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Homeschooling: Jetzt machen die Öffentlich-Rechtlichen Bildungsfernsehen – aber gucken die Schüler das überhaupt?

Die öffentlich-rechtlichen Sender haben ihr Bildungsprogramm erweitert, um Familien während der Schulschließungen zu unterstützen. Dabei machen sie jedoch einen entscheidenden Fehler.

Seit Montag (11. Januar) bieten ARD und ZDF ein erweitertes Fernsehprogramm an. Der Bildungskanal ARD-alpha sendet zum Beispiel wochentags von 9- 12 Uhr das Programm „Schule daheim“, der Kinderkanal KiKa reagiert mit einer Sonderprogrammierung, das ZDF erweitert sein Angebot »Terra X plus Schule« in der Mediathek und auf YouTube. Doch erreichen die Sendungen die Zielgruppe?

Simon ist 16 Jahre alt und geht in die zehnte Klasse einer privaten Gesamtschule. Über die Frage, wann er sich das letzte Mal eine öffentlich-rechtliche Informationssendung angeschaut hat, muss er länger nachdenken. „Bei Terra X habe ich schon öfter mal reingeguckt, wenn ich irgendwelche Fragen zum Unterricht habe. Das ist aber extrem selten“, sagt er dann. Den Fernseher schaltet er eigentlich nur an, wenn er Sportsendungen schauen möchte. Dass für ihn extra das Bildungsprogramm im Fernsehen erweitert wurde, interessiert ihn relativ wenig. Und selbst bei Interesse könnte er es gar nicht gucken, da er vormittags Videokonferenzen hat und für die Schule ansprechbar sein muss.

Klassisches Fernsehen kann sinnvoll sein

Gibt es also überhaupt Kinder oder Jugendliche, die von einem erweiterten linearen Bildungsfernsehen profitieren? „Ja“, sagt Markus Sindermann, Geschäftsführer der Fachstelle für Jugendmedienkultur NRW: „Auch im Jahr 2021 gibt es noch Haushalte, die über keinen oder lediglich über einen eingeschränkten Internetzugang verfügen.“ Zudem könne es an technischen Geräten fehlen, wenn es zum Beispiel nur einen Laptop im Haushalt gebe, aber mehrere schulpflichtige Kinder und Eltern, die parallel im Homeoffice arbeiten müssten. „Die Nutzungszahlen sprechen dafür, dass die linearen Angebote genutzt werden“, sagt auch die Medienwissenschaftlerin Maya Götz. Gerade Kinder und Preteens profitierten davon, denn auch im zweiten Lockdown könnten viele Schulen besonders für die Jüngeren nicht genügend Angebote auf die Beine stellen.

Wirklich gut nutzen lässt sich das klassische Fernsehprogramm allerdings nur, wenn es pädagogisch begleitet wird. Indem Eltern oder Lehrerende zum Beispiel einzelne Sendungen auswählen, die zur individuellen Lernsituation des Kindes passen. „Insbesondere bei jüngeren Kindern ist eine Begleitung durch einen Elternteil wichtig, damit über die gezeigten Inhalte gesprochen werden kann“, erklärt Markus Sindermann. Damit das Fernsehprogramm auch einen langfristigen Lerneffekt hat, sollten die Formate im Idealfall zum Mit- oder Nachmachen aufrufen.

Jugendliche nutzen vor allem Online-Videos

Je älter die Kinder werden, desto uninteressanter wird das lineare Bildungs-Fernsehen allerdings für sie. „Bei den Älteren […] wird es schon kniffeliger. Denn für den Unterricht sind die Angebote dann sinnvoll, wenn sie den ganz konkreten Lernstoff betreffen“, sagt Maya Götz. Die Chancen, dass ein Schüler in drei Stunden „Schule daheim“ den passenden Input für das anstehende Deutschreferat oder den nächsten Englisch-Test bekommt, sind jedoch verschwindend gering.

