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Störenfried: Wenn das innere Kind dazwischenfunkt

Ein plötzlicher Ausraster, undefinierbare Gefühle – so oder anders kann sich das innere Kind zu Wort melden und die Harmonie in der Partnerschaft stören. Therapeutin Melanie Schüer erklärt die Zusammenhänge.

„Tut mir leid, ich weiß auch nicht, warum ich mich so aufgeregt habe. Irgendwas hat mich daran total getroffen …aber es ist nicht deine Schuld“, murmelt Lea, während sie sich Milch in ihren Kaffee gießt und zaghaft ihrem Mann zulächelt. Wieder mal ist sie ziemlich wütend geworden in einer Situation, die so ähnlich – das fällt ihr jetzt, mit etwas Abstand auf – immer wieder für Konflikte sorgt.

„Wenn ich mal so darüber nachdenke, geht es bei meinen Ausrastern ziemlich oft um dieses Thema Vergessen werden“, denkt sie laut nach. Und tatsächlich: Gerade hat ihr Mann den Käse vergessen, den sie so gern morgen zum Frühstück genossen hätte. Ihr Sohn hat vor ein paar Tagen nicht daran gedacht, ihren Brief zur Post zu bringen, als er in der Stadt war und als ihre beste Freundin hatte sich letzte Woche nicht, wie angekündigt, gemeldet. In all diesen Situationen hatte Lea ziemlich wütend reagiert – übertrieben wütend, wie sie selber findet, eigentlich unreif, kindlich. Und das ist ganz logisch, denn diese Situationen lösen aufgrund von Leas Biografie etwas aus, das ihr inneres Kind betrifft.

Das innere Kind und die Persönlichkeit

Manchmal nehmen wir Menschen in uns verschiedene Stimmen wahr. Das ist keine Spaltung der Persönlichkeit, sondern die normale Tatsache, dass jeder Mensch verschiedene innere Anteile besitzt. Diese inneren Anteile hängen auch mit unseren unterschiedlichen Rollen zusammen, die wir im Alltag einnehmen – zum Beispiel der Rolle als Freundin, als Partner, als Mutter, Vater, Angestellter oder als Schülerin. Das innere Kind ist der Teil unserer Persönlichkeit, der stark in unserer Kindheit verwurzelt ist. Hier kommen prägende Eindrücke, Gefühle und Erfahrungen aus unserer Kindheit zum Tragen.

Innerer Erwachsener – inneres Kind

Zwei oft sehr gegensätzliche innere Anteile sind das sogenannte ‚Erwachsenen-Ich‘ und das ‚Innere Kind‘. Wenn wir sicher in der Rolle als Erwachsene agieren und uns dem, was uns begegnet, gewachsen fühlen, dann ist das Erwachsenen-Ich in uns besonders präsent. Wir fühlen uns dann souverän, selbstsicher und kompetent – zumindest sind diese Gefühle stärker als Ängste, Sorgen oder Selbstzweifel. Es ist wortwörtlich der erwachsene, reife Teil unserer Persönlichkeit – man könnte auch sagen, „Die Stimme der Vernunft“. Das mag positiv klingen, beinhaltet aber auch negatives Potenzial im Sinne von Druck, Perfektionismus und Verlust von Lebensfreude. Wer immer nur auf die eigene innere Erwachsene hört, schwächt oft wichtige Aspekte des Lebens wie Fantasie, Unbeschwertheit, Freude oder Spontaneität.

In diesen Zuständen kommt ein anderer Anteil besonders stark zum Vorschein: unser inneres Kind. Das innere Kind kann uns befähigen, das Leben zwischendurch leicht zu nehmen und zu genießen. Wir können dann herumalbern und völlig im Moment sein. Gleichzeitig sind mit dem Inneren Kind auch bestimmte negative Erfahrungen verbunden. Wenn das innere Kind in uns stark wird, dann kann es auch passieren, dass wir uns unzulänglich, gedemütigt, abgelehnt, hilflos oder belächelt fühlen. Diese Gefühle hängen mit Erfahrungen aus unserer Kindheit zusammen, die natürlich individuell unterschiedlich sind. Sie werden in Momenten wach, in denen wir an Situationen aus unserer Kindheit erinnert werden – oft sprechen wir dann von „Triggern“. Es kann sich dann anfühlen, als wären wir in die Situation von früher zurückversetzt. So wie Lea, die mit Blick auf die Trigger-Situationen der letzten Zeit ein Muster erkennt und versteht, dass sie sich in diesen Momenten fühlt wie in bestimmten Situationen ihrer Kindheit.

