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Seelische Verletzungen erkennen und heilen

Im Erwachsenenalter können Krisensituationen auftreten, die uns im Kern erschüttern und uns zeigen, dass etwas tief in uns nicht stimmt. Oft lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit, um Fehlentwicklungen aufzudecken, um sie zu korrigieren und seelisch zu gesunden. Von Marion Geißler

Woran könnten wir erkennen, dass uns seelische Verletzungen aus der Vergangenheit einholen? Es ist oft ein Konglomerat aus Angst, Wut, Verzweiflung, mangelndem Selbstwert, Antriebslosigkeit, Trauer, Desinteresse, sozialem Rückzug, starker Gereiztheit, aggressivem Verhalten, fremd wirkenden Gefühlen oder gar Lebensmüdigkeit. Es können aber auch psychosomatische Beschwerden entstehen wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder Verdauungsschwierigkeiten. Um nicht darüber hinwegzusehen, ist es wichtig, regelmäßig auch mit sich selbst in Kontakt zu sein. Fragen wie: „Wie geht es meiner Seele?“, „Wonach sehnt sie sich?“, „Was raubt mir die Kraft?“ sind wichtig. Wir nennen es Selbstwahrnehmung und Selbstfürsorge.

Die oben genannten Symptome psychischen Angeschlagenseins, die auch in kleineren Krisenzeiten auftauchen können und dann wieder verschwinden, haben das Potenzial, sich in Zeiten der Erschütterung und des Umbruchs zu klinischen Krankheitsbildern zu verdichten. Das müssen nicht zwangsläufig negative Umbrüche sein, wie zum Beispiel Trennungen, Kündigungen oder Krankheiten. Auch freudige Ereignisse wie Schwangerschaft und Hochzeit sind mögliche Auslöser. Dann entstehen zum Beispiel Angststörungen, Depressionen oder psychosomatische Erkrankungen. Nicht selten fördern diese Ereignisse seelische Verletzungen zutage, die in der Entwicklung in der Kindheit oder Jugend liegen, die es gilt, zu erkennen und daran zu arbeiten. Die Psychologie hat gute Konzepte entwickelt, die Menschen eine wertvolle Unterstützung geben können, um schädliche Muster zu erkennen, aus krisenhaften Konflikten herauszufinden und seelisch zu gesunden. Wie so etwas funktionieren kann, möchte ich kurz zeigen. Zwei meiner PatientInnen waren bereit, uns an ihrer Entwicklung teilhaben zu lassen.

Pascal: Selbstständigkeit lernen

Als Pascal (alle Namen geändert) in meine Praxis kam, war er äußerlich gesehen „erfolgreich“. Er studierte im Masterstudiengang Maschinenbau, hatte eine feste Freundin, eine Ehe zogen sie in Betracht. Er lebte immer häufiger in ihrer Wohnung. Folgende Probleme benannte er: „Ich möchte selbstständiger werden, aber meine Eltern setzen mich mit ihrer finanziellen Unterstützung für meine Wohnung unter Druck. Um meine Entscheidungen frei treffen zu können, muss ich mich von ihnen wohl finanziell ganz ablösen und mir mein Leben selbst verdienen!“

Allerdings fühlte es sich für ihn an, als würde er seinen Eltern die Freundschaft kündigen. Alles in ihm sträubte sich gegen diese Entscheidung. Sie führte bei ihm zu Ängsten, starker innerer Unruhe sowie Grübeln mit depressiven Gefühlen. Seine Mutter entwickelte Sorgen um ihn, konnte nachts nicht mehr schlafen und warf ihm vor, nichts mehr mit ihnen zu tun haben zu wollen. „Mir war damals nicht bewusst, dass diese Situation nur die Spitze eines großen Eisbergs von Situationen und Mustern war, denen ich mich stellen musste“, erinnert sich Pascal.

In den Gesprächen wurde mir klar, dass Pascals Probleme ihre Wurzeln im Familiensystem haben mussten, sodass wir uns auf eine Spurensuche begaben. Wir bildeten einen Familienstammbaum (Genogramm) über vier Generationen und entdeckten, dass in der Linie seiner Mutter die Frauen oft herrisch waren, während die Männer zu Gewalt neigten. In der Linie seines Vaters hingegen arbeiteten die Männer viel und waren abwesend. Darüber hinaus führten wir eine Familienaufstellung mit Holzfiguren durch, um die Konstellation seiner Familie in der Kindheit zu analysieren. Hier stellte sich heraus, dass Pascal sich stark von seiner Mutter unterdrückt fühlte. Sie legte ihre Angst auf ihn und war häufig gereizt und überfordert. Die Figur seines Vaters stand schräg hinter der Mutter, da er andauernd arbeitete und zu Hause müde war. Pascal stellte fest: „Mir fehlte ein starkes Vorbild, das mir beibrachte, wie man sich verteidigt und dass man sich für sich selbst einsetzen darf.“