In einem der seltenen Fälle, in denen Simon Terra X guckt, schaut er es nicht im Fernsehen, sondern auf YouTube. Das Videoportal nutzt er auch, wenn er etwas für die Schule recherchieren muss. Geschichtliche Fragen lässt er sich gerne von MrWissen2go erklären, bei Problemen in Mathe schaut er sich ein Video vom YouTuber Lehrerschmidt an. Auch die Eltern von jüngeren Kindern erzählen, dass ihre Kinder vor allem auf Online-Videos zurückgreifen, wenn sie öffentlich-rechtliche Formate wie Checker Tobi oder Anna und die wilden Tiere nutzen. Umso wichtiger also, dass die Inhalte des Fernsehprogramms auch online verfügbar und gut über Suchmaschinen auffindbar sind. So kann das Wissen dann abgerufen werden, wenn es benötigt wird.

Angebote sind kaum zu finden

Zwar bauen die öffentlichen Fernsehsender ihre Online-Angebote gerade aus, aber leider wird einem die Suche nicht immer leicht gemacht. Jede Bundesanstalt hat eigene Angebote. Die meisten sind nach Themen sortiert, allerdings nur grob nach Alter. Wer gezielt nach Videos für den Matheunterricht in der 7. Klasse sucht, wird hier wahrscheinlich nicht fündig. Am übersichtlichsten strukturiert ist da noch das Lernangebot der BR-Mediathek „Schule Daheim“. Und leider ist auch die Auffindbarkeit durch die Suchmaschinen noch nicht optimal, berichtet Maya Götz: „Hier sind die Wissensinfluencer*innen und kommerziellen Anbieter den öffentlich-rechtlichen Anbietern in Sachen Suchmaschinenoptimierung zurzeit etwas voraus, sodass deren Angebote schneller gefunden werden.“

Grundsätzlich ist der Ausbau der Bildungsangebote von ARD und ZDF, vor allem der ihrer Online-Mediatheken, ein tolles Angebot mit viel Potential – auch für die Zeit nach Corona. Simon lernt gerne mit Videos: „Videos gucken ist tatsächlich oft einfacher. Wenn ich nach acht Stunden aus der Schule komme, dann hab ich nicht mehr Bock, zuhause auch noch zu lesen.“ Jetzt müssen diese Angebote nur noch besser gefunden werden.

Sarah Kröger ist freie Journalistin und Projektmanagerin und bloggt unter neugierigauf.de zu Themen wie Familie, Digitales, Arbeit, Soziales und Nachhaltigkeit.

Eine Übersicht zu allen Bildungsprogrammen der ARD gibt es auf einer extra Seite.

Wie Schüler mit Druck umgehen können

Die Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Welche Entwicklungen treffen dabei aufeinander? Diese Frage beantwortet die Diplom-Psychologin Prof. Dr. Heidrun Bründel, Autorin des Buches „Schülersein heute“.

 

Wenn man sich den Alltag von Schülerinnen und Schülern anschaut, dann stellt man häufig fest, dass er so eng getaktet ist wie der Arbeitstag eines Erwachsenen. War das früher auch so?

Nein, nicht in dieser Ausprägung. Es gab natürlich schon immer Kinder und Jugendliche, die aufgrund ihrer Interessen nach der Schule einen engen Terminkalender hatten, doch das hatte individuelle Gründe, keine strukturellen. Familien insgesamt leiden heute im Vergleich zu früheren Generationen verstärkt unter Zeitknappheit. Das Thema Zeit beherrscht das Familienleben sehr stark und wirkt sich auch auf den Kinderwunsch aus.

Inwiefern?

Der Aspekt Zeit spielt eine große Rolle bei der Entscheidung für oder gegen Kinder. Männer und Frauen haben allerdings sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, welche Zeit sie gewillt wären, zu reduzieren, wenn Kinder da sind: ihre Freizeit oder ihre Arbeitszeit. Männer befürchten, ihre Freizeit reduzieren zu müssen. Frauen dagegen denken an eine Reduzierung ihrer Arbeitszeit. Gleichzeitig erschrecken die hohen Erwartungen und Anforderungen, die heute an Eltern gestellt werden. Eltern sollen ja alles richtig machen.

Das hört sich – überspitzt – an, als würden Kinder heute in Beziehungen hineingeboren, die von Befürchtungen geprägt sind.

Überspitzt, ja. Aber es ist richtig, dass Kinder in Beziehungen hineingeboren werden, in denen ein großer Druck herrscht, alles richtig machen zu müssen. Eltern sollen liebevoll und fürsorglich sein; sie sollen ihre Kinder fördern und bei der Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben unterstützen, sie gut durch die Schule bringen, mit dafür sorgen, dass sie gute Schulabschlüsse erreichen und sich natürlich für die Belange der Kinder engagieren, sich in Kita und Schule einbringen usw.

