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Streit muss sein

Wenn Kinder miteinander streiten, belastet das nicht nur die Nerven der Eltern, sondern oft auch ihre Vorstellung von Familie. Wie mit Streit umgehen? Anregungen von Judith Oesterle

In der Werbung sitzen Familien oft glücklich gemeinsam am Esstisch. Sie unterhalten sich fröhlich und strahlen Harmonie aus. Mit der Sehnsucht nach diesem Idealbild bin ich Mutter geworden. Es war mir nicht wirklich bewusst. Aber es war da. Ich sehnte mich nach einer glücklichen Familie. Nach Harmonie am Esstisch. Nach fröhlichen Gesprächen. Nach Kindern, die gern miteinander spielen. Und in meinem Kopf setzte sich unbewusst der Gedanke fest, dass sich daran zeigt, ob ich eine gute Mutter bin.

Dann wurde ich Mutter. Ich bekam wundervolle Kinder mit viel Energie, großen Gefühlen und einem starken Willen. Meine Kinder waren nicht immer glücklich. Bei uns war es oft alles andere als harmonisch. Die Kinder weinten und schrien und stritten. Und ich wachte aus meinem Traum auf und fühlte mich als Versagerin.

Wenn Kinder rebellieren, sind sie gekränkt oder überfordert

Heute weiß ich, dass ich einem falschen Ideal gefolgt bin. Die Idee, dass ich nur dann eine gute Mutter bin, wenn immer Harmonie herrscht, darf ich zur Seite legen. Und mir anschauen, wie Familie auch ist. Für mich war es wichtig zu lernen, dass Kinder Teamplayer sind. Sie wollen mit uns kooperieren. Und sie wollen untereinander kooperieren. Wenn sie das nicht tun, hat das in der Regel zwei Gründe: Sie fühlen sich gekränkt. Oder sie sind überfordert.

Diese Überforderung kann aus der Situation heraus entstehen. Weil das Geschwisterkind etwas weggenommen hat, was man selbst möchte. Weil das Geschwisterkind etwas gesagt hat, was man nicht versteht. Diese Überforderung kann aber auch ohne Zusammenhang mit der Situation sein. Weil das Kind einen anstrengenden Schul- oder Kindergartenvormittag hatte. Weil es müde ist. Weil es Hunger oder Durst hat. Weil es zur Toilette muss.

„Bevor du einen Streit beginnst, überlege dir, ob du müde bist, Hunger oder Durst hast oder zur Toilette musst.“ In diesem Satz liegt so viel Wahrheit. Wenn diese körperlichen Bedürfnisse gestillt sind, können wir besser mit herausfordernden Situationen umgehen. Das gilt sowohl für uns als auch für unsere Kinder.

Drei Wahrheiten über Geschwisterstreit

1. Es ist normal, dass Geschwister streiten.
Forscher haben herausgefunden, dass es unter Geschwistern bis zu sechs Auseinandersetzungen in der Stunde gibt. Klingt nach viel. Ist aber normal. Wenn deine Kinder so häufig streiten, sagt das also nichts darüber aus, ob Sie eine gute Mutter oder ein guter Vater sind.

2. Es ist wichtig, dass Geschwister streiten.
Geschwisterstreit ist Training fürs Leben. Beim Streiten lernen die Kinder, wie man sich auf Regeln einigt, wie man verschiedene Interessen unter einen Hut bringt, wie man Kompromisse eingeht, wie man Verhandlungen führt und wie man in schwierigen Situationen gute Lösungen findet. Streit ist ein wichtiger Teil der Moralentwicklung, da es beim Streit oft um Fairness, Teilen und Gerechtigkeit geht. Häufig streiten Kinder um eine Sache: Wer darf mit dem einen bestimmten Playmobil-Männchen spielen? Wer bekommt den letzten Keks? Wer darf auf den Eckplatz beim Sofa? Egal, worum es geht: Wenn wir den Streit gut begleiten, bietet er eine enorme Chance!

