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Wenn’s mal wieder laut wird… – So gelingt der Umgang mit der Wut

Im alltäglichen Familientrubel kann es schnell hitzig werden. Wenn die Wut hochkocht, braucht es starke Nerven. Psychotherapeutin Melanie Schüer gibt Tipps, was Eltern und Kindern hilft.

Knallende Türen, lautes Geschimpfe und jede Menge Tränen – dass die Wut immer mal wieder hoch- bzw. auch überkocht, kennen wohl alle Familien. Und das ist auch ganz nachvollziehbar. Denn Kinder zu erziehen, nebenbei den Haushalt zu führen, den Familienalltag zu organisieren und womöglich auch noch zu arbeiten – das ist Schwerstarbeit und oftmals eine Überforderung. Schlafmangel, ständige Infekte, ein übervoller Terminkalender, riesige Wäscheberge und viele weitere Herausforderungen im Leben mit Kindern zerren einfach an den Nerven. Dass Eltern da immer mal wieder die Geduld verlieren und lauter werden, als sie eigentlich wollen, ist verständlich.

Anschreien ist fast wie körperliche Gewalt

Was, wenn im Affekt dann sogar die Hand ausrutscht? Dann fühlen sich die meisten Eltern sehr schnell sehr schlecht, und das ist gut so! Denn auch wenn wir alle nicht perfekt sind und einzelne Fehler uns nicht gleich zu schlechten Eltern machen – körperliche Gewalt ist ein No-Go. Zahlreiche Studien zeigen, wie schädlich es für Kinder ist, wenn sie mit Gewalt erzogen werden. Übrigens: Studien zeigen zudem, dass regelmäßiges Anschreien sich auf Kinder genauso negativ auswirkt. Beides schadet der psychischen Gesundheit und der Entwicklung von sozialen Fähigkeiten ganz enorm. Schreien ist verbale Gewalt und damit genauso schwerwiegend wie ein Klaps.

Das bedeutet natürlich nicht, dass es mit der glücklichen Kindheit vorbei ist, wenn Papa oder Mama mal die Sicherung durchbrennt. Aber: Körperliche und verbale Gewalt sollten wir als Eltern beide niemals als „normal“ ansehen.

Schadensbegrenzung im Worst Case

Stattdessen gilt, wenn wir eine solche Grenze überschritten haben:

  • sich kurz Ruhe gönnen, tief durchatmen
  • sich bei dem Kind entschuldigen: „Es tut mir leid! Ich hätte dich nicht anschreien/hauen dürfen. Entschuldige bitte.“
  • Überlegen, was der Auslöser war und, wie die Ruhe zukünftig besser gewahrt werden kann. Oft ist es wichtig, sich mehr Ruhepausen zu organisieren, z.B. mithilfe von Familienpaten oder Projekten wie „wellcome“ mit Kindern im ersten Lebensjahr (wellcome-online.de)
  • Wenn die Wut immer wieder mit einem durchgeht: Unterstützung holen, z.B. von einer Erziehungsberatungsstelle (dajeb.de)

Durch ein solches Verhalten bringen wir unseren Kindern etwas Wichtiges bei: Fehlerfreundlichkeit. Sie sehen an unserem Beispiel, wie man Fehler zugeben und an sich arbeiten kann. Und das hilft auch ihnen selbst, einen guten Umgang mit den eigenen Emotionen und Schwächen im Verhalten zu erlernen.

Wenn die Wut kommt: Tools für den Umgang

  • Eine Hand auf den Bauch legen und tief in den Bauch einatmen, kurz die Luft anhalten, dann langsam und ausgiebig ausatmen. Das 5 Mal wiederholen.
  • Beobachten, was sich in unseren Gefühlen und unserer Körperwahrnehmung verändert, wenn der Ärger wächst, z.B. Hitze, Herzrasen, Anspannen der Muskeln, etc., um zu erkennen, wann es gefährlich wird.
  • Sich ein Codewort überlegen, das man sich innerlich als Stopp-Signal sagt, wenn die Wut stärker wird, z.B.: „Stopp, bleib ruhig, es geht vorbei!“
  • Kurz die Situation unterbrechen und Gegen-Reize setzen, z.B. mit einem Glas Wasser, dem Öffnen des Fensters für etwas frische Luft oder kaltem Wasser, das man sich über die Handgelenke laufen lässt.

Und was ist mit Kinder-Wut?

Dass wir Erwachsenen gut mit Wut umgehen lernen, ist die Basis für ein entspanntes Familienleben, denn Kinder orientieren sich am Verhalten ihrer Eltern. Doch auch Frust und Ärger der Kleinen kann uns im Alltag ziemlich herausfordern – besonders in der Autonomiephase (oft auch „Trotzphase“ genannt) zwischen ca. zwei und sechs Jahren. In diesem Alter spüren die Kleinen ganz besonders stark ihren eigenen Willen. Gleichzeitig ist ihr Gehirn noch nicht so weit entwickelt, als dass sie sich in andere hineinversetzen könnten. Das heißt, sie nehmen intensiv wahr, was sie wollen und verstehen noch nicht, warum andere manchmal ganz andere Bedürfnisse haben. Da sind Wutanfälle vorprogrammiert! Hinzu kommt, dass die Kleinen noch kaum Selbstkontrolle haben: Ruhig bleiben, obwohl die Wut hochkocht ist ohne diese Fähigkeit kaum möglich und so ist es normal, dass Kinder besonders in diesem Alter oft “ausrasten”. Helfen kann dann:

  • Selbst ruhig bleiben und sich erinnern: Mein Kind macht das nicht absichtlich! Es ist gerade überfordert von seinen Gefühlen.
  • Auf Augenhöhe gehen, das Kind freundlich ansprechen, Kontakt herstellen: „Hey, ich bin da!“
  • Die Gefühle, die du bei deinem Kind wahrnimmst, in Worte fassen: „Ich sehe, du bist gerade ziemlich wütend, oder?“ Das zeigt deinem Kind, dass es nicht allein ist und hilft ihm, nach und nach zu lernen, die Wut selbst zu erkennen und zu verbalisieren.
  • Kompromisse und Wahlmöglichkeiten anbieten, um den Wunsch des Kindes nach Autonomie ernst zu nehmen, z.B.: „Wir können jetzt kein Kleid anziehen, aber du kannst zwischen diesen Hosen auswählen!“
  • Techniken zeigen, die helfen, die Wut zu kanalisieren, z.B.: „Komm, wir boxen die ganz Wut jetzt in die Kissen!“ oder „Wir stampfen die Wut jetzt in den Boden, bis es uns besser geht!“

Miteinander statt gegeneinander

Wir haben wohl alle diesen Traum von einem harmonischen, glücklichen Familienleben. Und doch ist es normal, dass der Alltag oft chaotischer, anstrengender und konfliktreicher aussieht. Auch wir Eltern haben Bedürfnisse und Grenzen, die wir auch formulieren sollten. Gerade Gespräche, in denen wir respektvoll mit unseren Kindern reflektieren, was im Streit schiefgelaufen ist und wie es besser gehen kann, stärken die sozialen Fähigkeiten unserer Kinder sehr. Das Wichtigste ist unsere Grundhaltung: Wir leben nicht gegeneinander, sondern miteinander. Nicht „wir gegeneinander“, sondern „wir gemeinsam gegen die Probleme“.

