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„Es ist so eine Last, so eine schwere“

Tirza Schmidt begleitet und berät Frauen und Männer, die unter den Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs leiden. Vor drei Jahren hat sie in Bochum die VillaVie gegründet. Hier können Betroffene offen über Schmerz, Schuld und Trauer sprechen.

Mehrere Geschäfte säumen den Lahariplatz im Bochumer Stadtteil Laer. Eine Frau trägt zwei Einkaufstaschen über den Platz. Zwei ältere Herren, die auf einer Bank sitzen, sehen ihr nach. Von dem nahegelegenen Spielplatz hört man Kinderlachen. Mittendrin die VillaVie – Haus des Lebens. Der Ort absichtlich so gewählt. „Wir wollen das Thema Schwangerschaftsabbruch rausholen aus der Tabuzone“, sagt Gründerin Tirza Schmidt. Schwangerschaftsabbruch sagt sie, nicht Abtreibung. Für viele ihrer Klientinnen und Klienten sei das Wort Abtreibung „wie ein Schlag ins Gesicht“. Tirza will ihre Sprache sprechen. „Es ist eine Mauer aus Scham, Schmerz, Trauer und Schuldgefühlen, hinter der sich viele Betroffene verstecken“, weiß die Psychotherapeutin und Hebamme. „Sprache öffnet.“

Total überfordert

Sonnenlicht strahlt durch die große Fensterfront in die VillaVie. Mehrere Sitzecken gibt es hier, auf kleinen Tischen stehen Süßigkeiten für die Besucher bereit, Teelichter brennen. Es ist Besuchszeit. Tirza unterhält sich mit einer jungen Mutter, die auf einer Decke sitzt, auf der ihr Baby strampelt. Auch ein junger Mann ist gekommen. Er sitzt mit einer Tasse Kaffee auf einem Sessel und beobachtet das Baby. „Mein Kind wäre jetzt im Schulalter“, erzählt Hendrik (Name geändert), und sein Blick wird starr. „Immer, wenn ich die I-Dötzchen sehe, zieht es in der Magengegend, weil ich denke: Da könnte mein Kind jetzt auch mitlaufen.“

Der Schwangerschaftsabbruch, den er erlebt hat, liegt sieben Jahre zurück. Seine Freundin ist 15 Jahre alt, als sie erfährt, dass sie schwanger ist, er 17, beide gehen noch zur Schule. „Wir waren mit der Situation total überfordert.“ Sie überlegen hin und her, schreiben Pro- und Contra- Listen. Schließlich werfen sie eine Münze. Die Münze ist gegen das Kind. Weil die beiden Minderjährigen hierzulande die Zustimmung mindestens eines Elternteils für einen Schwangerschaftsabbruch brauchen, sie ihre Eltern aber aus der Sache raushalten wollen, kratzen sie ihre Ersparnisse zusammen und reisen in die Niederlande, wo sie diese Einwilligung nicht benötigen.
„Sie wollte das. Wir wollten das. Uns war klar: Wir können dem Kind nichts bieten“, sagt der 24-Jährige heute. Doch als er seine Freundin nach dem Eingriff aus der Klinik abholt, sind ihre ersten Worte: „Wir haben unser Kind gerade verloren.“ Sie weint auf dem gesamten Heimweg, den Rest der Woche, isst kaum etwas. Er ist für sie da, versorgt sie, funktioniert. „Ich bin so erzogen worden, dass ich keine Gefühle zeige. Ich wusste nicht, wie man trauert. Ich war komplett kalt.“

Die Trauer wegtrinken

Danach ist nichts mehr, wie es war. Während sie immer extrovertierter wird, wird Hendrik introvertierter und flieht in Alkohol und Glücksspiel. Obwohl er sie immer noch liebt, zieht er sich von ihr zurück. Mehrere Jahre geht das so, bis sie beschließen, sich zu treffen und ihrer Beziehung eine neue Chance zu geben. Doch zu diesem Treffen kommt es nicht mehr. Hendriks Freundin stirbt bei einem Verkehrsunfall. „Ich hab’s über Facebook erfahren und dann erst mal eine Runde gezockt.“ Doch diesmal kann er seinen Schmerz und seine Trauer nicht wegspielen, nicht wegtrinken. „Es kamen Gefühle in mir auf, mit denen ich überfordert war.“ Als sie merkt, dass ihr Sohn ihr ganzes Geld verzockt, bringt Hendriks Mutter ihn in eine Entzugsklinik. Eine lange Reise beginnt für Hendrik. „In den Therapien habe ich zum ersten Mal über mein Leben und meine Gefühle gesprochen. In mir war so viel Wut, weil meine Freundin gestorben ist und auch, weil ich mein Kind abgetrieben habe.“ „Mein Kind“, sagt er. Manchmal stellt er sich vor, es wäre ein Junge gewesen, Mika.

