Auf dem Weg zum Ideal

Warum Ideale eine gute Motivation sein können. Und wo ihre Grenzen liegen. Von Mirjam Groß

Als unser erstes Kind unterwegs war, machten wir uns manche Gedanken und einige Anschaffungen, um uns auf den Neuankömmling vorzubereiten. Wir waren uns schnell einig, dass wir versuchen wollten, mit Stoffwindeln zu wickeln – laut unserer Recherche war es die umweltfreundlichere, kostengünstigere Variante und hatte noch andere Vorteile. Wir kauften gebraucht einen großen Karton Windeln, Einlagen und Vlies. Nach kurzer Zeit bekamen wir im Stoffwickeln Routine und unserem Sohn schienen die „Windelpakete“ auch nichts auszumachen.

Anderthalb Jahre später war ich am Anfang meiner zweiten Schwangerschaft und mir war häufig übel. Ich fühlte mich kraftlos, hatte keinen Appetit, brauchte sehr viel Schlaf. Und ich war sehr geruchsempfindlich. Ich brachte es kaum mehr über mich, den stinkenden Windeleimer in die Waschmaschine zu räumen. Das Auf- und Abhängen der Windeln strengte mich an. Mein Mann und ich beschlossen, eine Stoffwindel-Pause einzulegen, und kauften Einwegwindeln. Als wir uns weiter auf das Leben zu viert vorbereiteten und überraschend auch noch ein Umzug anstand, wurden wir uns wenige Wochen später einig, dass wir es dabei vorerst belassen würden.

AUF DIE FINGER SCHAUEN LASSEN

Das Leben mit zwei Kleinkindern ist bunt und voll. Im Moment bin ich dankbar, nicht abends noch Windeln falten zu müssen. Im Gespräch mit anderen Eltern merke ich zwar immer wieder, dass ich eigentlich vom Wickeln mit Stoff überzeugt bin. Aber ich bin auch versöhnt mit unserer Lösung. Nur manchmal nagen Zweifel an mir: Darf ich das überhaupt? Versöhnt sein mit etwas, das die Umwelt so belastet und meinen Idealen entgegensteht?

Ich habe Angst davor, unglaubwürdig zu sein. Wer Ideale propagiert, muss sich auch auf die Finger schauen lassen. Mein Eindruck ist, dass jeder nach Idealen strebt, auch wenn diese sich durchaus unterscheiden und sich nicht jeder gleich stark daran orientiert. Aber Ideale sind hip. Die Werbung spricht nicht nur unsere Bedürfnisse an, sondern auch unser Gewissen. Von Nachhaltigkeit und Fairness über Beziehungsideale, Sauberkeit und Individualität. Das stumme Versprechen lautet dabei: „Halte dich an diese Ideale und du wirst ein gutes, zufriedenes und glückliches Leben führen.“ So sehr ich auch selbst eine Idealistin bin, muss ich gestehen, dass die Sache nicht nur einen Haken hat: Zum einen sagt der Name schon, dass wir Ideale nicht ganz erfüllen können. Zum anderen wird es um uns herum und in uns selbst immer widerstreitende Ideale geben.

DER KAMPF DER IDEALE

Grundsätzlich erlebe ich Ideale als guten Ansporn, in eine Richtung zu gehen. Der Anreiz eines gesunden Körpergefühls motiviert mich zur Bewegung an der frischen Luft. Der Wunsch, meine Kinder in die Eigenständigkeit zu führen, hilft mir, die sieben Extra-Minuten beim Anziehen einzuplanen oder zumindest auszuhalten. Dennoch fühle ich mich schon in der eigenen Familie herausgefordert zu hinterfragen, woher meine Ideale kommen: Welchen Stellenwert hat Arbeit? Woher kommt mein Ideal zum Medienkonsum? Sind diese Ideale wirklich so ideal, wie ich meine?

Sind sie von Gott eingesetzt oder Teil meiner kulturellen, familiären oder meiner Persönlichkeits-Prägung?

Dann gibt es da noch widerstreitende Ideale in mir selbst. Mein schwäbisches Ich möchte gern so günstig wie möglich einkaufen, mein sozialkritisches Ich möchte auf jeden Fall gute Arbeitsbedingungen unterstützen und mein kreatives Ich hätte das Kleid am liebsten selbst genäht.