Melanie Schüer Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche und Autorin.

„Unser dreijähriger Sohn hört nicht auf ‚Nein!'“ – Das rät die Expertin

Was tun, wenn das Kind nicht gehorcht? Erziehungswissenschaftlerin Daniela Albert erklärt, wie Eltern reagieren sollten und was sie unbedingt vermeiden müssen.

„Unser Sohn (fast 4) hört nicht auf uns. Trotz mehrmaligem Nein-Sagen und dem Androhen von Konsequenzen zieht er sein Verhalten durch und bereitet uns damit nicht nur Stress, sondern bringt sich auch selbst in Gefahr! Auch anderen fällt dieses Verhalten auf. Manche raten uns zu mehr Härte. Müssen wir unser Kind denn strafen, damit es gelingt?“

Ihr Sohn ist mit drei Jahren noch sehr klein. Oft erwarten wir von Kindern in diesem Alter zu viel Kooperation. Besonders das „Hören“ auf Zuruf funktioniert in dieser Phase oft noch nicht. Wenn Kinder sich ein Ziel gesetzt haben (zum Beispiel auf das höchste Klettergerüst auf dem Spielplatz zu kommen), dann ist der kindliche Fokus genau dort und nicht bei dem, was Sie sagen. Auch die Gründe für Ihre Verbote kann Ihr Sohn selbst noch nicht abschätzen, sodass es ihm noch schwerer fällt, seine Aktivität zu stoppen. Das, was er tut, ist in diesem Moment sehr wichtig für ihn, und es fällt ihm schwer, umzudenken.

Reagieren Sie ruhig!

Was Ihr Sohn in solchen Momenten wirklich braucht, ist Ihre Begleitung. Wenn Sie beobachten, dass er etwas tut, was er nicht soll, dann gehen Sie zu ihm. Erklären Sie ihm in ruhigen und wenigen Worten, dass das nicht geht. Und wenn er es trotzdem tun möchte, nehmen Sie ihn sanft aus der Situation. Es ist völlig in Ordnung, ein kleines Kind wegzutragen oder festzuhalten, wenn es dabei ist, sich in Gefahr zu bringen oder andere Dinge zu tun, die nicht gewollt sind.

Es kann sein, dass Ihr Kind dann mit Wut oder Trauer reagiert. Hier ist es wichtig, dass Sie diese Gefühle begleiten und sie ihm nicht übelnehmen. Wenn er jetzt schreit, weint, sich auf den Boden wirft, sie beschimpft oder vielleicht sogar hauen will, dann liegt das daran, dass er in diesem Moment sehr frustriert und sein kleines Nervensystem überfordert ist.

Härte bringt nichts

Genau deshalb würde auch „mehr Härte“ nichts bringen. Ihr Sohn würde den Zusammenhang zwischen einer Strafe und seinem Verhalten gar nicht verstehen, sondern nur mitnehmen, dass Sie etwas für ihn Unangenehmes tun. Zudem schaden Strafen Ihrer Beziehung zueinander, und Konfliktsituationen verschärfen sie mittelfristig eher, als dass sie sich dadurch lösen lassen.

Ein Gedanke zum Schluss: Die Entwicklungsphase, in der Ihr Sohn sich befindet, ist sowohl schön als auch herausfordernd. Gerade wenn er sehr unternehmungsfreudig und willensstark ist, kann es in dieser Zeit auch anstrengend werden. Das Letzte, was Sie in schwierigen Situationen brauchen, sind Menschen, die Ihnen durch „Ratschläge“ noch mehr Druck aufbürden. Ich möchte Sie ermutigen, solche Sätze zukünftig zu ignorieren und mit Ihrer Aufmerksamkeit ganz bei sich und Ihrem Kind zu bleiben.

Daniela Albert ist Erziehungswissenschaftlerin und Eltern– und Familienberaterin (familienberatung-albert.de). Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Kaufungen bei Kassel und bloggt unter eltern-familie.de. 

Frust beim Spielen: Das rät die Erzieherin, wenn das Kind nicht verlieren kann

Verlieren können Kinder lernen. Eltern sollten dabei vor allem darauf achten, was hinter der Aggression steckt, sagt Expertin Margrit Dietze.

„Mein Sohn (7) kann es nicht gut haben, wenn er beim Spielen verliert. Er wird richtig sauer und hat vor Wut und Enttäuschung auch schon ein paar Mal das Spielbrett vom Tisch geworfen. Wie können wir als Eltern angemessen darauf reagieren?“

Gemeinsames Spielen in der Familie ist wichtig. Es stärkt das Gemeinschaftsgefühl und ist ein wichtiges Lernfeld für das Leben. Im Spiel lernen Kinder, mit Frustration und Enttäuschung umzugehen. Es gibt jedoch Kinder, die mit der Frustration des Verlierens nicht gut umgehen können, und so wird aus dem schönen gemeinsamen Spiel nicht selten eine unschöne Situation für alle Teilnehmer.

Was steckt hinter den Gefühlsausbrüchen?

Wenn Ihr Sohn grundsätzlich ein Problem damit hat zu verlieren, können bestimmte Gefühle dahinterstecken, die sich im Spiel äußern. Wenn Kinder das Verlieren persönlich nehmen, sehen sie im Verlieren vielleicht eine Herabsetzung ihrer Person und reagieren dementsprechend. Vielleicht hat Ihr Sohn das Gefühl, nicht genug Anerkennung zu bekommen? Vielleicht sieht er in den anderen Spielteilnehmern eine Konkurrenz und fühlt sich unterlegen? Oder er ist Niederlagen nicht gewöhnt, da ihm Hindernisse zu schnell aus dem Weg geräumt werden?