Er war – tiefenpsychologisch gesprochen – als Erwachsener gefangen in einem Konflikt der Kontrolle versus Unterwerfung. In einer Entwicklungsphase, in der er als Kind begann, sich selbstwirksam zu erleben, neue motorische Fähigkeiten auszuprobieren (wie z. B. Krabbeln), mit individuellen Bedürfnissen, und auch mal Nein zu sagen, ist er wahrscheinlich zu sehr kontrolliert und entmutigt worden. Anstatt Autonomie zu lernen, hat Pascal sich den Eltern „unterworfen“, ist gehorsam und angepasst geworden, um ihre Liebe nicht zu verlieren. In einer Lebensphase, in der er naturgemäß immer selbstständiger werden wollte und musste, fühlte er unbewusst den Druck, sich unterzuordnen. Diese tiefe innere Spannung kam an die Oberfläche und die unbewussten Ängste haben einen Konflikt entfacht. Je mehr er diese zugrunde liegende Problematik verstand, desto besser konnte er sich von den Vorstellungen seiner Eltern abgrenzen und erlebte, wie die Symptome zurückgingen.

Sylvia: Selbstwert entwickeln

Sylvia hätte überglücklich sein können. Sie hatte zwei Ausbildungen und war erfolgreich und zufrieden in ihrem Beruf. Ihr Freund hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie konnte sich darüber aber nicht freuen. Sie wurde ihm gegenüber immer aggressiver und ausfallender. War sie allein, musste sie viel weinen. Sie empfand sich als ungenügend und bedeutungslos, sie verstand die Welt nicht mehr. Auch hier half ein Blick in das Familiensystem, denn der Selbstwert-Konflikt, der zum Vorschein kam, war bereits in ihrer Kindheit angelegt.

Sylvias Vater war ihr gegenüber respektlos und übertrat ständig ihre Grenzen, zum Beispiel, indem er ihre Tagebücher las. Ihre Mutter war überfordert und nicht in der Lage, ihre Tochter zu schützen. Zugleich war Sylvia aber für ihre Individualität und Selbstwertentwicklung darauf angewiesen, in ihren Eltern liebevolle Vorbilder zu sehen, die auf ihr Kind stolz sein können. Da ihr diese Bestätigung verwehrt blieb, zog sich Sylvia resignativ in ein Gefühl der Bedeutungs- und Wertlosigkeit zurück und versuchte, durch Leistung Bewunderung und Anerkennung zu bekommen. In ihrer jetzigen Beziehung fühlte sich Sylvia in ihre Kindheit versetzt und bediente sich früherer Lösungsansätze: Sie versuchte Anerkennung durch Leistung und durch die Abwertung ihrer eigenen Person zu bekommen. Aber in ihr stieg auch verborgene Wut auf. Erst in der Therapie verstand sie, dass ihre Kindheit und das Verhalten ihrer Eltern alles andere als normal und gesundheitsfördernd für sie gewesen waren.

Zur seelischen Stabilisierung und Neuorientierung war für sie als erster Schritt ein (vorübergehender) Abstand zu ihren Eltern wichtig, da die Bindung immer noch sehr eng und die schädlichen Muster aktiv waren. In weiteren Schritten arbeiteten wir vor allem mithilfe von Imaginationen (dem Herstellen von inneren Bildern) schmerzhafte Erinnerungen durch, in denen das Kind von damals Hilfestellung und Korrektur erfahren konnte, sodass sich innere Glaubenssätze und tief verankerte Grundgefühle verändern können. Auf diese Weise können negative neuronale Netzwerke neu verknüpft bzw. überschrieben werden und schon in der Kindheit entstandener Stress kann abgebaut werden. Sylvia ist auf dem Weg, sich als wertvoll anzunehmen, ohne dafür etwas Besonderes leisten zu müssen, und auch ihre – bis dahin unbewusste – Frustration und Wut zu verarbeiten.

Das sind nur zwei Beispiele, wie wir durch die Aufarbeitung von familiären Systemen oder unerfüllten Grundbedürfnissen Konflikte aufdecken und seelisch gesunden können. Daraus ergibt sich für uns als Eltern, die Grundbedürfnisse unserer Kinder im Blick zu behalten (siehe dazu den Artikel auf S. 42) und auch in uns selbst hineinzuschauen, wo wir unbewusst Konflikte in uns tragen. Es muss nicht immer sein, dass schwerwiegende Symptome entstehen. Aber wenn es dazu kommt, ist professioneller Rat in jedem Fall angemessen.

Bindung – verbunden mit Gott

Was schützt uns nun also vor solchen Fehlentwicklungen, und was brauchen unsere Kinder, um die vor ihnen liegenden Entwicklungsstufen zu bewältigen und seelisch gesund zu sein und bleiben zu können? Auch später als Erwachsene? Sie brauchen das Gefühl, sicher gebunden und um ihrer selbst willen geliebt zu sein.