Grundüberzeugungen auf der Spur

Prägende Erfahrungen in der Kindheit führen zur Entwicklung fester Grundüberzeugungen. Das sind quasi Glaubenssätze, die oft unbewusst unsere Sicht auf uns selbst, andere Menschen und Situationen formen. Grundüberzeugungen können zum Beispiel sein:

  • Wenn ich nicht alles perfekt mache, werde ich nicht akzeptiert
  • Wenn ich anders als andere bin, werde ich zurückgewiesen
  • Egal was ich tue, es ist nie genug
  • Ich darf nicht zu hohe Ansprüche stellen, um andere nicht zu nerven
  • Ich muss alles kontrollieren, weil ich sonst nicht sicher bin
  • Andere Menschen werden mich früher oder später enttäuschen
  • Wenn andere mich wirklich kennenlernen, mögen sie mich nicht mehr

Selbstverständlich gibt es auch positive Überzeugungen, zum Beispiel „Ich kann etwas leisten!“ oder „Ich darf meine Meinung sagen!“ Aber durch Krisen und Problemen, insbesondere in der Paarbeziehung, bekommen die negativen Grundüberzeugungen stärkeres Gewicht. Das hängt damit zusammen, dass wir uns in einer Paarbeziehung besonders öffnen und dadurch verletzlich machen und an unser Gegenüber Bedürfnisse und Erwartungen herantragen, die denen eines Kindes gegenüber den Eltern ähneln (Geborgenheit, Annahme, Liebe, Interesse, etc.).

Im Fall Lea

In Leas Fall könnte man die negative Grundüberzeugung in etwa so formulieren: „Wenn andere mich vergessen, zeigt das, dass ich ihnen nicht wichtig bin.“ Lea war mit einem völlig überforderten alleinerziehenden als Vater groß geworden. Der Vater hatte oft vergessen, Lea etwas zu Essen vorzuberteiten oder Lea vom Kindergarten abzuholen. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie dann als letztes Kind noch wartete, während ihr Erzieher Jan versuchte, ihren Vater zu erreichen.

Wenn Lea ihren Vater dann weinend begrüßte, spielte er das Problem herunter: „Ach komm, mach‘ doch nicht so ein Theater, Lealein. Ich komm doch immer irgendwann, oder etwa nicht? Es dreht sich doch nicht immer alles nur um dich.“ Irgendwann hatte sich Leas Traurigkeit mit Wut vermischt. Die Wut half ihr ein wenig, sich stärker zu fühlen. Das Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht angesichts der Traurigkeit, die ja ohnehin nur belächelt wurde, wurde ein wenig abgeschwächt durch die Wut über das Verhalten ihres Vaters. Und genau diese Gefühle kamen auch jetzt wieder hoch, wenn sich vergessen und infolgedessen nicht wertgeschätzt fühlte.

Das innere Kind und die Paarbeziehung

Diese negativen Grundüberzeugungen aus der Kindheit und die dazugehörigen Gefühle wie Scham, Angst Traurigkeit, Wut und Verhaltensweisen wie Konfliktvermeidung, übertriebene Anpassung oder mangelnde Offenheit haben einen enormen Einfluss auf die Entwicklung einer Paarbeziehung. Denn in einer solchen Beziehung machen wir uns besonders verletzlich und entwickeln eine enge Verbundenheit, die auch Verlassensängste oder Angst vor Abhängigkeit auslösen kann.

Im Paar-Alltag werden immer wieder Situationen entstehen, die uns an Erlebnisse aus der Kindheit entwickeln – oft sind wir uns dessen gar nicht bewusst. Diese Ähnlichkeit der Situation (zum Beispiel eine frustrierte Reaktion meines Partners, weil ich etwas nicht schaffe) kann die vertrauten Denkmuster, Gefühle und dann auch Verhaltensweisen auslösen, zum Beispiel, wenn Lea ihren Mann anschreit, weil sie sich in diesem Moment wieder wie die kleine, vergessene Lea fühlt und, weil die Traurigkeit sich zu überwältigend anfühlt, mit Wut reagiert.