Ruhig bleiben!

Wenn das Spielbrett vom Tisch gefegt wird, ist es für Eltern schwer, ruhig zu bleiben. Aber in dieser Situation ist genau das besonders wichtig! Vorwürfe helfen in dem Moment nicht, da der Frust über die Niederlage ein sehr schwer zu kontrollierendes Gefühl ist. Besser ist es, erst einmal abzuwarten, bis Ihr Sohn sich beruhigt hat. Besprechen Sie die Situation dann mit ihm, nehmen Sie seine Gefühle ernst und geben Sie ihnen Worte wie zum Beispiel: „Du warst gerade richtig sauer, weil du lieber gewinnen wolltest, richtig?“
Sprechen Sie aber auch darüber, welche Gefühle es in Ihnen auslöst, wenn Ihr Sohn sich so verhält – am besten in „Ich-Botschaften“. Vermeiden Sie unbedingt ironische Bemerkungen über das Verhalten Ihres Kindes.

Nicht gewinnen lassen!

Lassen Sie Ihr Kind beim nächsten Mal auf keinen Fall absichtlich gewinnen, um Wutanfälle zu vermeiden. Das merken Kinder und sind darüber noch frustrierter. Suchen Sie stattdessen gemeinsam mit Ihrem Sohn nach Alternativen, wie er sich bei Spielfrust verhalten kann, zum Beispiel: gegen einen Gegenstand boxen, aus dem Zimmer gehen, einen spielerischen Kampf mit Papa eingehen – je nachdem, welche Ideen Ihr Kind dafür hat.

Verstärken Sie das positive Verhalten Ihres Kindes im normalen Alltag durch lobende Anerkennung. Räumen Sie ihm Probleme nicht zu schnell aus dem Weg, sondern lassen Sie ihn selbst Lösungen finden. Nicht zuletzt: Seien Sie Ihrem Sohn ein Vorbild. Kinder beobachten genau, wie wir mit Frustration umgehen und wenden dieses Verhalten selbst an.

Margrit Dietze ist Erzieherin und Autorin für pädagogische Bücher und Kinderlieder und Pflegemutter.

Verlieren können muss man lernen

„Mein Sohn (7) kann es nicht gut haben, wenn er beim Spielen verliert. Er wird richtig sauer und hat vor Wut und Enttäuschung auch schon ein paar Mal das Spielbrett vom Tisch geworfen. Wie können wir als Eltern angemessen darauf reagieren?“

Gemeinsames Spielen in der Familie ist wichtig. Es stärkt das Gemeinschaftsgefühl und ist ein wichtiges Lernfeld für das Leben. Im Spiel lernen Kinder, mit Frustration und Enttäuschung umzugehen. Es gibt jedoch Kinder, die mit der Frustration des Verlierens nicht gut umgehen können, und so wird aus dem schönen gemeinsamen Spiel nicht selten eine unschöne Situation für alle Teilnehmer.

Ruhig bleiben!

Wenn Ihr Sohn grundsätzlich ein Problem damit hat zu verlieren, können bestimmte Gefühle dahinterstecken, die sich im Spiel äußern. Wenn Kinder das Verlieren persönlich nehmen, sehen sie im Verlieren vielleicht eine Herabsetzung ihrer Person und reagieren dementsprechend. Vielleicht hat Ihr Sohn das Gefühl, nicht genug Anerkennung zu bekommen? Vielleicht sieht er in den anderen Spielteilnehmern eine Konkurrenz und fühlt sich unterlegen? Oder er ist Niederlagen nicht gewöhnt, da ihm Hindernisse zu schnell aus dem Weg geräumt werden?

Wenn das Spielbrett vom Tisch gefegt wird, ist es für Eltern schwer, ruhig zu bleiben. Aber in dieser Situation ist genau das besonders wichtig! Vorwürfe helfen in dem Moment nicht, da der Frust über die Niederlage ein sehr schwer zu kontrollierendes Gefühl ist. Besser ist es, erst einmal abzuwarten, bis Ihr Sohn sich beruhigt hat. Besprechen Sie die Situation dann mit ihm, nehmen Sie seine Gefühle ernst und geben Sie ihnen Worte wie zum Beispiel: „Du warst gerade richtig sauer, weil du lieber gewinnen wolltest, richtig?“
Sprechen Sie aber auch darüber, welche Gefühle es in Ihnen auslöst, wenn Ihr Sohn sich so verhält – am besten in „Ich-Botschaften“. Vermeiden Sie unbedingt ironische Bemerkungen über das Verhalten Ihres Kindes.

Nicht gewinnen lassen!

Lassen Sie Ihr Kind beim nächsten Mal auf keinen Fall absichtlich gewinnen, um Wutanfälle zu vermeiden. Das merken Kinder und sind darüber noch frustrierter. Suchen Sie stattdessen gemeinsam mit Ihrem Sohn nach Alternativen, wie er sich bei Spielfrust verhalten kann, zum Beispiel: gegen einen Gegenstand boxen, aus dem Zimmer gehen, einen spielerischen Kampf mit Papa eingehen – je nachdem, welche Ideen Ihr Kind dafür hat.

Verstärken Sie das positive Verhalten Ihres Kindes im normalen Alltag durch lobende Anerkennung. Räumen Sie ihm Probleme nicht zu schnell aus dem Weg, sondern lassen Sie ihn selbst Lösungen finden. Nicht zuletzt: Seien Sie Ihrem Sohn ein Vorbild. Kinder beobachten genau, wie wir mit Frustration umgehen und wenden dieses Verhalten selbst an.

Margrit Dietze ist Erzieherin und Autorin für pädagogische Bücher und Kinderlieder und Pflegemutter.

Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

 

Schwer zu kontrollieren: die Wut

Wut ist ein Gefühl mit unbändiger Kraft – bei Kindern und Erwachsenen. Von Corinna Lang

August 2019. Mein Mann und ich feiern zusammen Geburtstag. Die Sonne scheint, aus der Grillhütte dringt ein leckerer Duft, und die Gäste sind fast vollzählig eingetroffen. Feierlaune? Nicht bei unserem damals 2-jährigen Sohn. Er hat einen Wutanfall. Er steht mitten auf dem Platz und brüllt ununterbrochen. Ich erinnere mich nicht mehr an den Auslöser – von der Zubereitung seiner Grillwurst bis hin zu einer falsch sitzenden Socke könnte es alles gewesen sein. Unser Sohn brüllt. Laut. Ohne Rücksicht auf Anwesende. Ohne Rücksicht auf Timing, den Zustand unserer Nerven oder die Verhältnismäßigkeit.