Und ich staune darüber, dass uns Gott genau das in seinem Bund mit uns anbietet. Er gibt uns diese Wärme, diese Nähe, dieses Verständnis und diese Geborgenheit. Sein Bund basiert nicht auf Bedingungen, sondern auf seinem Versprechen von Treue und Vergebung. Läuft bei mir etwas schief, bietet er Heilung und Wiederherstellung an in und durch Jesus Christus. Er liebt mich für immer und ewig und die tiefste Heilung beginnt dort, wo wir (wieder) in diesen Bund eintreten. Übertragen wir dieses Modell des Bundes auf unsere Familien und Beziehungen, kann ich – verbunden, sicher, geliebt und fröhlich in Gott – das Gute für den anderen suchen und lernen, mit meinen Mitmenschen in einer Bündnisbeziehung zu leben, so wie Gott mit mir.

Marion Geissler ist Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet in Kassel in einer Praxis. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

„Ich habe mein Kind verkorkst!“ – Welche Erziehungsfehler Sabine heute bedauert

Sabines* Tochter ist viel zu unselbstständig. Die Schuld sieht Sabine bei sich und ihrem Mann. Dann entscheidet sie: Es muss sich etwas ändern.

„Ich habe mein Kind verkorkst!“ – Als Sabine diesen Satz ausgesprochen hat, schaut sie mich erschrocken an. Schnell schiebt sie hinterher: „Eigentlich ist mein Mann schuld. Puh, das klingt auch so hart. Er hatte bei unseren Kindern viel Angst und ich habe unter seinem Druck dafür gesorgt, dass kein Weg zum Volleyballtraining oder Musikunterricht ohne meine Begleitung passiert. Und dass sie nur mit ausgewählten Kindern spielen. Die ständigen Diskussionen mit ihm über die möglichen Gefahren haben mich mürbe gemacht. Das sehe ich jetzt. Und jetzt ist es zu spät. Hannah* ist nun 17 Jahre alt – und irgendwie verkorkst.“ Sabine ringt um Worte. Sie tastet sich an dieses fast unaussprechliche Gefühl heran.

Hannah wirkt auf Außenstehende sanft und klug. Zu Hause nehmen ihre Eltern sie aber als unausgeglichen und missgelaunt wahr. Schon immer haben ihre Hände besonders besitzergreifend nach Sabine gegriffen und sie gefordert. Ganz anders als die Kleinkinder ihrer Bekannten hatte sie viele Probleme: Schlafen nur auf dem Bauch der Eltern, Essensverweigerung, wenig Sprachentwicklung. Wenn Sabine von einer schweren Nacht mit ihr berichtete, kommentierten die anderen im Spielkreis nicht selten: „Na, was hat Hannah denn diesmal?“ Eigentlich nichts, und doch ließ Sabine sie immer wieder vom Kinderarzt durchchecken: Sie war und ist kerngesund. Vielleicht gibt es so etwas wie „alltagskompliziert“?

Selbst das Einlegen der CD machte Probleme

Als Grundschülerin war Hannah in vielen alltäglichen Dingen hilflos. Kleinigkeiten wie das Einlegen der CD in den Kinder-CD-Spieler wurden zu einem Problem. Ihre jüngere Schwester hatte diese Hürde bereits genommen, aber Hannah stand immer noch jammernd neben der Mutter und brauchte Hilfe. Auch die Hausaufgaben waren während der kompletten Schulzeit ein Bereich voller Emotionen und Kämpfe. Sabine hat unzählige Stunden mit ihr am Esstisch verbracht. „Keine Idee meiner Freundinnen half, um sie zum eigenständigen Arbeiten zu motivieren. Sie jammerte und brauchte ständig meine Hilfe.“

Aber immer, wenn Sabine eine Idee für eine Loslösung hatte und umsetzen wollte, kam ihr Mann mit seinen Sorgen und Bedenken dazwischen. Hannah allein auf die Klassenfahrt schicken? Niemals! Also fuhr sie als Betreuerin mit. Hannah allein in den Schwimmverein lassen? Niemals. Also schwamm sie neben dem Trainingsbecken im Kinderbecken herum. Je älter Hannah wurde, desto unsicherer und unselbstständiger wurde die Jugendliche. Sie begann, leise und undeutlich zu sprechen und ihre Schultern nach vorn zu ziehen. Mit dieser angespannten Grundhaltung gelang es ihr nicht, Freundinnen zu finden.

Immer genervter auf ihre Tochter

Natürlich hat Sabine sich Gedanken gemacht über ihr Verhalten. Sie hatte wohltuende Gespräche mit dem Kirchenseelsorger. Sie spürte aber, dass eine wirkliche Veränderung Kraft kosten würde. Sabine erinnert sich, dass sie sich von ihrem Alltag zwischen Kindern, Minijob und Kirchenmitarbeit so eingespannt fühlte, dass sie für das Thema „Hannah“ ganz kraftlos war. Sie zog sich immer mehr zurück. Sie half Senioren und anderen Familien mit praktischer Unterstützung, aber Hannah und den möglichen Lösungsideen für ihre Situation ging sie aus dem Weg.