Diese Dynamik kann Konflikten immer wieder befeuern, weil beide Partner nicht verstehen, was eigentlich gerade passiert. Scheinbare kindische, unreife Verhaltensweisen treten immer wieder zutage, denn handlungsleitend ist in diesen Fällen tatsächlich das innere Kind!

Das innere Kind auf frischer Tat ertappen

Um diese Zusammenhänge zu erkennen, ist es wichtig, zunächst einmal zu verstehen, welche Situationen zu Unstimmigkeiten und Konflikten führen. Überlegen Sie in einer ruhigen Situation, mit etwas Abstand zu einem konkreten Streit, ob Sie gewisse Muster erkennen können. Was haben die letzten Konfliktanlässe, an die Sie sich erinnern können, gemeinsam? Was sind Themen, die ähnlich sind – zum Beispiel Äußerung von Kritik, Umgang mit Verschiedenheit, Einstellungen zu bestimmten Fragen wie Haushaltsführung, Finanzen, Alltagsgestaltung. Meist kommen schnell Muster zum Vorschein und zeigen an, was Ihr inneres Kind oder das Ihres Gegenübers triggert.

Dann gilt es, ein wenig in der Zeit zurückzureisen: Inwiefern kennen Sie dieses Thema/ähnliche Situationen aus Ihrer Kindheit? Wie haben Sie sich damals gefühlt? Was war damals belastend und stressig? Was hat Sie verletzt, beschämt, wütend gemacht oder geängstigt?

Das innere Kind beruhigen

Wichtig ist, in so einem Reflexionsprozess das innere Kind nicht einfach beiseitezuschieben im Sinne von „Ach so, das liegt nur an meiner Kindheit – okay, das ignoriere ich.“ Das wäre auf Dauer nicht hilfreich, denn das innere Kind meldet sich an ähnlichen Stellen wieder, weil dieses Thema in der Kindheit nicht ausreichend geklärt und verarbeitet werden konnte. Es gilt daher, die Verletzung des inneren Kindes ernst zu nehmen und wie ein liebevoller Erwachsener mit Verständnis zu reagieren.

Es klingt vielleicht komisch, aber erlauben Sie sich ruhig ein wenig Kopfkino. Stellen Sie sich selbst als Kind in einer belastenden Situation vor, an die Sie sich noch erinnern können. Und dann gehen Sie in Ihrer Fantasie als heutiges, erwachsenes Ich auf Ihr jüngeres Ich zu und blicken es freundlich an. Sagen Sie ihm das, was Sie damals schon hätten hören müssen. Sprechen Sie Ihm Mut und Trost zu und erklären Sie, dass die Situation heute anders ist als damals. Wenn Sie offen dafür sind, stellen Sie sich auch gerne vor, sich dem inneren Kind zuwendet, es tröstet und stärkt.

Grundüberzeugungen verändern

Wenn Sie einen Schritt weitergehen möchten, reflektieren Sie auch, welche Grundüberzeugung hinter dem erlebten Konflikt stehen könnte – zum Beispiel im Beispiel von Lea: „Ich werde vergessen, weil ich nicht wichtig bin.“

Überlegen Sie, welche Erfahrungen zu dieser Überzeugung geführt haben – und welche anderen, positiven Erfahrungen und Erkenntnisse ihr widersprechen. Sammeln Sie ruhig Argumente, was für uns was gegen die Wahrheit dieser Überzeugung spricht. Und wenn sie der Realität nicht standhält, dann formulieren Sie – am besten schriftlich, so lernt unser Gehirn effektiver – eine positivere, realistische Grundüberzeugung – wie beispielsweise „Ich bin Gott so wichtig, dass er sogar die Zahl der Haare auf meinem Kopf kennt. Ich bin mir selber wichtig. Und es gibt Menschen, denen ich wichtig bin wie …..“ Lesen Sie sich die positiven Sätze immer wieder durch – so So können Sie neue Denkpfade prägen, die nach und nach Ihre Wahrnehmung prägen und zur Realität werden. Womöglich fühlt sich das anfangs künstlich an – das ist normal, denn Ihr Gehirn hat ja jahrelang das Gegenteil gedacht! Geben Sie dem Training also etwas Zeit.

