich überträgt sich auch unsere Gelassenheit auf unsere Kinder, wenn wir „Einfach nur beobachten!“ zum Leitstern unserer Erziehung machen.
Manchmal fällt mir das immer noch nicht leicht. Gerade mit größer werdenden Kindern, die viel Zeit ohne mich verbringen, habe ich Angst, dass Sachen schiefgehen können, wenn ich sie auf die leichte Schulter nehme. Medienkonsum „einfach nur beobachten?“ Bei „falschen Freunden“ immer noch cool bleiben und abwarten? Über Ausdrucksweisen, die ich furchtbar finde, hinwegsehen? Aushalten, dass sie nichts für die Schule tun?
Hier fühle ich mich manchmal wieder wie am Anfang meiner Reise als Mutter. Meinen Schwiegervater kann ich leider nicht mehr um Rat fragen, er ist inzwischen verstorben. Aber mir hilft der Glaube daran, dass Gott mir auch zuhört – und ich glaube, auf die meisten meiner Sorgen antwortet er: „Einfach nur beobachten – ich kümmere mich um den Rest.“
Daniela Albert ist Erziehungswissenschaftlerin und Eltern- und Familienberaterin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Kaufungen bei Kassel und bloggt unter: eltern-familie.de