Mein Lehrerinnen-Ich möchte eine anregende Englischstunde für die Siebtklässler entwerfen, mein Hausfrauen-Ich mahnt mich dazu, jetzt wenigstens noch die Krümel unterm Tisch zusammenzufegen und mein Achtsamkeits-Ich ruft dazwischen, dass es nach dieser Erkältung das einzig Vernünftige wäre, gleich ins Bett zu gehen.

Mein Beziehungs-Ich ist nicht bereit, den Anruf einer kranken Freundin länger vor sich her zu schieben, mein Mama-Ich sträubt sich dagegen, den kleinen Bücherwurm mit seinem Wunsch nach Sofa-Bilderbuch-Zeit wegzuschicken und mein Gottesfreund-Ich gibt zu bedenken, dass auch die Sofazeit mit Gott die letzten Tage ausgefallen ist.

Mir wird klar: Ich kann es mir selbst nicht ganz recht machen. Einer der Idealisten in mir wird immer etwas beanstanden. Ähnlich verhält es sich mit meiner Umgebung:

Auch hier wird mein Verhalten nicht die Ideale aller Mitmenschen und sogar Mitstreiter erfüllen. Das tut manchmal weh und kann sogar Freundschaften beenden. Es kann an Ehen rütteln und Gemeinden auf die Probe stellen. Und: Es kann uns selbst ins Wanken bringen.

SELBSTZWEIFEL

Ideale prägen unsere Lebensführung und auch unseren Umgang mit uns selbst. Eine Bekannte, die ich wirklich bewundere für ihr Engagement in Richtung Selbstversorgung und nachhaltigem Lebensstil, war vor einiger Zeit am Boden zerstört, als wir miteinander sprachen. Der Fuchs hatte nachts all ihre selbst aufgezogenen Hühner erwischt. Sie hatte wohl die Tür nicht ausreichend gesichert und machte sich schwere Vorwürfe. „So etwas darf nicht passieren – und ich bin schuld …“

Ich finde es spannend, dass häufig gerade Menschen, die sich bewusst aus gesellschaftlichen Konventionen lösen, für sich selbst anhand von Idealen neue Erwartungen schaffen, an die sie sich umso stärker gebunden fühlen. Ich glaube, das ist sogar symptomatisch für unsere Gesellschaft von Individualisten. Wenn wir im Erreichen unserer (selbstgewählten) Ideale versagen, stellen sich bei vielen von uns tiefgreifende Selbstzweifel ein. Ich jedenfalls komme häufig an den Punkt, von mir selbst enttäuscht zu sein. Ideale offenbaren uns letztlich auch immer wieder, was wir alles nicht sind und nicht können. Ich kann nur unendlich dankbar dafür sein, dass ich an dieser Stelle weiß, wo mir vergeben wird und wer mich wieder aufbauen kann. Gott hat mir schon viele Lasten abgenommen.

Im „Idealfall“, wenn wir unseren selbstgesteckten Zielen nahe kommen, können Ideale uns auch selbstgerecht machen – aber eben nicht wirklich gerecht. Nur weil ich etwas so hinbekomme, wie ich es für richtig halte, bin ich nicht ein besserer Mensch. Wie gehe ich um mit Leuten, die meine Ideale nicht teilen? Liegen sie mir trotzdem am Herzen?

LIEBE UND BARMHERZIGKEIT

Bei einem Seminar hat ein älterer Pastor uns als junge Generation herausgefordert, die Ideale Gottes für voll zu nehmen. Sein Beispiel war: Soziales Engagement ist hip wie nie in der heutigen Zeit, Engagement in diesem Bereich und bewusster Konsum selbstverständlich für viele. Worauf liegt Gottes Augenmerk? Daniels Rat lautete: „Geht den ganzen Weg mit den Menschen, die Gott so sehr liebt. Könnt ihr Menschen aus Prostitution befreien oder ihre Arbeitsbedingungen verbessern, ihrer Integration helfen? Herrlich! Dann leitet sie auch darin an, wie man zu Jesus‘ Jüngern wird. Und dann zeigt ihnen, wie sie selbst Gottes Werke tun und Menschen zu Jüngern machen können!“ Die Bibel formuliert in 1. Korinther 13: „Wenn ich all dies erreiche, habe aber keine Liebe, dann bin ich nichts.“

Mich hat das nachdenklich gemacht, weil „gute Taten“ dann nicht mehr Selbstzweck sein können. Darüber kann und sollte ich mich nicht definieren. Alle Ideale müssen sich daran messen lassen, ob sie Gott Freude machen und Menschen (inklusive mir selbst) dienen. Wir können nicht wählen zwischen Idealen und Liebe. Wir brauchen beides. Wir brauchen das Bild vom großen Ganzen, das unser Tun motiviert. Wir brauchen Barmherzigkeit, um mit anderen Arm in Arm unterwegs zu sein, trotz derer und unserer Unvollkommenheit.