Hendrik ist vom Spielen und vom Alkohol losgekommen, hat sich eine Arbeit gesucht und ins Leben zurückgefunden. Seit eineinhalb Jahren besucht er regelmäßig die VillaVie. Die zusätzliche Therapie bei Tirza hilft ihm, den Schmerz zu verarbeiten. „Tirza hat mich nicht verurteilt, sondern mich so aufgenommen, wie ich bin.“

Unendlich viele Emotionen

Menschen wie Hendrik, die aufgrund einer bestehenden oder zurückliegenden Schwangerschaft in Schwierigkeiten stecken, zu helfen – das war schon als Kind Tirzas Wunsch. Früh weiß sie: Sie will Hebamme werden. In ihrer Ausbildung ist sie eine der Jüngsten. Während eines Praktikums bei einer Hebamme, die Frauen im Schwangerschaftskonflikt berät, erfährt sie: „Den Frauen ist überhaupt nicht bewusst, wie schwer so ein Schwangerschaftsabbruch ist. Körperlich, aber auch emotional.“ Berührt von der Trauer und dem Schmerz der Frauen liest sie sich durch Foren und stößt auf Sätze wie: „Es wird mich mein Leben lang verfolgen“, „Es ist so eine Last, so eine schwere“ und „Ich hab so unendlich viele Emotionen in mir: Wut, Hass, Enttäuschung, Trauer, Zweifel, Schmerz“. Sätze, die Betroffene nirgendwo anders aussprechen konnten. Sätze, die man nun, ausgedruckt und aufgehängt an einem Band, in der VillaVie liest.

„Die Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs müssen Betroffenen bewusst werden dürfen“, sagt Tirza. Dass es deutschlandweit wenige vergleichbare Anlaufstellen für Menschen gibt, die unter den Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs leiden, zeigt, wie sehr dieses Thema vernachlässigt wird – auch in Kirchen und Gemeinden. Bei fast jedem Vortrag, den Tirza dort hält, wird sie von Menschen angesprochen, die einen Abbruch hinter sich haben. Schwangerschaftsabbrüche machen vor keinem Alter, vor keiner Schicht und keiner Gruppe Halt.

Ein Glaubensschritt

Nachdem sie mehrere Jahre als Hebamme gearbeitet und sich zusätzlich als Heilpraktikerin für Psychotherapie ausbilden lassen hat, zieht Tirza Schmidt 2014 in den Keller ihrer Eltern, spart jeden Cent, erstellt ein Logo, Visitenkarten, baut ein Netzwerk auf. Zwei Jahre später unterschreibt sie den Mietvertrag für die Räume am Lahariplatz. „Es war ein Glaubensschritt“, sagt die 34-Jährige. „Ich wusste damals nicht mal, wie ich die Miete bezahlen soll. Mein Startkapital war klein.“ Mithilfe ihrer Unterstützer renoviert und gestaltet sie die Räume. Im Januar 2017 öffnet die VillaVie zum ersten Mal.

„In den ersten Monaten saß ich allein hier und hab gewartet“, erinnert sie sich. Die Leute blickten zwar neugierig durch die großen Fenster, trauten sich aber nicht hi-nein. Im März tritt zum ersten Mal eine Mutter ein. Heute hat sich die VillaVie im Stadtteil herumgesprochen. Das Team rund um Tirza ist gewachsen. Zwei weitere Mitarbeiterinnen betreuen die rund 20 Menschen, die jede Woche die VillaVie besuchen. Manchen empfiehlt Tirza, die inzwischen aus dem Keller ihrer Eltern ausziehen konnte, zur Therapie zu bleiben. Zu Sonderveranstaltungen kommen auch Menschen aus ganz Deutschland angereist, die durch die sozialen Medien auf die Beratungsstelle aufmerksam geworden sind – darunter nicht nur betroffene Frauen und Männer, sondern auch medizinisches Personal und Hebammen, die über ihre Erfahrungen sprechen möchten. Für die, die sich diesem Thema im besonders geschützten Raum stellen wollen, gibt es in der VillaVie einen separaten Hintereingang.