Ein zuverlässiges „Allheilmittel“ haben wir noch nicht gefunden, außer dass es wichtig ist, selbst die Ruhe zu bewahren. Ermahnen fördert selten ein Zurückgehen der Wut, setzt aber die nötigen Grenzen, was vor allem wichtig wird, wenn das Kind sich selbst oder andere in Gefahr bringt. Manchmal helfen offene, tröstende Arme oder Ablenkung. Zu viel Aufmerksamkeit macht das Ganze für das Kind oft nur noch interessanter, daher kann es helfen, den Wutausbruch zu ignorieren. Da seine Wut nicht abebbt, bringt meine Schwägerin mich auf die Idee, ihn mit dem Auto ein bisschen hin- und herzufahren. Ich folge ihrem Rat und komme kurz darauf mit einem schlafenden Kind zurück. Dieser Höhepunkt der Trotzphase mit einstündigen Brüllattacken dauerte glücklicherweise nur einige Wochen. Mittlerweile können wir darüber lachen.

Unvorbereitet und heftig

Wie ist das denn bei uns Erwachsenen? Kennen wir das auch? Haben wir uns perfekt im Griff? Immer? Mit Sicherheit finden Wutausbrüche bei uns in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität statt. Aber vermutlich kann sich jeder an Momente erinnern, in denen er oder sie in unschöne Sprache verfallen ist, einen Gegenstand in seine Einzelteile zerlegt oder dem Wutauslöser schmollend den Rücken zugekehrt hat. Nahezu jeder war schon einmal das aktive und das passive Ende eines Wutanfalls.

Der Emotion „Wut“ begegne ich mit Respekt, weil sie anders auftritt als viele andere Gefühle. Sie trifft einen oft unvorbereitet und heftig und schleicht sich nicht heran wie zum Beispiel die Traurigkeit. Sie lässt sich nicht gut hinter der Fassade ausleben wie die Bitterkeit. Sie mobilisiert in kürzester Zeit ungeahnte Kräfte und lässt dem Wütenden nicht immer Zeit, diese vernünftig zu kanalisieren. Eltern, die ihre Nächte mit einem „Schreikind“ verbringen müssen, wird oft geraten, aus dem Zimmer zu gehen, wenn die Wut zu groß wird, damit sie ihr Kind nicht schütteln. Was für eine Emotion, die uns dazu bringen kann, unseren liebsten, schwächsten Mitmenschen physischen Schaden zuzufügen! Sie ist scheinbar nur schwer kontrollierbar.

Plötzlich da, plötzlich weg

Auf der anderen Seite erscheint mir die Wut kurzlebiger als andere Emotionen. Ich nehme noch einmal die Bitterkeit als Beispiel. Ein bitterer Mensch ist oft über einen langen Zeitraum in diesem Gemütszustand. Die Bitterkeit hat sich über eine lange Zeit gebildet und muss auch über eine solche wieder abgebaut werden. Die Wut kommt plötzlich und verschwindet meist auch plötzlich. Der Wütende ist vielleicht erstaunt oder bestürzt über seine eigene Gefühlswelt, kann aber recht schnell wieder in die Routine des Alltags zurückfinden. Er hat sich „abreagiert“. Nachdem zum Beispiel der Wutanfall unseres Sohnes am Tag unserer Geburtstagsfeier vorbei war, hat er den restlichen Nachmittag begeistert gespielt. Ein Freund witzelte noch: „Was für ein liebes, ausgeglichenes Kind, der ist bestimmt immer so!“ Leider kommt es gerade bei uns Erwachsenen nicht immer zu diesen unkomplizierten, nahezu konsequenzlosen Verläufen nach der Wut. Der Schaden ist unter Umständen riesig oder kann nur mit großer Mühe vermieden oder gekittet werden.

Die Wut in ihre Schranken weisen

Ich habe mich gefragt, ob man Wut überhaupt bekämpfen kann, wenn die Wutauslöser sich nicht ändern lassen. Im Moment des Wutausbruchs ist es oft zu spät, weil das Gefühl bereits die Kontrolle über unsere Aktionen übernommen hat. Oft kann man sie da höchstens noch auf etwas anderes, weniger Empfindliches lenken, zum Beispiel mit der Faust auf den Tisch hauen statt gegen eine Glasscheibe. Ich habe zumindest bei mir selbst festgestellt, dass die Möglichkeiten, diese Emotion einzuschränken, eher im Vorfeld liegen, und zwar indem ich sie gar nicht erst auftreten lasse. Ich werde zum Beispiel vermehrt wütend, wenn ich zu wenig geschlafen oder Hunger habe.

Was bedeutet das konkret, wenn ich einen möglichst wutfreien Tag erleben will? Es kann bedeuten, die spannende Serie abends doch schon eine Folge früher abzuschalten. Wenn mein Mann und ich unser Abendessen erst für die Zeit geplant haben, nachdem die Kinder ins Bett gegangen sind, kann es bedeuten, dass ich am späten Nachmittag an einen kleinen Snack für mich denken muss, damit ich bei einem möglicherweise bockigen oder extrem albernen, aufgedrehten Kind, das nicht sofort ins Bett will, nicht so schnell die Nerven verliere.

Wutauslösern auf die Spur kommen

Bei anderen Wutauslösern sind es natürlich andere Fragen, die man sich stellen kann: Habe ich Stress, weil die To-do-Liste auch nicht ganz so dringende Punkte enthält? Lebe ich über meine Verhältnisse und habe deshalb finanziellen Druck? Arbeite ich zu viel oder zu wenig? Sollte ich mir Hilfe holen, sei es von Freunden, der Familie oder professionell? Müsste ich mit meinem Partner über Verhaltensweisen reden, die ich nur schwer tolerierbar finde? Sollte ich eine Zeit in meinen Tag einplanen, in der ich kurz „runterfahre“, zum Beispiel durch Beten, einen Spaziergang oder ein gutes Buch? Sich Gedanken darüber zu machen, lohnt sich, wenn man merkt, dass die Zündschnur kürzer wird. Was sich auch immer lohnt: Gott sein Herz in aller Ehrlichkeit ausschütten und um Vergebung, Erkenntnis und Hilfe bitten. Er hält unsere Wut aus.

Corinna Lang ist Übersetzerin und wohnt mit ihrem Mann Tobias und ihren zwei Kindern Fiona (6) und Florian (3) in Siegen.

