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Raus aus dem Teufelskreis: So beenden Sie die Machtkämpfe mit Ihrem Kind

Schwierige Phasen kennen wohl alle Mütter und Väter. Aber manche Kinder fordern ihre Eltern dauerhaft heraus. Pädagogin Sonja Brocksieper kennt diese Situation.

In deinem Buch „Mit Liebe bewaffnet“ geht es um herausfordernde Kinder – so heißt es im Untertitel. Was verstehst du darunter?
Das ist eine Umschreibung für das klassische „schwierige Kind“. Wir reden ja im Alltag schnell davon, dass unsere Kinder schwierig sind. Dann bekommen Kinder einen Stempel, dass sie nicht okay oder falsch sind. Mit dem Begriff„herausfordernde Kinder“ versuche ich, diesen Umstand etwas anders zu beschreiben. Es geht um Kinder, die nicht der Norm entsprechen, die ein bisschen anders ticken als andere und dabei aber nicht schlechter oder besser, sondern einfach anders sind. Sie bringen ihre Eltern an ihre Grenzen und fordern sie heraus, weil sie nicht in ein Schema passen.

Welche Art von Herausforderungen würdest du darunter fassen?
Das kann ganz vielschichtig sein. Es fängt an bei kleineren Dingen, zum Beispiel, dass die Persönlichkeit des Kindes anders ist als meine. Das ist ja herausfordernd, wenn mein Kind zum Beispiel sehr extravertiert ist, und ich selbst eher introvertiert bin. Die Kommunikation fällt schwerer, ich kann mich nicht so gut in mein Kind hineinversetzen und verstehe nicht so gut, wie es die Welt wahrnimmt. Es geht aber auch um Kinder, die eine Diagnose, Beeinträchtigung oder Behinderung haben oder die vielleicht eine Vorgeschichte mitbringen, weil sie Pflegekinder sind.

„Wenn der Liebestank der Kinder leer ist, rebellieren sie“

Man hört immer wieder Stimmen, die Kinder heute seien so schwierig, weil die Eltern sie zu sehr verwöhnen und keine Grenzen setzen. Siehst du das auch so?
Das trifft vielleicht auf manche Eltern zu. Wenn Eltern ihre Kinder zu sehr in Watte packen, ihnen alle Herausforderungen aus dem Weg räumen und Kinder völlig grenzenlos aufwachsen, kann das zu unreifen Verhaltensweisen der Kinder führen. Diese Eltern meinen es gut, wenn sie den Kindern alles ermöglichen. Aber das Bedürfnis des Kindes ist ja auch, selbstwirksam zu sein und herausgefordert zu werden. Einen verwöhnenden Erziehungsstil halte ich durchaus für problematisch, wenn sich das Kind in der Folge als das Zentrum der Welt empfindet. Aber ich würde es nicht darauf reduzieren, dass Kinder nur aus diesem Grund auffällige Reaktionen zeigen.

Ich glaube vielmehr, dass ein großer Teil der Schwierigkeiten in der Eltern-Kind-Beziehung darin liegt, dass die Liebe der Eltern nicht ankommt. Die meisten Eltern würden sagen: Ich liebe mein Kind. Aber aus unterschiedlichen Gründen fühlt ein Kind diese Liebe nicht. Und wenn der Liebestank der Kinder leer ist, rebellieren sie. In der Folge gibt es immer mehr Machtkämpfe und Reglementierungen der Eltern. Und dann sind nicht fehlende, sondern zu viele Grenzen das Problem. Es gibt also beide Seiten.

Viele Eltern kennen ja Zeiten, in denen sie ihr Kind als sehr anstrengend und herausfordernd erleben. Aber wie lang kann so eine Phase sein? Und wie merke ich, dass es ein eher grundsätzliches Problem ist?
Es ist völlig normal, dass es mal hakt oder man hier und da keinen Zugang zum Kind bekommt. Problematisch wird es, wenn das über mehrere Wochen geht und sich überhaupt nichts verändert. Wenn die Familienatmosphäre nur noch von Kampf und Streit belastet ist und man keine schönen Momente mehr haben kann. Wenn der Alltag davon dominiert wird, dass man von einem Machtkampf in den nächsten rutscht und nicht in der Lage ist, eine schöne Kuschelzeit zu haben oder einen schönen Tagesausflug zu genießen, weil es immer in Konflikte ausartet – dann gibt es einen dringenden Handlungsbedarf.

Machtkämpfe sind ein Teufelskreis

Du schreibst im Buch von einem Teufelskreis. Was meinst du damit?
Das ist eine Spirale, die sich immer mehr abwärts dreht. Da ist das Kind, das ein bisschen anders reagiert, als man sich das wünscht. Darauf reagiert man als Eltern und setzt eine Grenze. Meistens sind damit auch unangenehme Gefühle verbunden, die wir als Eltern haben. Dann reagiert das Kind darauf und protestiert, denn kein Kind bekommt gern Grenzen gesetzt. Auf diese Reaktion des Kindes reagiere ich wieder als Mutter oder Vater und bin genervt. Daraus entwickelt sich ein Machtkampf. Wenn das immer weiter läuft und wir keinen Ausstieg finden, werden die Emotionen auf beiden Seiten immer stärker. Und das Kind hat das Gefühl: Ich kann es meinen Eltern nie recht machen.