Nicht alles geht in Eigenregie

Vieles können wir selbst durch Reflexion erreichen. Manche Prozesse brauchen aber Begleitung und Hilfe. Einige Grundüberzeugungen sitzen so tief, haben eine so destruktive Wirkung, manche Erfahrungen unseres inneren Kindes waren so massiv, dass eine Aufarbeitung alleine nicht gelingt. Ein freundliches, professionelles Gegenüber macht einen großen Unterschied und kann einen sehr heilsamen Prozess in Gang bringen. Psychotherapie, Lebensberatungsstellen und Seelsorge können dazu hilfreiche Angebote sein.

Melanie Schüer ist Mutter von zwei Kindern und areitet als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Autorin im Osnabrücker Land.

Eine schwere Geburt

Für Eva Sofia war es schrecklich. Nach der Geburt ihrer Tochter konnte sie sich nicht vorstellen, noch einmal ein Kind zu bekommen. Damit ist sie nicht allein. Für viele Frauen ist die Geburt ein schwieriges, manchmal sogar traumatisches Erlebnis. Sarah-Maria Graber zeigt Schritte, die beim Umgang damit hilfreich sind.

Unter Tränen versucht Eva Sofia Worte zu finden, um mit ihrem Mann den inneren Gefühlssturm zu teilen. Ihre Tochter ist gerade mal drei Tage alt. Wie soll sie es ihm nur sagen? Sie hatten doch von einer größeren Familie mit drei bis fünf Kindern geträumt. Aber jetzt ist alles anders. Nachdem die Schwangerschaft so schwierig verlaufen ist und mit einer traumatischen Geburt endete, kommen bei Eva Sofia große Zweifel auf. Das wird sie kein zweites, geschweige denn drittes Mal schaffen, weder körperlich noch emotional. Diese Ohnmachtsgefühle, ohne wirklich ohnmächtig zu werden, und diese lange Ungewissheit, wie alles werden wird. Und diese Sorge darum, ob es wohl dem Kind gut geht. Nein, das war dieses eine Mal schon zu viel.

„Ich weiß nicht, ob ich das nochmal schaffe“, gesteht Eva Sofia ihrem Mann. Es folgt eine längere Pause. Sie schweigen sich an. Irgendwann holt Eva Sofia eine Familienzeitschrift hervor mit dem Titel: „Ein-Kind-Familie ist auch Familie“ und drückt sie ihrem Mann in die Hand. Er schaut zuerst den Titel an, dann seine Frau, nickt verständnisvoll, streichelt ihr übers Haar. „Das ist okay so. Ein-Kind-Familie ist auch Familie.“ Mit diesen Worten und dem liebevollen Verständnis ihres Mannes fällt ein schwerer Stein von Eva Sofias Herz. Der Gedanke ist befreiend, dass sie das kein zweites Mal über sich ergehen lassen muss.

Eva Sofia hätte es in diesen Tagen und Wochen nach der Geburt nicht für möglich gehalten, dass die Zeit ihre Wunden heilt. Und dann passiert es doch. Die Zeit verstreicht und heilt. Die Erinnerungen verblassen langsam. Der Wunsch nach einem weiteren Kind gewinnt die Oberhand und lächelt der Angst ins Gesicht. Ihre Freundin Susanne, ebenfalls Mama, macht ihr Mut. Sie hat richtig schöne Geburten erlebt. Sie ermutigt Eva Sofia, es nochmal zu versuchen und sich den Traum einer größeren Familie nicht von diesem einmaligen Erlebnis nehmen zu lassen. Getragen von diesem Hoffnungsschimmer fasst sich Eva Sofia ein Herz und öffnet sich für eine weitere Schwangerschaft. Ein weiteres Mal macht sie sich verletzlich, lässt ihre Ängste zu und versucht, ihnen Hoffnung entgegenzuhalten. Sie bereitet sich intensiv auf die Geburt vor, fasst neues Vertrauen in den Geburtsprozess und in ihren Körper.