Geben Eltern den Druck, den sie spüren, an ihre Kinder weiter?

Häufig ist es so. Da viele Eltern hohe Erwartungen an ihre Kinder haben, heißt Schülersein heute vor allem, von Anfang an mit Druck umgehen zu können.

Diesen Druck spürt auch die Schule, etwa wenn statt der Kinder die Eltern bei einer Note um jede Ziffer hinter dem Komma kämpfen. Welche Herausforderungen sehen Sie für Lehrerinnen und Lehrer?

Eltern sind anspruchsvoll geworden und erkennen die Kompetenzen der Lehrkräfte nicht mehr ganz selbstverständlich an. Das ist ungewohnt und anstrengend für beide Seiten. Die aktuell wohl größte Herausforderung liegt für Lehrkräfte jedoch darin, sich von einem Schulsystem zu trennen, dass bisher auf Segregation gesetzt hat. Alle Neuerungen sind mit Ängsten verbunden und viele Pädagogen fragen sich, ob sie die Balance zwischen Flexibilität und Stabilität halten können. Eine weitere Herausforderung stellt die Debatte um die Abschaffung der Schulnoten, des Sitzenbleibens und der Hausaufgaben dar. Auch dies verunsichert.

Schülersein heute heißt demnach, Schulen zu besuchen, wo Lehrkräfte möglicherweise um Souveränität ringen, und in Familien zu leben, wo sich Eltern im besten Fall um Druckausgleich bemühen und wo Zeitmanagement eine wichtige Kompetenz ist. Kann in dieser Gemengelage die Ganztagsschule entlasten?

Die Ganztagsschule ist ein weiterer entscheidender Unterschied des Schülerseins heute im Vergleich zur vorherigen Generation. Ob sie entlastend wirkt, hängt entscheidend von der Qualität der Schule und hier von den Beziehungen ab, sowohl der Schülerinnen und Schüler untereinander und des Miteinanders im Kollegium als auch des Verhältnisses zwischen Lehrkräften und Schülerschaft. Das gemeinsame Mittagessen und gepflegte Rituale können die Beziehungen untereinander stärken und zu einem Wohlgefühl beitragen, dass der psychischen Gesundheit dient.

Wenn man sich moderne Formen der leistungsbezogenen Feedback-Kultur wie Logbücher und Lerntagebücher anschaut, die wöchentlich von den Eltern abgezeichnet werden müssen: Stehen Schüler nicht auch mehr unter Beobachtung als früher? Da „schneite“ eher unvermittelt ein „5“ ins Haus, und von den Eltern hieß es dann „Streng dich mehr an“!

Die Jugendlichen holen sich über die neuen Medien einen Teil unbeobachtete Zeit zurück. Ich denke, dass Zusammenarbeit und Kommunikation im Verhältnis Schule-Elternhaus sehr wichtig sind. Allerdings sind Schule und Elternhaus konträr strukturierte soziale Räume, die in einem spannungsreichen Verhältnis zu einander stehen. Ein Beispiel: Der längere Aufenthalt in der Ganztagsschule entlastet zwar, wie alle Studien zeigen, das Familienleben. Gleichzeitig führt er bei Eltern zu der Befürchtung, weniger von ihren Kindern mitzubekommen.

Das klingt insgesamt nach einem Drahtseilakt …

Sagen wir es so: Eltern sowie Schülerinnen und Schüler haben heute deutlich mehr Verantwortung, weil sie zu Reflexion und Partizipation angehalten werden. Darin liegt für Kinder und Jugendliche zwar die Gefahr der Überforderung, aber ebenso eine große Chance für ein selbstbestimmtes Leben.

Dr. Heidrun Bründel ist Diplom-Psychologin, EurpPsy (BdP). Sie war langjährig in der Bildungs- und Schulberatung tätig und lehrte an der Universität Bielefeld. Bekannt geworden ist sie u. a. mit der ‚Trainingsraum-Methode’ und ihren Forschungen zu Suizid unter Schülern. Heidrun Bründel arbeitet freiberuflich in der Fort- und Weiterbildung von Psychologen, Schulleitern und Lehrkräften. Interview: Inge Michels, Klett-Themendienst