Symbolbild: Getty Images / Cultura / Christoffer Askman

Psychologe warnt vor Bullerbü-Komplex: „Eltern scheitern grandios an einem Idealbild“

Viele Familien sehnen sich nach einer heilen Welt wie der in Astrid Lindgrens Kinderbuch „Wir Kinder aus Bullerbü“. Psychologe und Buchautor Lars Mandelkow sieht darin eine Gefahr.

Was ist so schlimm an Bullerbü?
An Bullerbü ist erst mal gar nichts schlimm. Das ist ein wunderbares Kinderbuch. Ich habe es geliebt und meinen eigenen Kindern vorgelesen. Bedenklich ist allerdings, dass dieses Bullerbü-Bild bei vielen jungen Familien ein Idealbild geworden ist, dem manche hinterherstreben und dann grandios daran scheitern. Denn in unserer wirklichen Welt kann es nie so sein wie in Bullerbü. Ich kenne viele Familien, die versuchen, so einen pastellfarbenen Alltag hinzukriegen. Im rauen Alltag mit Schulterminen, Leistungsdruck etc. schaffen sie es aber nicht. Und meinen dann, sie hätten etwas falsch gemacht. Das ist schlimm an Bullerbü. Also nicht Bullerbü selbst, sondern die Art, wie es mehr oder weniger unbewusst instrumentalisiert wird.

Was sind denn Aspekte von Bullerbü, die Eltern gern in ihren Alltag integrieren würden?
Bullerbü ist die klassische heile Welt – diese drei Höfe, die in unberührter Natur in Schweden liegen. Es gibt keinen Arbeitsplatz, der weit entfernt ist. Alles ist zu Fuß zu erreichen. Die Kinder haben nichts weiter zu tun, als den ganzen Tag zu spielen. Und die Eltern bilden eine sanft lächelnde Kulisse. Alles ist ruhig und übersichtlich. Es gibt ein paar schöne Familienrituale, aber keine großen Konflikte. Es gibt nur wenig Beispiele von echten Problemen. Selbst der Tod und das Alter werden friedlich beschrieben. Es ist eine heile Welt. Auf ganz vielen Ebenen ist sie heil. Und das macht diese große Sehnsucht aus. Deshalb ist das so ein starkes Bild, weil sich viele Leute nach einer heilen Welt sehnen, sie aber nicht erleben.

Kinder brauchen entspannte Eltern

Sie fordern in Ihrem Buch „Der Bullerbü-Komplex“ Eltern auf, es „gut sein zu lassen“, und betonen, dass es reicht, „gut genug“ zu sein. Aber woher weiß ich, wann dieser Punkt erreicht ist?
Wenn man sich an dem Besten orientiert, ist es klar: Dann geht es immer aufwärts, immer das nächstbeste ist das Ziel. Sich an dem zu orientieren, das gut genug ist, ist eine Kunst. Sich mit etwas Durchschnittlichem nicht nur zu arrangieren, sondern es sogar besser zu finden als das ständige Streben nach dem Besseren – das ist eher ein Lebensraum als ein Zielpunkt. Wann kann ich beginnen, zufrieden zu sein? Wann habe ich das letzte Mal meine Kinder dafür gefeiert, dass sie eine Drei nach Hause gebracht haben? Wann habe ich mich selbst dafür gefeiert, dass mir eine Aufgabe „ganz gut“ gelungen ist? Und nicht „ganz großartig“? Es ist eine Haltungsübungssache, nicht immer nach oben zu gucken.

Was ist das Allerwichtigste in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern?
Wenn ich meine Kinder angucke und sie in meinem Blick Entspannung sehen, dann ist ganz viel erreicht. Wenn Kinder Eltern erleben, die entspannt sind mit sich selbst, mit der Familie, mit den Erwartungen, dann ist das etwas Zentrales. Wenn nicht dauernd die Unzufriedenheit im Vordergrund steht: „Hast du schon …? Bist du sicher, dass du nicht noch …?“ Wenn Unzufriedenheit und Unvollkommenheit immer im Fokus sind, kann das ein Gift sein in der Beziehung. Entspannte Eltern – das ist das, was Kinder am meisten brauchen.

Ist die Liebe sichtbar?