Und tatsächlich: Die zweite Geburt wird sogar ein heilsames Erlebnis für Eva Sofia und ihren Mann. Sie entscheiden sich für weitere Kinder. Auch die dritte und vierte Geburt verlaufen sanft und selbstbestimmt. Gemeinsam gebären sie in tiefer Verbundenheit mit Gott und erleben, dass Geburt sich wie ein besonderes Teamerlebnis anfühlen kann.

Wie Wunden heil werden

„Jede Geburt, egal, ob positiv oder negativ erlebt, ist eigentlich eine Überforderung für den weiblichen Organismus“, erklärt die Hebamme Carole Lüscher. „Nach der Geburt durchläuft deshalb jede Frau eine Phase der Verarbeitung, egal, wie die Geburt war.“ Die Verarbeitung ergibt im besten Fall ein stimmiges Bild, ein stärkendes Gefühl: Es hat sich gelohnt. Es war intensiv und ich habe das geschafft. Was für ein Wunder und was für eine Kraft!

Das ist aber längst nicht bei allen Frauen so, wie das Beispiel von Eva Sofias erster Geburt zeigt. Nach einer solchen Geburt bleibt die Erleichterung aus. Die Erinnerung wiegt schwer und löst immer wieder Trauer aus. Wie Wellen rollen Gefühle der Enttäuschung und Wut ins Bewusstsein, plötzlich und unangekündigt. Sie spülen Schmerz und Erinnerungen an die Oberfläche, die sich nach einer heilsamen Berührung sehnen. In der Verarbeitung können drei zentrale Erkenntnisse helfen:

1. Gegensätzliche Gefühle dürfen gleichzeitig in mir wühlen!

Ich darf mich freuen am Leben und an dem, was ich habe, und gleichzeitig trauern über das, was ich verloren habe oder vermisse. Ich darf wütend und trotzdem glücklich sein. Ich kann enttäuscht und trotzdem dankbar sein. Ich darf aber auch nur wütend sein. Ich darf zweifeln und jubeln. Ich darf danken und klagen. Oder nur klagen.

2. Meine Kreativität ist heilsam!

Gefühle und Gedanken aufzuschreiben, kann mir helfen, sie zu fassen. Auf dem Papier, schwarz auf weiß, werden sie sichtbar und begreifbar. Und irgendwann kann ich sie besser loslassen. Oder mich mit ihnen versöhnen und sie einordnen. Auch andere kreative Ausdrucksweisen können mir dabei helfen, das Innere zum Ausdruck zu bringen: Malen, Singen, Bewegen, Kochen, Tanzen. In der Kreativität schaffen wir Raum für die Begegnung mit dem Schöpferischen, mit dem Schöpfer. Es eröffnen sich neue Ideen oder Zusammenhänge oder Einsichten. Manchmal hilft es auch, mit anderen Menschen über Gefühle und Gedanken zu sprechen. Manchmal ist es aber auch hilfreich, eben nicht darüber sprechen zu müssen. Es darf sein, was gerade ist.

3. Gebet ist eine gute Entscheidung!

In diesen negativen Gefühlen kann die Tendenz entstehen, dass ich mich von Gott abkapsle und aus dem Gebet zurückziehe, um die unangenehmen Emotionen zu umgehen. Weil ich vielleicht auch über Gott enttäuscht bin, weil ich mich missverstanden fühle. Weil mein Glaube durch das Erlebte wackelt. Und gefühlt keinen weiteren Anstoß mehr verkraftet. Dann ist es eine bewusste Entscheidung, trotzdem zu beten und mich auf eine Begegnung mit Gott einzulassen. Wenn ich meine Fragen und meine Zweifel zulasse, werde ich offen für Antworten, für andere Perspektiven, für weiterführende Fragen, für eine heilsame Berührung. Das Hoffen und der Glaube an die Liebe und Güte Gottes, an seine heilsame Kraft und Treue kann in diesem Prozess eine grundlegende Ressource werden. Fragen bleiben offen und darin liegt Trost: Dass da Raum ist für unbeantwortete Fragen. Dass Gott so groß und herrlich ist, dass ich ihn nicht begreifen kann, nicht begreifen muss. Dass seine Wege anders sind als meine, aber dass er letztlich treu und heute noch lebendig ist. Seine Kraft wirkt in mir und an mir. Seine Sicht geht über das für mich Sichtbare hinaus.