Die Schuldfrage

Die Aufmerksamkeit wächst – für ein brisantes Thema. Anfeindungen reduzieren sich bisher auf ein paar wenige Kommentare von Abtreibungsbefürwortern bei Instagram. Mit wachsender Bekanntheit könnte das zunehmen. Macht ihr das Angst? „Manchmal frage ich mich schon: Was ist, wenn unsere Fenster mit Eiern beworfen oder beschmiert werden? Vielleicht muss man auch damit rechnen?“, fragt sich Tirza, aber zuckt mit den Schultern. „Ich musste schon mit so vielem rechnen, als ich noch im Keller wohnte und keinen Cent hatte.“

Es sind eher andere Anfeindungen, mit denen Tirza zu kämpfen hat. „Wir machen unsere Türen sperrangelweit auf für Menschen, die abgetrieben haben. Uns wurde deshalb schon oft unterstellt, dass wir für Abtreibung sind“, erzählt Tirza und schüttelt den Kopf. Sind sie denn gegen Abtreibung? „Unsere Beratungen sind bewusst neutral gehalten“, betont Tirza. „Die Betroffenen müssen erst mal alles rauslassen: Wut, Trauer, Schmerz.“ Nur wenn der Ratsuchende von sich aus auf das Thema Glauben zu sprechen komme, gehen sie darauf ein, denn „fast alle Betroffenen stellen sich die Schuldfrage“. Dann kann auf einen liebenden und vergebenden Gott hingewiesen werden, damit die Betroffenen Frieden bekommen können.

Und Hendrik? Von der ersten und einzigen Ultraschalluntersuchung existiert ein Bild, das er damals, nach dem Schwangerschaftsabbruch, zusammen mit seiner Freundin an einer Stelle im Wald vergraben hat. Da liegt es bis heute. „Da liegt mein Kind. Ich hatte kein Grab. Es ist trotzdem wie ein kleiner Friedhof für mich.“ Er möchte besonders Männern Mut machen, darüber zu sprechen. „Wenn man es schafft, sich seinen Gefühlen zu stellen, merkt man, dass es einen nicht schwächer macht, sondern stärker.“

Ruth Korte ist freie Redakteurin bei Family und FamilyNEXT, Buchautorin und lebt mit ihrer Familie in Gießen. 

Schimmer im Scherbenhaufen

Eine Mutter stirbt bei der Geburt. Solche Schicksale hinterlassen oft große Fragezeichen – auch im Umfeld der Betroffenen. Stefanie Diekmann erzählt vom Zerbrechen, Verarbeiten und einer neuen Hoffnung.

Zu meiner Arbeit als Pädagogin gehört auch die Gestaltung einer Eltern-Kind-Oase in unserer Gemeinde. Es ist ein wilder, fröhlicher Haufen von Kindern zwischen null und sechs Jahren, ihren Geschwistern und Eltern. Diese Nachmittage sind Zeiten, in denen die Eltern mit unserer Fürsorge und einem guten Kaffee verwöhnt werden, während die Kinder beim Toben, Singen und Basteln auf ihre Kosten kommen. In der letzten Zeit haben wir als Oase immer wieder Kinder und ihre Mütter in die nächste Lebensphase verabschiedet. Besonders aber haben wir neue Schwangerschaften gefeiert und mit den Eltern mitgefiebert. Ein Geburtstermin nach dem anderen stand an. Inzwischen schleppten sich nur noch zwei Mütter in die Oase. Eine davon war Anett*. An einem Nachmittag wirkte sie angeschlagen und ich überredete sie, mit mir an den Büchertisch der Gemeinde zu gehen. Zu Beginn ihrer Zeit in der Oase hatte Anett nicht viel mit dem „Religiösen“ anfangen können. Für ihren Sohn Tom hatte sie nach Abendgebeten gefragt, da ihr hierfür die Worte fehlten. Nun, zwei Jahre später, stöberte sie durch das Angebot des Büchertisches: „So wie ihr kann ich es nicht. So viele Worte um meinen Glauben finden. Das ist mehr etwas für mich persönlich.“ Mit dem Bauch voller Hoffnungen stand sie vor mir. Ich verabschiedete sie an diesem Tag mit einem Gebet.

VOM SCHICKSAL ÜBERRANNT
Dann hörten mein Team und ich nichts mehr von Anett. Gar nichts. Ich konnte die aufkeimenden Sorgen nicht wegscheuchen und wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich versuchte, mich selbst zu ermutigen: Wie gut, dass sie als Heilerzieherin ein Profi ist! Sie wird sicher klarkommen. Doch meine Sorgen wollten sich nicht vertreiben lassen. Ist etwas mit dem Baby? Dann bekam ich einen Anruf von Anetts Mann: „Hallo … Ist da die Steffi von der Spiel-Oase? Ich wollte Bescheid sagen, dass Ida geboren ist.“ Wie aus der Pistole geschossen fragte ich: „Und … ihr habt Sorgen?“ „Ja. Ich muss dir sagen … Anett ist gestorben.“ Vor meinem inneren Auge erschien in diesem Moment ein schreiend großes „SIEHST DU!“ Mein Bauchgefühl hatte mich nicht betrogen. Es stimmte etwas nicht. Alles stimmte nicht. Obwohl mein Kreislauf wegzusacken drohte, schaffte ich es, dem Vater zuzuhören. Er beschrieb mir, dass Anett zu viel Blut verloren hatte und operiert werden musste. Nach einem Herzstillstand konnte sie nicht wiederbelebt werden. Trotzdem schaffte es der Vater, von seiner kleinen Ida zu schwärmen und begeisterte mich mit.