Stattdessen wurde sie immer sensibler und genervter in Bezug auf ihre Tochter. Sie konnte schon an Hannahs Seufzen erkennen, dass diese keinen einzigen Waffelteig im ganzen Internet finden konnte. „Um diese Alltagshürden nicht miterleben zu müssen, habe ich fix den Waffelteig selbst gemacht. Das Drama darum hat mich so genervt.“ Die Aggressionen in Sabine wachsen, je älter Hannah wird. Eine Jugendliche, deren Alltag scheinbar nur aus Hürden besteht und die ständig jammert, kostet Kraft. Dieser Kreislauf der Kraftlosigkeit hat Hannah in einen Kokon aus Überregulierung eingesponnen. Beide Eltern haben ihr immer weniger zugetraut und zugemutet.

Der Wendepunkt ist ein Satz des Seelsorgers

Mit etwas Abstand und zunehmender Kraftlosigkeit wuchs bei Sabine das Gefühl, „falsch“ zu sein: als Mutter, als Familie, als Lebensraum für Hannah. „Ich spüre mein Versagen. Dass ich mich der Verantwortung entziehe. Wir brauchen einen Wendepunkt.“ Im Nachdenken erinnert sie sich an die Gespräche mit dem Seelsorger: Der Wert eines Menschen bleibt in Gottes Augen hoch – unabhängig von seinem Verhalten, so verspricht es der christliche Glaube. Was sich für die Eltern als „verkorkst“ anfühlt, kann zu einem Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung werden. Das will Sabine angehen. Ab heute. Für jeden aus der Familie.

Während Hannah zu einem Personal Trainer geht, um ihre Körperpräsenz zu verbessern und an ihrem Stimmvolumen zu arbeiten, stehen auch Sabine und ihr Mann vor Entwicklungsaufgaben. Seinen Ängsten will Sabines Mann mit der Hilfe eines Facharztes die Stirn bieten. Warum er erst jetzt den Mut dazu hat, ist Sabine nicht klar. Vielleicht, weil sie sich bewusster positioniert und ihrem Mann zumutet, die Last seiner Ängste allein zu tragen. Sie will nicht mehr Sprachrohr seiner Sorgen sein. Sabine sucht ihren eigenen Standpunkt und wird in diesen ersten Schritten durch eine Kleingruppe der Kirche bestärkt. Täglich formuliert sie ein Gebet, um die Verantwortung für ihre Familie an Gott zurückzugeben. „Ich bin dadurch eher bereit, hinzusehen und mich nicht wegzuducken“, erklärt sie. Freundinnen haben Sabine immer wieder ermutigt, Hannah mehr zuzutrauen. Wahrzunehmen, was Hannah gelingt. Sabine beginnt zu strahlen, als sie von Hannahs erstem kleinen Job erzählt. Ein Mutlächeln erleuchtet ihr Gesicht. Sie wird ihre Tochter begleiten und ihr ins Leben helfen. Auch wenn das gesamte Internet wieder mal leer ist, wenn Hannah Waffeln backen will.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen, verheiratet und Mutter von drei (fast) erwachsenen Kindern.

*Die Namen wurden von der Redaktion geändert. 

„Es ist so eine Last, so eine schwere“

Tirza Schmidt begleitet und berät Frauen und Männer, die unter den Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs leiden. Vor drei Jahren hat sie in Bochum die VillaVie gegründet. Hier können Betroffene offen über Schmerz, Schuld und Trauer sprechen.

Mehrere Geschäfte säumen den Lahariplatz im Bochumer Stadtteil Laer. Eine Frau trägt zwei Einkaufstaschen über den Platz. Zwei ältere Herren, die auf einer Bank sitzen, sehen ihr nach. Von dem nahegelegenen Spielplatz hört man Kinderlachen. Mittendrin die VillaVie – Haus des Lebens. Der Ort absichtlich so gewählt. „Wir wollen das Thema Schwangerschaftsabbruch rausholen aus der Tabuzone“, sagt Gründerin Tirza Schmidt. Schwangerschaftsabbruch sagt sie, nicht Abtreibung. Für viele ihrer Klientinnen und Klienten sei das Wort Abtreibung „wie ein Schlag ins Gesicht“. Tirza will ihre Sprache sprechen. „Es ist eine Mauer aus Scham, Schmerz, Trauer und Schuldgefühlen, hinter der sich viele Betroffene verstecken“, weiß die Psychotherapeutin und Hebamme. „Sprache öffnet.“

Total überfordert

Sonnenlicht strahlt durch die große Fensterfront in die VillaVie. Mehrere Sitzecken gibt es hier, auf kleinen Tischen stehen Süßigkeiten für die Besucher bereit, Teelichter brennen. Es ist Besuchszeit. Tirza unterhält sich mit einer jungen Mutter, die auf einer Decke sitzt, auf der ihr Baby strampelt. Auch ein junger Mann ist gekommen. Er sitzt mit einer Tasse Kaffee auf einem Sessel und beobachtet das Baby. „Mein Kind wäre jetzt im Schulalter“, erzählt Hendrik (Name geändert), und sein Blick wird starr. „Immer, wenn ich die I-Dötzchen sehe, zieht es in der Magengegend, weil ich denke: Da könnte mein Kind jetzt auch mitlaufen.“