Es passiert aber wohl allen Eltern, dass sie mal die Beherrschung verlieren und ihr Kind anschreien.
Natürlich passiert es, dass Eltern ihre Kinder anschreien. Da muss man sich fragen, ob es das Grundmuster der Beziehung ist oder die Ausnahme. In den meisten Fällen ist es die Ausnahme, und Kinder können das durchaus wechseln. Es ist sogar gesund, wenn Kinder erleben, dass Mama oder Papa mal einen schlechten Tag haben. Wenn man sich fragt: Erleben meine Kinder eigentlich grundsätzlich, dass sie geliebt sind? Nicht 100 Prozent jeden Tag, aber regelmäßig, immer wieder an den meisten Tagen. Wenn man sie fragen würde: Lieben Papa und Mama dich? Und sie würden sagen: Ja. – Dann ist das gut genug. Es kommt auf den Grundton an. Ausnahmen sind normal. Wenn man sich diese Ausnahmen nicht gestattet als Eltern, kommt man schnell in die Überforderung. Ich habe den Eindruck, dass manche Eltern glauben, dass das nicht gestattet ist, weil sofort die psychische Krankheit der Kinder folgt oder ein Entwicklungsschaden.

Eltern haben in der Tat Angst, ihre Kinder könnten psychische Schäden davontragen, wenn sie etwas falsch machen oder dem Kind zu wenig Zuwendung geben. Sie schreiben in Ihrem Buch: „Es ist nicht der Mangel an Zuwendung, der Kinder krank macht. Es ist der absolute Mangel.“ Aber wie kommt es dann, dass Jugendliche psychisch krank werden, die aus Familien kommen, in denen es eine gute Beziehung und Zuwendung gibt?
Ich finde diese Frage ganz wunderbar – nur falsch gestellt. Wenn Sie die Frage so stellen, klingt es so, als wäre die Ursache für psychische Schwierigkeiten von Kindern als Allererstes in der Familie zu suchen. Die Frage, so wie Sie sie stellen, stellen sich viele Eltern auch und denken sofort: „Ich bin schuld. Ich habe irgendwas nicht gut genug gemacht.“ Meistens gibt es aber eine gute Beziehung zwischen Kindern und Eltern. Also kann es nicht daran liegen. Psychische Schwierigkeiten treten mit normalen Schwankungen überall auf, ganz unabhängig von der Familie. Vor allem aber glaube ich, dass viel mehr Ursachen für psychisches Ungleichgewicht aus der Umgebung der Kinder kommen: aus den Medien, aus der Schule, aus anderen Erwartungen, die um die Familie herum zu suchen sind. Und die Eltern, die eigentlich eine gute Beziehung zu den Kindern haben, könnten viel Gutes tun, wenn sie diese gute Beziehung selbstbewusst leben und in den Vordergrund stellen: „Wir haben es gut zusammen, bei mir kannst du einen sicheren Hafen finden.“

Gnade ist das Zentrum

Im dritten Teil Ihres Buches stellen Sie den Begriff der Gnade in den Mittelpunkt. Warum?
Zum einen ist der Begriff Gnade das Zentrum meines christlichen Glaubens. Es ist eine Aufgabe, mit mir selbst gnädig zu sein. Die Aufgabe, miteinander gnädig zu sein. Je mehr Gnade, desto besser. Und nicht: Je mehr Bullerbü, desto besser. Wir brauchen keine heile Welt, sondern in der Welt, in der wir leben, brauchen wir die Gnade als tragenden Grund. Und der ist uns geschenkt. Der andere Grund, warum mir das wichtig war in meinem Buch: Ich dachte, es ist zu wenig, nur das Problem zu beschreiben und zu versuchen, eine Lösung zu skizzieren. Denn es braucht ja auch einen Grund, auf dem das Ganze steht. Man braucht einen Ausgangspunkt für diese ganzen Gedanken.

Wie kann Gnade in der Familie praktisch gelebt werden?
Gerade in Momenten, wo der Druck steigt oder sich das Leben schwierig anfühlt, kann man sich angucken, was Gnade bedeutet: Wenn die Kinder mir als Gnadengabe geschenkt sind, was bedeutet das für meine Beziehung zu ihnen? Wie wäre ich als Vater, wenn ich ein gnädiger Vater wäre? Wie wäre ich als Ehemann, wenn ich Gnade wichtig finden würde? Oft hat das mit Geduld, mit Vergebung und mit Humor zu tun. Wenn ich merke, ich schaffe es nicht, alle Erwartungen zu erfüllen, dann kann ich mich in schlechtem Gewissen versenken oder ich kann die Gnade greifen und sagen: Ich bin, wie ich bin. Gnade bedeutet, dass ich so sein darf. Das ist ein Ausgangspunkt dafür, den nächsten Tag anders zu gestalten, ein bisschen freundlicher mit mir selbst und anderen zu sein.

Das Interview führte Bettina Wendland, Redakteurin bei Family und FamilyNEXT.

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