Daher will ich mich fragen: Verfolge ich ein Ideal, weil ich mich von anderen abgrenzen möchte? Brauche ich es, um mein Selbstwertgefühl wieder aufzurichten? Muss ich mir oder anderen damit etwas beweisen? Oder kann ich mit diesem Ideal Menschen lieben, wie Gott sie liebt? Meine Familie zum Beispiel mit vollwertigem, gesundem Essen – aber auch mit einer Nachtisch-Milchschnitte.

DER OBERSTE LEITSTERN

Für mich lösen sich Ideale damit von dem Anspruch, „erfüllt“ zu werden. Es geht darum, in eine Richtung unterwegs zu sein und nicht darum, das Ziel schon erreicht zu haben. Denn das ist in den meisten Fällen unmöglich. Wenn Liebe meine Motivation ist, dann bleibt es nicht bei guten Vorsätzen. Liebe ist tätig. Ich kann immer wieder an mir arbeiten und meine bisherige Routine überdenken. Dabei sind für mich als Nachfolgerin von Jesus aber Ideale nicht mein oberster „Leitstern“ – das ist und bleibt Gott selbst. Er möchte auch nicht, dass ich nach meiner Befreiung durch ihn wieder Sklave von Idealen werde. Ich bin so dankbar, dass Jesus nicht nur ein Ideal zur Orientierung ist, sondern eine Person. Ich werde zwar in diesem Leben nie seine Vollkommenheit erreichen, aber ich darf mit ihm in Beziehung leben und von ihm persönlich lernen – das ist besser als jede Idealvorstellung, an der ich mich orientieren könnte, weil er mich schon jetzt so annimmt, wie ich bin. Das motiviert mich am meisten!

Ich bin also nicht in erster Linie, was ich vielleicht gerne wäre:

  • eine Super-Mama
  • eine Künstlerin
  • eine Gesellschaftsaktivistin
  • eine Umweltschützerin
  • eine Selbstversorgerin
  • die beste Ehefrau

Ich bin in erster Linie ein geliebtes Geschöpf. Das macht mich fähig, andere zu lieben. Es macht mich auch fähig, viele Entscheidungen in Richtung guter Ideale zu treffen. Ich bin aber auch dann ein vollkommen geliebtes Geschöpf, wenn ich das nicht schaffe. Gleiches trifft für meine Mitmenschen zu! Weder sie noch ich halten es aus, an Idealen gemessen zu werden. Abgesehen davon hat sicher keiner von uns Idealisten bisher die perfekte Balance in all den widerstreitenden Leitideen gefunden. Hier will ich lernen, barmherzig zu sein mit mir selbst und anderen, ohne die als richtig erkannten Ideale aus dem Blick zu verlieren. Und ich will auf dem Weg bleiben, offen für Veränderungen: Vielleicht wird das nächste Kind ja doch wieder mit Stoff gewickelt, wer weiß? Die Hauptsache jedenfalls ist, dass es geliebt wird.

Mirjam Groß ist Ehefrau, Mama und Lehrerin und wohnt mit ihrer Familie auf der schwäbischen Alb.

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  1. […] Sie fordern in Ihrem Buch „Der Bullerbü-Komplex“ Eltern auf, es „gut sein zu lassen“, und betonen, dass es reicht, „gut genug“ zu sein. Aber woher weiß ich, wann dieser Punkt erreicht ist? Wenn man sich an dem Besten orientiert, ist es klar: Dann geht es immer aufwärts, immer das nächstbeste ist das Ziel. Sich an dem zu orientieren, das gut genug ist, ist eine Kunst. Sich mit etwas Durchschnittlichem nicht nur zu arrangieren, sondern es sogar besser zu finden als das ständige Streben nach dem Besseren – das ist eher ein Lebensraum als ein Zielpunkt. Wann kann ich beginnen, zufrieden zu sein? Wann habe ich das letzte Mal meine Kinder dafür gefeiert, dass sie eine Drei nach Hause gebracht haben? Wann habe ich mich selbst dafür gefeiert, dass mir eine Aufgabe „ganz gut“ gelungen ist? Und nicht „ganz großartig“? Es ist eine Haltungsübungssache, nicht immer nach oben zu gucken. […]

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