Der Schwangerschaftsabbruch, den er erlebt hat, liegt sieben Jahre zurück. Seine Freundin ist 15 Jahre alt, als sie erfährt, dass sie schwanger ist, er 17, beide gehen noch zur Schule. „Wir waren mit der Situation total überfordert.“ Sie überlegen hin und her, schreiben Pro- und Contra- Listen. Schließlich werfen sie eine Münze. Die Münze ist gegen das Kind. Weil die beiden Minderjährigen hierzulande die Zustimmung mindestens eines Elternteils für einen Schwangerschaftsabbruch brauchen, sie ihre Eltern aber aus der Sache raushalten wollen, kratzen sie ihre Ersparnisse zusammen und reisen in die Niederlande, wo sie diese Einwilligung nicht benötigen.
„Sie wollte das. Wir wollten das. Uns war klar: Wir können dem Kind nichts bieten“, sagt der 24-Jährige heute. Doch als er seine Freundin nach dem Eingriff aus der Klinik abholt, sind ihre ersten Worte: „Wir haben unser Kind gerade verloren.“ Sie weint auf dem gesamten Heimweg, den Rest der Woche, isst kaum etwas. Er ist für sie da, versorgt sie, funktioniert. „Ich bin so erzogen worden, dass ich keine Gefühle zeige. Ich wusste nicht, wie man trauert. Ich war komplett kalt.“

Die Trauer wegtrinken

Danach ist nichts mehr, wie es war. Während sie immer extrovertierter wird, wird Hendrik introvertierter und flieht in Alkohol und Glücksspiel. Obwohl er sie immer noch liebt, zieht er sich von ihr zurück. Mehrere Jahre geht das so, bis sie beschließen, sich zu treffen und ihrer Beziehung eine neue Chance zu geben. Doch zu diesem Treffen kommt es nicht mehr. Hendriks Freundin stirbt bei einem Verkehrsunfall. „Ich hab’s über Facebook erfahren und dann erst mal eine Runde gezockt.“ Doch diesmal kann er seinen Schmerz und seine Trauer nicht wegspielen, nicht wegtrinken. „Es kamen Gefühle in mir auf, mit denen ich überfordert war.“ Als sie merkt, dass ihr Sohn ihr ganzes Geld verzockt, bringt Hendriks Mutter ihn in eine Entzugsklinik. Eine lange Reise beginnt für Hendrik. „In den Therapien habe ich zum ersten Mal über mein Leben und meine Gefühle gesprochen. In mir war so viel Wut, weil meine Freundin gestorben ist und auch, weil ich mein Kind abgetrieben habe.“ „Mein Kind“, sagt er. Manchmal stellt er sich vor, es wäre ein Junge gewesen, Mika.

Hendrik ist vom Spielen und vom Alkohol losgekommen, hat sich eine Arbeit gesucht und ins Leben zurückgefunden. Seit eineinhalb Jahren besucht er regelmäßig die VillaVie. Die zusätzliche Therapie bei Tirza hilft ihm, den Schmerz zu verarbeiten. „Tirza hat mich nicht verurteilt, sondern mich so aufgenommen, wie ich bin.“

Unendlich viele Emotionen

Menschen wie Hendrik, die aufgrund einer bestehenden oder zurückliegenden Schwangerschaft in Schwierigkeiten stecken, zu helfen – das war schon als Kind Tirzas Wunsch. Früh weiß sie: Sie will Hebamme werden. In ihrer Ausbildung ist sie eine der Jüngsten. Während eines Praktikums bei einer Hebamme, die Frauen im Schwangerschaftskonflikt berät, erfährt sie: „Den Frauen ist überhaupt nicht bewusst, wie schwer so ein Schwangerschaftsabbruch ist. Körperlich, aber auch emotional.“ Berührt von der Trauer und dem Schmerz der Frauen liest sie sich durch Foren und stößt auf Sätze wie: „Es wird mich mein Leben lang verfolgen“, „Es ist so eine Last, so eine schwere“ und „Ich hab so unendlich viele Emotionen in mir: Wut, Hass, Enttäuschung, Trauer, Zweifel, Schmerz“. Sätze, die Betroffene nirgendwo anders aussprechen konnten. Sätze, die man nun, ausgedruckt und aufgehängt an einem Band, in der VillaVie liest.

„Die Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs müssen Betroffenen bewusst werden dürfen“, sagt Tirza. Dass es deutschlandweit wenige vergleichbare Anlaufstellen für Menschen gibt, die unter den Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs leiden, zeigt, wie sehr dieses Thema vernachlässigt wird – auch in Kirchen und Gemeinden. Bei fast jedem Vortrag, den Tirza dort hält, wird sie von Menschen angesprochen, die einen Abbruch hinter sich haben. Schwangerschaftsabbrüche machen vor keinem Alter, vor keiner Schicht und keiner Gruppe Halt.