Mehr zum Thema „Gefühle“ gibt es in der November/Dezember-Ausgabe der Family und FamilyNEXT.

Schwanger mit dem zweiten Kind: So wird das Geschwisterchen nicht eifersüchtig

Bei einer Geburt liegt die ganze Aufmerksamkeit auf dem Baby. Wie verhindert man, dass Bruder oder Schwester sich vernachlässigt fühlen? Eine Elternberaterin klärt auf.

„Wir erwarten unser zweites Kind. Ich habe Angst, dass unsere Tochter (2) eifersüchtig werden könnte. Wie kann ich sie jetzt schon auf die Ankunft ihres Geschwisterchens und ihre Rolle als große Schwester vorbereiten?“

Bereiten Sie sich gemeinsam mit Ihrer Tochter aufs Baby vor: Lassen Sie sie Babysachen aussuchen, das Kinderzimmer mit einrichten oder die Schränke einräumen. Es kann der großen Schwester helfen, ihren neuen Platz zu finden, wenn sie sich wichtig und gebraucht fühlt. Fragen Sie sie, wenn das Baby da ist, ruhig oft um Hilfe. Egal, ob es ein Glas Wasser ist, das während des Stillens gereicht wird oder die Windel beim Wickeln. Oder überlegen Sie gemeinsam, ob Sie alles für das Baby eingepackt haben, wenn Sie das Haus verlassen. Geben Sie ihr die Chance, sich als wertvollen Teil der Familie wahrzunehmen.

Negative Gefühle zugestehen

Doch all das ändert eins nicht: Für Ihre Tochter ist die Ankunft eines Geschwisterkindes ein einschneidendes Erlebnis, das nicht nur mit positiven Gefühlen einhergehen kann. Sie muss die Aufmerksamkeit und Zuwendung ihrer Eltern, die sie vorher für sich hatte, teilen. Auch Erwachsene fühlen sich in Situationen unwohl, in denen ihr sicher geglaubter Platz wankt. So würde wohl kaum jemand akzeptieren, dass der Partner eine weitere Person mit in die Beziehung bringt. Gestehen Sie Ihrer Tochter daher auch negative Gefühle wie Trauer, Wut und Eifersucht gegenüber dem neuen Kind zu.

Emotionen aussprechen

Wichtiger, als diese Gefühle zu verhindern, ist es, Kinder darin zu begleiten. Für Ihre Tochter ist das, was in ihr vorgeht, mitunter sehr verwirrend. Denn neben Freude und Verliebtheit in das neue Wesen und auch Stolz, nun die Große zu sein, hat sie eben auch die ganzen anderen Gefühle. Sie nimmt auch wahr, dass sie die Einzige ist, die so fühlt, weil sie ja sieht, dass Sie als Eltern sich uneingeschränkt freuen. Sie können ihr in dieser Situation helfen, wenn Sie ihr Worte für das geben, was sie fühlt. Sprechen Sie an, was Sie wahrnehmen. „Ich sehe, dass du traurig bist, weil ich schon so lange mit dem Baby beschäftigt bin und du warten musst.“ Zeigen Sie ihr, dass das, was sie empfindet, empfunden werden darf.

Nicht schimpfen oder strafen

Oft steckt hinter dem Wunsch, Eifersucht zu vermeiden, die Angst, dass das Geschwisterkind dem Baby gegenüber grob werden könnte. Dass gerade kleine Kinder, die sich noch nicht gut ausdrücken können, ihren Frust so zeigen, ist möglich. Haben Sie Ihre Tochter also im Auge und seien Sie präsent. Wenn sie das Baby ärgert, gehen Sie sanft dazwischen. Machen Sie sich klar, dass Ihre Tochter das nicht tut, um wirklich jemanden zu ärgern. Sie kann in solchen Situationen noch nicht anders handeln. Schimpfen oder Strafen würden die Wut auf das Baby verschlimmern. Bedenken Sie: Mit zwei Jahren ist Ihre Tochter zwar jetzt die Große, aber trotzdem noch ein Kleinkind.

Stellen Sie dem großen Geschwisterkind eine weitere Bezugsperson an die Seite. Das kann der Elternteil sein, der sich weniger um das Baby kümmert, aber auch Großeltern oder erwachsene Freunde, die regelmäßig kommen, um exklusiv Zeit mit der großen Schwester zu verbringen.

Daniela Albert ist Eltern- und Familienberaterin, lebt mit ihrer Familie bei Kassel und bloggt unter eltern-familie.de.

Auf das Baby vorbereiten

„Wir erwarten unser zweites Kind. Ich habe Angst, dass unsere Tochter (2) eifersüchtig werden könnte. Wie kann ich sie jetzt schon auf die Ankunft ihres Geschwisterchens und ihre Rolle als große Schwester vorbereiten?“

Bereiten Sie sich gemeinsam mit Ihrer Tochter aufs Baby vor: Lassen Sie sie Babysachen aussuchen, das Kinderzimmer mit einrichten oder die Schränke einräumen. Es kann der großen Schwester helfen, ihren neuen Platz zu finden, wenn sie sich wichtig und gebraucht fühlt. Fragen Sie sie, wenn das Baby da ist, ruhig oft um Hilfe. Egal, ob es ein Glas Wasser ist, das während des Stillens gereicht wird oder die Windel beim Wickeln. Oder überlegen Sie gemeinsam, ob Sie alles für das Baby eingepackt haben, wenn Sie das Haus verlassen. Geben Sie ihr die Chance, sich als wertvollen Teil der Familie wahrzunehmen.

NEGATIVE GEFÜHLE ZUGESTEHEN

Doch all das ändert eins nicht: Für Ihre Tochter ist die Ankunft eines Geschwisterkindes ein einschneidendes Erlebnis, das nicht nur mit positiven Gefühlen einhergehen kann. Sie muss die Aufmerksamkeit und Zuwendung ihrer Eltern, die sie vorher für sich hatte, teilen. Auch Erwachsene fühlen sich in Situationen unwohl, in denen ihr sicher geglaubter Platz wankt. So würde wohl kaum jemand akzeptieren, dass der Partner eine weitere Person mit in die Beziehung bringt. Gestehen Sie Ihrer Tochter daher auch negative Gefühle wie Trauer, Wut und Eifersucht gegenüber dem neuen Kind zu.