Wenn die Erinnerung überwältigend bleibt

Wenn diese Hilfestellungen nicht reichen, bleibt die Erinnerung an die Geburt überwältigend und belastend. In diesen Fällen kann ein Geburtstrauma vorliegen. Dass eine Geburt ein Trauma hinterlassen hat, erkennen betroffene Frauen oft daran, dass sie Flashbacks haben: Belastende Erinnerungsfetzen tauchen unkontrollierbar auf und stellen den Alltag auf den Kopf. Die Ressourcen reichen nicht, um die Geschehnisse rund um die Geburt zu verarbeiten. Die Betroffene kommt nicht mehr zur Ruhe. Der innere Stress baut sich nicht ab, sie kann schlecht schlafen, ist schreckhaft und gereizt. Denn der Organismus und das Nervensystem der Betroffenen sind ständig im Alarmzustand, bleiben stecken in der Überforderung. Wie ein Stausee, der das Wasser nicht mehr abfließen lässt. Erneuter Stress, auch in geringem Ausmaß, und kleine Erinnerungsfetzen triggern diesen Zustand und wirken überfordernd. Wegen eines Tropfens läuft der See über.

Betroffene vermeiden um jeden Preis, dass dieses Trauma getriggert wird, indem sie zum Beispiel das Spital meiden, den Namen des Arztes nicht mehr lesen, der Hebamme aus dem Weg gehen, nicht über die Geburt sprechen. Doch das Kind erinnert sie weiterhin an die Geburt. Insbesondere sein erster Geburtstag zeigt bei vielen Betroffenen die Belastung auf: Sie würde ihn am liebsten überspringen, um nicht mit den Erinnerungen an die Geburt konfrontiert zu werden. Einige Paare stellen sich wie Eva Sofia die Frage, ob sie weitere Kinder wollen, weil sie eine erneute derartige Erfahrung verhindern möchten.

Die Verarbeitung kann aber auch hier gelingen. Traumata können gelöst werden. „Durch einen Umweg“, sagt Hebamme Carole Lüscher. Sie arbeitet seit Jahren mit traumatisierten Frauen, die Mütter werden. Um die Wucht des Wassers im Stausee zu minimieren, gehe es zuerst darum, die Ressourcen der Betroffenen zu stabilisieren, indem sie eine sichere Beziehung zu Therapeuten oder Fachpersonen aufbauen können, die sie dabei unterstützen. So soll es den Müttern gelingen, zunächst ihren Alltag zu bewältigen und dann Schritt für Schritt Raum zu schaffen, um Stress abzubauen. Der erste Schritt sei oft der schwierigste und auch der wichtigste: die Entscheidung, das Erlebte zu verarbeiten und sich Hilfe zu suchen. Sei es durch ein Gespräch mit einer Vertrauten, durch das Kontaktieren einer Therapeutin oder kompetenten Hebamme. Denn im Fall eines Traumas brauchen Betroffene professionelle Hilfe.

Das Ziel einer Therapie ist es dann, dass die Mutter das Geburtsgeschehen in die eigene Biografie integrieren kann. Dass sie die Geschehnisse verstehen und nachvollziehen kann. Dass sie einordnen kann, was passiert ist und sie sich damit versöhnt. Dass die Geburt Teil ihres Lebens wird und dass das okay für sie ist. So findet sie wieder Kontrolle über ihre Gefühle. Die Angst vor der erneuten Überflutung treibt immer weiter weg.

Für eine weitere Geburt kann das bedeuten, dass eine betroffene Frau mehr Informationen einfordert. Genau so hat es Eva Sofia erlebt. Sie wollte selbst Entscheidungen treffen, gut informiert sein und in den Geburtsverlauf miteinbezogen werden. Das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit durch vertraute Beziehungen – und durch den Glauben an einen liebevollen, versorgenden Gott – ist dabei ein wichtiger Schlüssel.

Sarah-Maria Graber ist Journalistin, Mutter von drei Kindern und lebt in Bern.