Ein Glaubensschritt

Nachdem sie mehrere Jahre als Hebamme gearbeitet und sich zusätzlich als Heilpraktikerin für Psychotherapie ausbilden lassen hat, zieht Tirza Schmidt 2014 in den Keller ihrer Eltern, spart jeden Cent, erstellt ein Logo, Visitenkarten, baut ein Netzwerk auf. Zwei Jahre später unterschreibt sie den Mietvertrag für die Räume am Lahariplatz. „Es war ein Glaubensschritt“, sagt die 34-Jährige. „Ich wusste damals nicht mal, wie ich die Miete bezahlen soll. Mein Startkapital war klein.“ Mithilfe ihrer Unterstützer renoviert und gestaltet sie die Räume. Im Januar 2017 öffnet die VillaVie zum ersten Mal.

„In den ersten Monaten saß ich allein hier und hab gewartet“, erinnert sie sich. Die Leute blickten zwar neugierig durch die großen Fenster, trauten sich aber nicht hi-nein. Im März tritt zum ersten Mal eine Mutter ein. Heute hat sich die VillaVie im Stadtteil herumgesprochen. Das Team rund um Tirza ist gewachsen. Zwei weitere Mitarbeiterinnen betreuen die rund 20 Menschen, die jede Woche die VillaVie besuchen. Manchen empfiehlt Tirza, die inzwischen aus dem Keller ihrer Eltern ausziehen konnte, zur Therapie zu bleiben. Zu Sonderveranstaltungen kommen auch Menschen aus ganz Deutschland angereist, die durch die sozialen Medien auf die Beratungsstelle aufmerksam geworden sind – darunter nicht nur betroffene Frauen und Männer, sondern auch medizinisches Personal und Hebammen, die über ihre Erfahrungen sprechen möchten. Für die, die sich diesem Thema im besonders geschützten Raum stellen wollen, gibt es in der VillaVie einen separaten Hintereingang.

Die Schuldfrage

Die Aufmerksamkeit wächst – für ein brisantes Thema. Anfeindungen reduzieren sich bisher auf ein paar wenige Kommentare von Abtreibungsbefürwortern bei Instagram. Mit wachsender Bekanntheit könnte das zunehmen. Macht ihr das Angst? „Manchmal frage ich mich schon: Was ist, wenn unsere Fenster mit Eiern beworfen oder beschmiert werden? Vielleicht muss man auch damit rechnen?“, fragt sich Tirza, aber zuckt mit den Schultern. „Ich musste schon mit so vielem rechnen, als ich noch im Keller wohnte und keinen Cent hatte.“

Es sind eher andere Anfeindungen, mit denen Tirza zu kämpfen hat. „Wir machen unsere Türen sperrangelweit auf für Menschen, die abgetrieben haben. Uns wurde deshalb schon oft unterstellt, dass wir für Abtreibung sind“, erzählt Tirza und schüttelt den Kopf. Sind sie denn gegen Abtreibung? „Unsere Beratungen sind bewusst neutral gehalten“, betont Tirza. „Die Betroffenen müssen erst mal alles rauslassen: Wut, Trauer, Schmerz.“ Nur wenn der Ratsuchende von sich aus auf das Thema Glauben zu sprechen komme, gehen sie darauf ein, denn „fast alle Betroffenen stellen sich die Schuldfrage“. Dann kann auf einen liebenden und vergebenden Gott hingewiesen werden, damit die Betroffenen Frieden bekommen können.

Und Hendrik? Von der ersten und einzigen Ultraschalluntersuchung existiert ein Bild, das er damals, nach dem Schwangerschaftsabbruch, zusammen mit seiner Freundin an einer Stelle im Wald vergraben hat. Da liegt es bis heute. „Da liegt mein Kind. Ich hatte kein Grab. Es ist trotzdem wie ein kleiner Friedhof für mich.“ Er möchte besonders Männern Mut machen, darüber zu sprechen. „Wenn man es schafft, sich seinen Gefühlen zu stellen, merkt man, dass es einen nicht schwächer macht, sondern stärker.“

Ruth Korte ist freie Redakteurin bei Family und FamilyNEXT, Buchautorin und lebt mit ihrer Familie in Gießen. 

Die Farben des Schweigens

Die Kraft und die Macht des Schweigens werden häufig unterschätzt. Stefanie Diekmann, bekennende Extravertierte, hat die Stille in der Zweisamkeit für sich entdeckt – und warnt gleichzeitig davor.

Während im Hafen ein Segler sein Boot zum Auslaufen vorbereitet, blinzeln zwei Weggefährten in die Abendsonne und schweigen. Die Beobachter kommentieren das Geschehen nicht, sie plaudern auch nicht, sie schauen einfach zu und gewinnen innerlich Abstand vom Alltag. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich – als eine der beiden Schweigenden – im Nichtsprechen so geborgen fühlen könnte.