GEMEINSAM DEM SCHMERZ BEGEGNEN
In den nächsten Wochen rangen alle Mütter aus der Spiel- Oase darum, einen Weg des Trauerns zu finden. Nach der ersten Welle voller Fragen kamen wir in der bitteren Realität an. Einer Realität ohne Anett. Wenn der klassische Lebensverlauf unterbrochen wird und vor unseren Augen das Bild einer heilen Welt zerfällt, löst das in uns Schmerz und Trauer aus. Wir Mütter reagierten in dieser Situation sehr verschieden: Einige bezogen Anetts Schicksal auf das eigene Leben und wollten auf keinen Fall noch einmal schwanger werden. Andere suchten die Schuld beim Arzt. Die Mütter mit den Neugeborenen konnten es kaum aushalten, ihren Säugling zu wiegen und zu stillen, ohne an Ida zu denken und Anett zu vermissen. Wir versuchten gemeinsam, für die großen Geschwisterkinder der Gruppe, die zwischen fünf und elf Jahre alt sind, Worte zu finden. In einer der Familien war der Family- Kalender eine Hilfe. Im Monat Dezember ist dort ein Zitat von Friedrich von Bodelschwingh zu finden: „Advent und Weihnachten ist wie ein Schlüsselloch, durch das auf unsren dunklen Erdenweg ein Schein aus der Heimat fällt.“ Dieses Bild half dabei, der kleinen Frida zu erklären, dass Anett Heimat gefunden hat. Das Mädchen konnte das Bild gut aufnehmen, stellte viele Fragen und konnte trotz aller Trauer verstehen, dass es gut ist, bei Jesus zu sein. Ein anderes Mädchen wollte gerne mit zur Trauerfeier, um Anett zu verabschieden.

WO IST GOTT?
Und Gott? Wie gestaltet sich Nähe zu Gott in diesem Scherbenhaufen? Am Tag ihres Sterbens hatten wir unsere Oasen- Gruppenstunde gehabt, und ich hatte einen Impuls vorbereitet. Dabei ging es um das perfekte Bild, das wir so oft vom Leben haben. So rund und makellos wie eine schöne Glaskugel. Unsere Hoffnungen sind dann vielleicht: Mein Mann könnte und sollte … Ich wünsche mir von meinen Kindern mehr dies und das … Wenn es Sommer wird, dann renovieren wir erst hier, dann dort … Doch manchmal wird aus dem rundherum Perfekten ein Scherbenhaufen. Vorstellungen zerplatzen und ich erkenne, dass mein Mann als Vater doch nicht so entspannt ist, wie ich dachte. Mein Kind braucht vielleicht mehr Nähe, als ich geben kann. Oder mein Gehalt reicht nur zu einem Topf Farbe. Gott ist dabei kein Spaßverderber. Er will uns nicht innerlich zerbröseln. Er kann aus den Scherben meiner Vorstellungen Glimmer machen, indem er die Scherben so fein zerreibt, dass sie dem Leben einen neuen glitzernden Schimmer geben. Diese Gedanken gelten auch im Abschiednehmen von dieser fröhlichen jungen Frau: Gott bleibt gleich, auch wenn der Schmerz groß ist. Die Mütter in unserer Oase formulierten ihren Schmerz und kamen sich auf diese Weise näher. Sie forderten sich in einer WhatsApp-Gruppe gegenseitig auf zu beten, sich bewusst über den Tag zu freuen und den Glimmer Gottes wahrzunehmen. Wir alle sind gewiss und sehr neugierig darauf, wie dieser Segensglitter im Leben von Tom und Ida deutlich wird. Noch fällt es schwer, sich das auszumalen. Doch Gottes Geheimnisse sind sehr oft unvorstellbar für uns.

*Alle Namen wurden geändert.

family_16_6_ds-pdf-adobe-acrobat-pro-dcStefanie Diekmann ist Diplom-Pädagogin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Ingelheim am Rhein.