So habe ich das mit meinem Sohn auch erlebt. Wenn ich schwierige Momente mit ihm hatte, dachte ich: Wenn ich jetzt eine klare Grenze setze und ihm sage, wo es langgeht, dann wird er das schon verstehen. Aber es hat dazu geführt, dass er sich noch unverstandener gefühlt hat. Denn wenn die Grenzen zu eng werden, bekommt man keine Luft mehr. Und dann signalisieren die Kinder: Ich bin unzufrieden, ich fühle mich nicht gesehen, ich fühle mich nicht angenommen, ich darf nicht so sein, wie ich bin. Und dann reagieren sie mit Rückzug oder Rebellion.

Konflikte und Liebe schließen sich nicht aus

Welche Schritte sind nötig, um aus dieser Spirale rauszukommen?
Der entscheidende Punkt ist, dass Eltern die Verantwortung übernehmen und ihr Kind so annehmen, wie es ist. Mein Kind darf so sein mit seinen Besonderheiten und Charaktereigenschaften, die herausfordern. Ich selbst konnte diese Spirale durchbrechen, indem ich die bewusste Entscheidung getroffen habe, dass meine Liebe nicht von dem Verhalten meines Sohnes abhängig sein sollte. Wenn es Konflikte gegeben hat, habe ich trotzdem auch Grenzen gesetzt, wenn es nötig war, aber weniger in diesem Machtkampf-Modus.

Und es gab einige Momente, wo ich nach Konflikten zu ihm gesagt habe: „Auch wenn wir jetzt verschiedene Meinungen hatten, bist du trotzdem mein Kind. Ich hab dich trotzdem lieb und stehe zu dir. Und wir finden einen Weg.“ Mir war wichtig, dass er sicher sein kann, dass ich ihn lieb habe, auch wenn wir gerade Ärger haben. Das hat langfristig etwas verändert. Wir haben es dadurch geschafft, wieder auf eine warmherzige Beziehungsebene zu kommen.

Liebe ist eine Entscheidung

Aber wenn es mir schwerfällt, mein Kind zu lieben, weil es mich nervt oder wütend macht – was kann ich dann tun? Gefühle kann ich ja nicht „machen“.
Es ist richtig, dass man Gefühle nicht „machen“ kann, aber Liebe ist zunächst eine Entscheidung. Und wenn das am Anfang schwerfällt, würde ich empfehlen, dass man mit jemandem darüber redet, der einen unterstützt und vielleicht auch seelsorgerlich begleitet. Ich bin überzeugt, die Gefühle werden hinterherkommen. Das ist ein Prozess. Und wenn sich dann etwas verändert, kommen auch die Momente, in denen man wieder Liebe empfinden kann. Wenn das nicht funktioniert, muss man ein bisschen tiefer hingucken. Ich habe in meinem Buch ein paar Blockaden oder Hindernisse beschrieben.

Wenn man gar keinen Zugang zu seinen Gefühlen bekommt, kann das vielleicht an Erfahrungen aus der eigenen Kindheit liegen. Wenn man selbst als Kind eine unsichere Bindung hatte, dann wird es schwer, eine sichere Bindung zum eigenen Kind aufzubauen. Genauso können negative Glaubenssätze eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung verhindern. Wenn man trotz der Entscheidung, sein Kind anzunehmen, überhaupt nicht weiterkommt, ist es wichtig, mithilfe von Seelsorge oder Beratung den Ursachen auf die Spur zu kommen.

Du hast gerade beschrieben, dass du deinem Sohn einerseits Grenzen gesetzt, ihm aber auch vermittelt hast, dass du ihn liebst. Ich glaube, das ist für viele Eltern ein schwieriger Spagat zwischen schimpfen und kuscheln.
Ich finde, man kann auch mal schimpfen. Man kann auch mal sauer sein. Die Kinder können durchaus mitkriegen, dass man sich ärgert. Aber es muss aufgelöst werden, man darf in diesem Ärger nicht drinbleiben. Das hat etwas mit Vertrauen zu tun und dass ich dem Kind vermittele: Ich meine es gut mit dir, vertrau mir. Du wirst nicht immer alles verstehen, was ich mache, aber du bist mir wichtig.

Was hat dir geholfen?

Gab es in der Beziehung zu deinem Sohn eine Sache, die dir so richtig geholfen hat?
Ja, es gab einen Schlüsselmoment bei einem Seminar der Beratungsorganisation Team.F, wo ich vor vielen Jahren als Teilnehmerin war. Da erzählte eine Mitarbeiterin von ihrer angespannten Mutter-Tochter-Beziehung. Diese Mitarbeiterin hat beschrieben, wie sie in eine gute Beziehung kommen konnte. Das hat mein Herz tief berührt und ich habe die wichtige Entscheidung getroffen: Ich nehme mein Kind so an, wie es ist. Als Christin hat mir in den Jahren danach außerdem ein Bild immer wieder geholfen: Nämlich, dass mich Gott bedingungslos liebt, obwohl ich Fehler mache und manchmal Wege wähle, die ihm vielleicht nicht gefallen. Ich glaube, dass Gottes Herz trotzdem für mich immer offensteht und auch seine Arme weit offen sind. Dieses Bild hat mich immer wieder motiviert. So wie Gott uns Menschen liebt, möchte ich auch als Mama meinem Kind begegnen. Das ist für mich das perfekte Vorbild für Elternschaft.

Das Interview führte Bettina Wendland, Redakteurin bei Family und FamilyNEXT.

Sonja Brocksieper ist Diplom-Pädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Remscheid, bietet Vorträge und Seminare zu Erziehung und Familie an und ist Mitarbeiterin bei Team.F sowie Dozentin an der TEAM.F-Akademie. Gerade ist ihr Buch erschienen: „Mit Liebe bewaffnet. Wie wir unsere herausfordernden Kinder annehmen“ (SCM Hänssler). sonja-brocksieper.de

 

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