Als Henrik und ich heirateten, waren wir eine Wortwolke: kichernd und quatschend. Missbilligend durch den Lärm unseres Austausches musterte mich damals eine ältere Dame und legte mir ihre Hand aufs Knie: „Wenn ihr erst mal 15 Jahre verheiratet seid, habt ihr auch Funkstille. Dann ist es vorbei mit dem Reden.“ Wie ist das also mit dem Schweigen? Eine zwangsläufige Entwicklung in Beziehungen?

Seelische Gewalt

Ich halte das Schweigen nach wie vor für gefährlich: Nach einem Vortrag über Begleitung von Teenagern kommt ein Vater auf mich zu. Er wolle mir eine Rückmeldung geben: „Ich sage nichts mehr zu meinem Sohn. Er hat mein Schweigen verdient. Erst wenn er sich anders verhält, rede ich wieder mit ihm!“ In Sekundenschnelle erfasse ich, dass hier kein Kontakt unterbrochen ist, sondern ein Sender das Übermitteln von Signalen beendet hatte. Auch nach verschiedenen Fragen und dem Versuch, für den ringenden jungen Menschen Verständnis zu vermitteln, bleibt der Sender abgeschaltet. Mit verschränkten Armen und stetigem Kopfschütteln verändert sich vor meinem inneren Auge der 55-jährige Vater zu einem kleinen Jungen. „Kennen Sie Schweigen von Ihren Eltern?“, frage ich tastend. Ohne den Blick zu erwidern, nickt der Vater und beschreibt, wie er selbst nach einigen Tagen des Schweigens seiner Mutter alles versucht hatte, um Gnade zu erlangen. Noch bevor ich mein Mitgefühl für diese Erfahrung ausdrücken kann, dreht er sich um und geht.

Wir wissen heute, dass das Schweigen als Methode zur Zurechtweisung eine Form von seelischer Gewalt ist. Neben den aktiven Formen von psychischer Gewalt kann sie eben auch ausgeübt werden, indem man Dinge unterlässt. So wird der andere, das Opfer, beispielsweise über einen längeren Zeitraum gemieden, ignoriert und mit andauerndem Schweigen gestraft. Das Nicht-Teilen der Gedanken und Gefühle mit dem anderen, gerade wenn es emotional hoch hergeht, lässt den Suchenden im Labyrinth des Schweigens ohne Chance auf einen Ausgang zurück. Schweigen kann dann tiefschwarz wirken und im Gegenüber eine Eigendynamik mit Selbstgesprächen, Selbstzweifeln und Kummer auslösen. Wenn ich den anderen nicht mehr anspreche, nicht auf ihn reagiere, dann verweigere ich die Anerkennung, dass er existiert.

Als wir persönlich in einer großen Krise waren, hat uns das Schweigen vieler Menschen, aus welcher Motivation auch immer, sehr getroffen. Wie erdrückend schweres Grau hat sich durch das Schweigen eine Wand der Einsamkeit gebildet, die ich bis heute bekämpfe. Gerade in Kummer und Not dem anderen ein Signal zu senden, ist überlebenswichtig.

Funkstille

Schweigen kann ein bedrohliches Zeichen von Funkstille zwischen zwei Sendern sein. Sie haben durch eine lange zehrende Wegstrecke oder Differenzen den Kontakt zueinander verloren. Sie senden keine Signale mehr. In Begegnungen mit wortkargen Senioren, frustrierten Eltern, erschöpften Pastoren fühlt es sich bei mir so an, als würde das grau wirkende Schweigen auf eine verstummte Seele hinweisen.

Keine Worte mehr zu finden, heißt vielleicht aber auch, keine passenden wählen zu können, weil das Heute zu fordernd ist. Man ist so ausgelaugt, dass jeder Satz viel Überwindung kostet. Als unsere Kinder klein waren, haben wir es mit einem Eheabend außer Haus versucht. Für viele scheint das das große Heilmittel zu sein. Unsere Ehezeit war jedoch von Erschöpfung und farblosem Schweigen geprägt. Wir hatten einfach keine Worte mehr. Dabei wollten wir so gerne ein „gutes“ Paar sein, eines, das durch sorgfältige Pflege der Kommunikation Krisen vorbeugt. Die Enttäuschung darüber, dass wir uns nichts zu sagen hatten, erstickte den Rest unserer Gesprächsideen. Als wir in einem Kreis von Paaren davon erzählten, erwischte mich eine Rückmeldung dazu hart: „Das ist uns nie passiert. Wir nehmen uns so wichtig, dass wir uns Tage vorher schon Themen notieren. So ein Abend reicht für uns kaum aus, um alles zu besprechen.“ Erst viel später erfuhr ich, dass die anderen Paare sich nicht mehr aus der Deckung trauten, um von ihren wortlosen Abenden zu berichten. Wir haben es damals als hilfreich erlebt und erleben es immer noch, durch einen Film, einen Artikel oder andere Impulse von außen ins Gespräch zu kommen. Dabei spüren wir eine große Verbundenheit beim Humor der englischen Krimis oder dem täglichen Kaffee zwischendurch, wo wir uns von Telefonaten oder dienstlichen Situationen berichten. Wir sind am anderen interessiert – auf unsere Art.