Wichtiger, als diese Gefühle zu verhindern, ist es, Kinder darin zu begleiten. Für Ihre Tochter ist das, was in ihr vorgeht, mitunter sehr verwirrend. Denn neben Freude und Verliebtheit in das neue Wesen und auch Stolz, nun die Große zu sein, hat sie eben auch die ganzen anderen Gefühle. Sie nimmt auch wahr, dass sie die Einzige ist, die so fühlt, weil sie ja sieht, dass Sie als Eltern sich uneingeschränkt freuen. Sie können ihr in dieser Situation helfen, wenn Sie ihr Worte für das geben, was sie fühlt. Sprechen Sie an, was Sie wahrnehmen. „Ich sehe, dass du traurig bist, weil ich schon so lange mit dem Baby beschäftigt bin und du warten musst.“ Zeigen Sie ihr, dass das, was sie empfindet, empfunden werden darf.

NICHT SCHIMPFEN ODER STRAFEN

Oft steckt hinter dem Wunsch, Eifersucht zu vermeiden, die Angst, dass das Geschwisterkind dem Baby gegenüber grob werden könnte. Dass gerade kleine Kinder, die sich noch nicht gut ausdrücken können, ihren Frust so zeigen, ist möglich. Haben Sie Ihre Tochter also im Auge und seien Sie präsent. Wenn sie das Baby ärgert, gehen Sie sanft dazwischen. Machen Sie sich klar, dass Ihre Tochter das nicht tut, um wirklich jemanden zu ärgern. Sie kann in solchen Situationen noch nicht anders handeln. Schimpfen oder Strafen würden die Wut auf das Baby verschlimmern. Bedenken Sie: Mit zwei Jahren ist Ihre Tochter zwar jetzt die Große, aber trotzdem noch ein Kleinkind.

Stellen Sie dem großen Geschwisterkind eine weitere Bezugsperson an die Seite. Das kann der Elternteil sein, der sich weniger um das Baby kümmert, aber auch Großeltern oder erwachsene Freunde, die regelmäßig kommen, um exklusiv Zeit mit der großen Schwester zu verbringen.

Daniela Albert ist Eltern- und Familienberaterin, lebt mit ihrer Familie bei Kassel und bloggt unter www.eltern-familie.de.
Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

Plötzlich gelähmt: Wenn der Sohn im eigenen Körper gefangen ist

Am 7. Juni 2015 verändert sich das Leben von Jutta Schmidt schlagartig. Ihr Sohn Max erleidet eine Hirnblutung. Die Ärzte geben ihn auf. Doch dann geschieht das Wunder.

Jutta Schmidt sitzt am Tisch eines Cafés. Ihre Ellenbogen hat sie auf den Tisch gestützt, ihre Hände umfassen ein Wasserglas. Sie schaut nach vorn. Ihre grünen Augen wirken müde, aber fokussiert. Cafébesuche wie dieser haben in ihrem durchgetakteten Alltag normalerweise keinen Platz. Gerade hat sie ihren Sohn Max zum Physiotherapeuten gebracht. In einer Stunde muss sie ihn abholen und zu den nächsten Therapiestunden fahren, Ergotherapie und Logopädie. Zwischendrin muss sie ihre anderen beiden Kinder versorgen, die von der Schule kommen. Für sie ein ganz normaler Tag – sofern man von normal sprechen kann. „Das Familienleben ist nicht mehr das, was es vorher war. In keinem Punkt.“, sagt sie, und ihr Blick verliert sich.

Vier Jahre sind inzwischen vergangen, seit die alleinerziehende Mutter ihre drei Kinder ins Auto gepackt hat und mit ihnen nach Holland gefahren ist. Eis essen, im Meer baden, am Strand liegen – es ist ein ganz normaler Familienurlaub, bis Max, ihr ältester Sohn, Kopfschmerzen bekommt, die immer heftiger werden. Als sein Zustand sich verschlechtert, fährt sie ihn ins nächstgelegene Krankenhaus. Die zwei jüngeren Geschwister Ben und Nora bleiben bei Freunden. „Ich wusste, dass da etwas nicht stimmt.“ Nach einem CT ist klar: Es gibt eine Blutung in Max‘ Gehirn. Sofort wird er ins Klinikum nach Brügge verlegt. Dort können die Ärzte wenig für ihn tun. Eine OP ist zu riskant, die Ursache für die Blutung unklar. Als er anfängt zu krampfen, wird er in ein künstliches Koma gelegt. Jutta Schmidt sitzt hilflos an seinem Bett. Alles, was sie hört, sind das Piepen der Überwachungsmonitore und die Geräusche der Beatmungsmaschine, die ihren Sohn am Leben erhält.

„In dem Moment waren der Schmerz und die Angst, mein Kind zu verlieren, so groß. Er war doch gerade noch gesund und plötzlich lag er da und ich konnte einfach nichts machen“, sagt sie. Immer noch liegt Fassungslosigkeit in ihrer Stimme. Das Einzige, was Jutta Schmidt damals tun konnte, war, zu hoffen, dass die Blutung aufhört und keine weitere Nachblutung auftritt. Die Ärzte machen ihr jedoch wenig Hoffnung und legen ihr und ihrer Familie nahe, sich von Max zu verabschieden. Nacheinander treten sie an sein Bett, um Lebewohl zu sagen. „Das ist das Schlimmste, was man sich als Mutter vorstellen kann.“

WIE EINGESCHLOSSEN

Wie ein Wunder überlebt Max und erwacht wenige Wochen später aus dem Koma, ist aber fortan in seinem Körper gefangen. Als „Locked-in-Syndrom“ bezeichnen die Mediziner seinen Zustand. Max ist zwar bei vollem Bewusstsein, jedoch körperlich vollständig gelähmt und unfähig, sich durch Sprache oder Bewegungen verständlich zu machen – wie „eingeschlossen“.

„Das war schlimm. Max war ein richtiges Draußen-Kind, schon immer. Er hat nie Computer gespielt und wenig Fernsehen geguckt. Klettern, springen, laufen, das war seins.“ Nun muss Max gehoben, gewaschen, gefüttert und gefahren werden. Ihn so hilflos zu sehen, macht sie unendlich traurig.