3. Ein Streit muss nicht schnellstmöglich beendet werden.
Unsere Aufgabe als Eltern ist es nicht, den Streit so schnell wie möglich zu beenden, sondern ihn zu begleiten und die Kinder in ihrem Lernprozess zu unterstützen. Wie machen wir das am besten?

Sechs Tipps: So können Eltern mit Streit umgehen

  • Ruhig bleiben und die Kinder beruhigen: Einen Streit kann ich nur dann gut begleiten, wenn ich selbst ruhig bin. Deshalb mein Überlebenstipp: Bevor Sie zu Ihren streitenden Kindern gehen, atmen Sie tief durch, sammeln Sie sich und sagen Sie sich: „Alles ist gut. Es ist normal und wichtig, dass Kinder streiten.“ Dann gehen Sie hin und beruhigen Sie Ihre Kinder. Nehmen Sie sie in den Arm. Trocknen Sie die Tränen.
  • Allen Parteien zuhören: Hören Sie Ihren Kindern zu. Und das möglichst wertfrei. Es passiert uns so leicht, dass wir eine Situation vorschnell bewerten und die Kinder in Täter und Opfer einteilen, bevor wir überhaupt wissen, was passiert ist. Deshalb: Hören Sie zu! Fragen Sie, was passiert ist! Nehmen Sie sich Zeit!
  • Beschreiben, was passiert ist: Nach dem Zuhören hilft es, wenn wir in Worte fassen, was passiert ist: „Ach so. Du wolltest einen Polizeieinsatz spielen und brauchst dafür ganz viele Männchen. Und du wolltest, dass die Männchen einen Ausflug zum Zoo machen. Stimmt das?“ Wenn unsere Beschreibung richtig ist, kommt oft ein erleichtertes „Ja!“. Wenn sie falsch ist, melden uns das unsere Kinder sofort zurück. Und wir dürfen noch einmal eine Runde zuhören.
  • Regeln und Werte ansprechen: Wenn sie sich gehört fühlen, sind die Kinder oft bereit, zu hören, welche Regeln uns wichtig sind. Zum Beispiel, dass wir nicht möchten, dass ein Kind dem anderen wehtut.

Lösungen erarbeiten

  • Lösungen erarbeiten: Fühlen sich die Kinder gesehen und gehört, kommen sie oft auf wunderbare Lösungen. Wenn sie es allein nicht schaffen, können wir ihnen mit Fragen helfen: „Wie könntet ihr das denn am besten machen, dass beim Polizeieinsatz genügend Männchen dabei sind und der Zoo trotzdem viele Besucher hat?“ Vielleicht fällt den Kindern ein, dass in einer Kiste noch mehr Männchen sind. Vielleicht können sie einen Kompromiss eingehen und jeder bekommt nur ein paar Männchen. Oder vielleicht tun sie sich zusammen und spielen zuerst gemeinsam den Polizeieinsatz und danach den Zoobesuch. Das Wunderbare ist: Fühlen sich Kinder in ihrer Not gesehen, sind sie wieder in der Lage, miteinander zu kooperieren.
  • Lösungen umsetzen: In der Regel können wir uns an diesem Punkt zurückziehen. Und die Kinder können ihre Lösung selbst umsetzen.

Ist es jetzt also absolut falsch, wenn ich mich nach der Familie aus der Werbung sehne? Nein. Dieses Ideal darf sein. Und wir dürfen solche Harmonie-Momente genießen. Wir dürfen aber genauso wissen, dass es in jeder Familie auch diese anderen Situationen gibt. Und das ist gut so.

Judith Oesterle lebt mit ihrer Familie in Baden-Württemberg. Sie ist Sonderschul-Lehrerin, Coach für Mütter und bloggt unter judithoesterle.de und auf Facebook: JudithOesterle.inVerbindung