Verbale Streicheleinheiten

Es ist keine Schande, wenn die Worte ausgehen und man sich anschweigt. Das bedeutet aber nicht, dass man sich mit diesem Zustand abfinden muss. Vor einigen Jahren begleitete ich eine Freundin in einer schweren Ehekrise. Sie beschrieb, wie sehr sie den Geruch ihres Mannes mag, wie sie es liebt, wenn er kocht oder mit den Kindern diskutiert. „Und, was sagt er, wenn du ihm das mitteilst?“, fragte ich. Irritiert sah sie mich an: „Er würde ziemlich verstört gucken und mich für gefühlsduselig halten. Das habe ich noch nie gesagt!“ Mir zog sich der Magen zusammen, als mir die Folgen dieser Antwort bewusst wurden. Alle lobenden Worte für seinen Fleiß, für ihren Mut, für gelungene Absprachen des Alltags wurden vom Schweigen erstickt.

Wie selten sagen wir uns im Alltag, was wir an unseren Freunden, Partnern und Kindern mögen. Wenn wir kleine Aufmerksamkeiten wie den liebevollen Gruß zum Geburtstag, eine hilfreiche E-Mail, die reparierte Lampe oder das frisch bezogene Bett nicht nur wahrnehmen, sondern auch würdigen, dann passiert etwas. Das Schweigen zu überwinden ist so, als wenn wir den Sender und Empfänger neu aufeinander eichen. Es ist vielleicht ungewohnt, hat aber wundervolle Wirkungen in unseren Beziehungen. Ich bin überrascht, wie sehr auch Lehrer, Polizis-ten und Ärzte strahlen, wenn ich etwas Gutes ausspreche.

Gesprächspausen zulassen

Manchmal allerdings wünschte ich mir die Erlaubnis zu schweigen. Auf einem Geburtstag von Bekannten fiel es mir unangenehm auf, wie Gesprächspausen als peinlich vermieden wurden und das zartgrüne hoffnungsvolle Schweigen unterdrückt wurde. Den ganzen langen Abend sprachen alle in Plattitüden über den schlimmen Einfluss von Social Media, Klimawandel und Schuldruck. Hätten wir das Schweigen ausgehalten, wer weiß, vielleicht wäre eine persönlichere Note in diesem Geplänkel möglich gewesen.

Auch in Kleingruppen und Gesprächskreisen meiner Kirche wünsche ich mir den Genuss, zusammen zu schweigen, wenn wir Bibel lesen. Das Nachspüren der Worte und der Relevanz für mich gelingt mir nicht, wenn sofort jemand eine druckfertige Antwort liefert und mich mit Klugheit blendet.

Als unsere Kinder ihre Entscheidungen trafen, wie es nach der Schule weitergehen sollte, habe ich viele blubbernde Wörter in mir gehabt, die als Empfehlungen unbedingt raus wollten. Das Schweigen zu bestimmten Hürden oder Hoffnungen ist aber rosa wie zarte Liebe. Ich gehe nicht bewusst als Mutter auf Distanz und schweige, sondern ich bleibe nah und zugewandt und behalte dennoch meine Kommentare und Hinweise erst mal für mich.

Vertrautes Schweigen

Schweigen dürfen ist Luxus, der wie ein goldener Schimmer Freundschaft und Ehen veredelt. Der Weg, um das zu lernen, hat wortreiche Konflikte gebraucht. Ich bin immer gern mit Henrik Auto gefahren. Früher haben wir jeden Satz und jedes Erlebnis der letzten Woche geteilt, heute können wir schweigen. Das Schweigen bedeutet nicht: Kontaktabbruch. Die Stille ist nicht gegen mich gewandt, sondern es ist sogar ein Gönnen der Ruhe und der Entspannung im alltäglichen Gestalten unserer Liebe. Und irgendwann sagt mein Mann in diesen Ehe-Moment der Ruhe meine Lieblingsworte: „Du, ich hab’ mir was überlegt!“ Ich liebe diese Worte, weil so mein Zutrauen in ihn für mich hörbar wird: Auch wenn er manchmal wenig spricht, trägt er sehr wohl Verantwortung für uns und unsere Kinder, und er bringt zum Ausdruck, wie sehr er seine Kirche liebt und unsere Freunde schätzt. Oft kommen dann erstaunliche Ideen zum Vorschein, wie eine neue Terrasse zum morgendlichen Kaffeetrinken und Beten, ein Kurzurlaub mit Freunden oder eine Unterstützung für eines unserer Kinder. Und wo ich mich gerade schreibend so freue: Ich müsste ihm dringend mal sagen, wie gern ich mit ihm schweige.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin und lebt mit ihrer Familie in Göttingen.