Max am Strand in Holland, kurz bevor er die Hirnblutung erleidet. Foto: Privat

Max muss in die Reha. „Für mich war klar, dass ich ihn nicht allein da hinlasse. Er ist doch mein geliebtes Kind!“ Jutta Schmidt muss Anträge stellen, Formulare ausfüllen, Ben und Nora umschulen, eine Unterkunft suchen. „Ich habe so oft gedacht: Ich schaffe das nicht. Ich kam mir so vor, als stünde ich in einem Nebelschleier.“ In diesem Nebel tauchen immer wieder Menschen auf, die ihr helfen: Ihr Bruder, der sofort nach der Hirnblutung nach Brügge reist, um das Fachenglisch der Ärzte zu übersetzen, ihr Ex-Mann und Max‘ Vater, der ihr zur Seite steht, sie am Bett ablöst und mit Max im Rollstuhl spazieren fährt, einfühlsame Pfleger und Therapeuten, kompetente Sozialarbeiter, Menschen, die sich um ihre anderen Kinder kümmern. Viele Freunde mobilisieren sich in den kommenden Monaten und setzen sich für die Familie ein. „Während Max‘ Reha in Gailingen haben zwei Freundinnen von mir ihren Urlaub storniert und sind stattdessen zu uns nach Baden-Württemberg gekommen. Sie haben mit meinen beiden jüngeren Kindern Ausflüge gemacht, sodass ich mich voll und ganz auf Max konzentrieren konnte“, erinnert sie sich. Auch heute sei sie dafür noch unendlich dankbar.

Entgegen allen ärztlichen Erwartungen und dank intensiver Therapien kämpft sich Max allmählich ins Leben zurück. Heute ist er 18 Jahre alt. Er ist wieder zu Hause, kann sich im Elektrorollstuhl fortbewegen und dank intensiver Logotherapien auch wieder einigermaßen verständigen. Dennoch braucht er rund um die Uhr Betreuung und Pflege – er hat Pflegegrad vier. „Er wird von mir geduscht, angezogen, an den Frühstückstisch gefahren. Ich reiche ihm das Essen und Trinken, mache ihn für die Schule fertig. Ich fahre ihn zu 14 Therapien in der Woche, hole ihn wieder ab, schlage seine Schulbücher auf, schreibe seine Vokabeln groß, sodass er sie sehen kann. Gehe mit ihm zur Toilette. Nachts muss seine Urinflasche geleert werden.“ Jutta Schmidt zählt all die Aufgaben, die jetzt zu ihrem Alltag als Mutter gehören, an ihren Fingern ab. „Seit dem Tag, an dem die Blutung kam, funktioniere und renne ich nur noch und komme mir manchmal vor wie in einem stürmischen Meer: Die Wellen schlagen über mir zusammen.“ Sie nimmt einen Schluck Wasser. Viel Zeit zum Verschnaufen bleibt da nicht.

GESCHWISTERKINDER MÜSSEN ZURÜCKSTECKEN

„Es dreht sich zu 98 Prozent um Max. Und damit meine ich gar nicht unbedingt die Aufmerksamkeit, sondern die Zeit, die ich investiere“, erklärt sie. „Nora und Ben mussten total schnell selbstständig werden und sind beide ihrem Alter weit voraus. Für andere klingt das vielleicht positiv, aber mich macht das oft traurig.“ Sie schluckt. „Mein Herz wird schwer, wenn ich mich frage, wo die Jahre hin sind. Ich war nie mit ihnen im Schwimmbad oder im Kino, konnte nie das mit ihnen unternehmen, was Kinder in ihrem Alter mal mit ihrer Mutter unternehmen möchten.“ Tränen schießen ihr in die Augen. Wenn sie ihre Tochter, die inzwischen 15 Jahre alt ist, fragt, wie sie die letzten Jahre geschafft haben, antworte sie immer: „Mama, wir mussten ja.“ Erst vor kurzem hat sie in der Schule ihre mündliche Realschulprüfung über das Thema „Schattenkinder“ abgelegt – Kinder, die weniger Aufmerksamkeit bekommen, als ihnen zusteht, weil ein Geschwisterkind krank oder behindert ist. Das Beschaffen und Lesen der Literatur habe Mutter und Tochter dabei geholfen, das Geschehene Revue passieren zu lassen und miteinander über die Familiensituation ins Gespräch zu kommen.

Und Max? „Max sagt immer: Glaubt an mich, schreibt mich nicht als behindert ab. Ich möchte laufen lernen, ich möchte gesund werden.“ Daran glaube sie und darum bete sie auch immer wieder. Trotzdem gebe es auch immer wieder ganz schwere Momente. Seine alten Schulfreunde machen jetzt ihren Führerschein, haben Freundinnen, machen ein Auslandsjahr oder Abitur. Das kriegt er natürlich mit und es macht ihn traurig, dass er nicht mehr dazu gehört. Er selbst wird jeden Morgen von einem Krankentransporter abgeholt, weil er nicht mal mehr einen Fuß vor die Tür setzen kann. Schon häufig sei er am Morgen deshalb in Tränen ausgebrochen. Es gebe aber auch viele Momente der Hoffnung und Freude. „Max war immer schon witzig, ironisch und schlagfertig. Er hatte immer schon diese Power, ihm war nie eine Hürde zu groß. Da hat er sich nicht verändert.“ Selbst die Ärzte und Therapeuten seien erstaunt gewesen, als sie gesehen haben, wie er in der Reha seine Therapien durchgezogen hat. „Er hat immer noch den Witz und Humor von damals. Das sind Dinge, die ich sehr an ihm bewundere. ‚Ich schaff das‘, sagt er immer. Da ziehe ich echt den Hut, er hat so eine Energie.“

WÜTEND AUF GOTT

Gerade hat er seinen Realschulabschluss absolviert und ganz nebenbei ein Buch über seine Erfahrung mit dem Locked-in-Syndrom geschrieben, das nun unter dem Titel „Tsunami im Kopf“ erschienen ist und innerhalb kürzester Zeit bereits viele Leser berührt hat. 18 Kapitel hat er dafür mühsam oftmals bis tief in die Nacht in sein Handy eingetippt, weil neben Unterricht, Therapien und Hausaufgaben tagsüber keine Zeit dafür war. Er hat jeden Buchstaben großgezogen, damit er sie trotz Sehschwäche besser sehen konnte. „Ich habe davon keinen einzigen Satz gelesen, bis es fertig war und er mich bat, nach Fehlern zu suchen“, staunt Jutta Schmidt. Es ist ein bewegender Bericht über seinen Kampf zurück ins Leben. Immer wieder berichtet er darin auch von seiner Mutter: „Ich habe wahre Liebe vor allem durch meine Mutter erfahren, die nicht eine Sekunde von meinem Krankenbett wich (…). Irgendwie bin ich überzeugt davon, dass ihre Liebe und Gebete in diesem Zimmer spürbar gegenwärtig waren und die Atmosphäre verändert haben“, schreibt er. Dabei habe sie sich selbst oft überhaupt nicht stark gefühlt, erklärt Jutta Schmidt. „Ich habe Gott so oft angefleht und um Hilfe gerufen. Oder ich war einfach nur wütend auf ihn und hab ihm geklagt: Du hast gesagt, du lädst nur so viel auf, wie wir ertragen können, aber eigentlich kann ich nicht mehr.“

„ALS WÜRDE JESUS NEBEN MIR SITZEN“

Trotzdem ist sie sich sicher: „Ohne meinen Glauben an Jesus hätte ich das nicht überstanden. Er ist mein Anker, mein Rettungsschirm, mein Halt, mein Trost, mein Alles.“ Oft habe sie in der Zeit die Bibel aufgeschlagen und genau das gelesen, was sie brauchte. „In der akuten Phase brauchte ich gar nicht unbedingt Freunde zum Reden“, erzählt sie. „ Es war mir alles viel zu anstrengend. Ich hätte mich da nicht so mitteilen können. Ich wollte einfach nur bei Max sein. Mein Gespräch war mit Jesus. Er kennt mich, er kennt meine Situation. Ich muss nichts erklären, ich muss nicht beschreiben, wie ich mich fühle. Er weiß um uns. Es war für mich, als würde er neben mir sitzen, und das reichte mir. Auch heute noch.“

Ihre Angst ist immer noch groß. Die Angst, dass eine Nachblutung kommt, die Angst, wie sie es als Alleinerziehende in der Zukunft schaffen soll. Bevor Max die Hirnblutung bekam, war sie bereits fünf Jahre mit den Kindern allein, „der Mann im Haus“, wie sie sagt. Doch die neue Situation stellt sie vor ganz neue Herausforderungen. „Angst gehört zu meinem Leben dazu. Es gibt Christen, die sagen: Wenn man an Gott glaubt, dann kennt man keine Angst. Aber sie vergessen, dass Jesus auch Angst hatte. Wir sind nicht frei von Angst und Leid, aber Jesus geht mit uns hindurch. Und das macht mich wiederum stark“, betont sie. Auf dem Transporter, der Max jeden Morgen zur Schule abholt, steht auf dem Nummernschild neben dem Ortskürzel „MH“. „Wenn Max nach so einem traurigen Moment seinen Mut wiederfindet und mit seinem Elektrorollstuhl in dieses Auto fährt, sehe ich ihm immer hinterher. Und da steht MH für mich jedes Mal für ‚Mein Heiland‘. Dann gehe ich erst mal rein, heule eine Runde, lese in der Bibel, bete und lege Gott meinen Schmerz hin. Und dann geht‘s weiter.“

Ruth Korte ist freie Schriftstellerin und lebt mit ihrer kleinen Familie in Gießen.

Liebe lässt sich nicht erzwingen

Wenn die 16-jährige Tochter das Elternhaus verlässt, reißt sie ein tiefes Loch …

Wir haben vor knapp zwei Jahren von heute auf morgen den Kontakt zu unserer ältesten Tochter verloren. Sie hatte aus verschiedenen Gründen immer mehr Zeit außerhalb unserer Familie verbracht. Bedingt durch mehrere schwere gesundheitliche Ereignisse in unserer Familie hatten wir nicht genug registriert, dass sie sich auch emotional von uns distanziert hatte. Die Auslöser waren sehr unterschiedliche Auffassungen zu Themen wie Freiheit, Sexualität und Glaube. Ohne dass wir es geahnt haben, hat unsere Tochter sich entschieden, auszuziehen und den Kontakt zu beenden.

In den ersten Wochen standen wir völlig unter Schock. Ich konnte kaum schlafen. Ich habe alles hinterfragt, ständig lief das Kopfkino auf und ab. Ich habe versucht, für die anderen Kinder zu funktionieren. Abends saß ich oft im Zimmer unserer Tochter und habe laut geweint. Ich schrie zu Gott, dass ich diesen Schmerz, diese Ohnmacht, diese Sehnsucht und dieses Ausgeliefertsein nicht aushalte. Es waren Stunden der Verzweiflung, der Wut, des Zerbruchs. Und dazwischen immer wieder die Bilder aus glücklichen Zeiten, die im ganzen Haus an den Wänden hängen …

ZERREISSPROBE
Ich kann Gott nur von Herzen danken, dass er mir seine Engel in Form von anderen Christen geschickt hat. Sie hatten offene Ohren zum Zuhören und beteten für uns. Und es waren oft nicht die Worte, sondern das Händedrücken oder die Umarmungen, die uns großen Trost gespendet haben.

Wir haben natürlich versucht, unsere Tochter zurückzugewinnen. Ein großes Problem war, dass mein Mann und ich sehr unterschiedliche Sichtweisen hatten. Ich bin eher der geradlinige Sturkopf, er der kompromissbereite Grenzenöffner. Was sich bisher ergänzt hatte, wurde nun zur Zerreißprobe. In diesem Punkt mussten wir viel lernen, hatten Kämpfe und Tiefschläge zu tragen und wissen heute, dass wir auch die kleinsten Entscheidungen nur gemeinsam treffen.

Ein großes Gefühl war auch die Hilflosigkeit, nichts tun zu können. Ich bin der Typ von Frau, die immer alles im Griff zu haben scheint. Hier war es an der Zeit einzugestehen, dass nichts mehr läuft und ich nur Gott alles vor die Füße werfen kann. Trotz unseres Kampfes bleibt am Ende nur eine Einsicht: Liebe, Dankbarkeit und Zugehörigkeit lassen sich nicht erzwingen. Trotz ihres minderjährigen Alters und obwohl wir nicht wissen und wussten, welchen Einflüssen sie ausgesetzt ist, blieb als einzig vernünftige Wahl, unsere Tochter loszulassen.

Wir haben sie losgelassen im Wissen, dass sie in Gottes Hand ist, und das ist unser gewaltiger Trost. Er lässt ihre Hand niemals los. Und er kann sie tausendmal besser führen, als wir es je hätten tun können. Dadurch wuchs unsere Zuversicht. Und wir konzentrierten uns auf die Aufgaben, die Gott für uns bereithielt. Wir haben dem Groll keinen Raum in unsere Herzen gegeben, auch wenn die Traurigkeit ein Teil unseres Lebens geworden ist. Aber die Gewissheit, dass Jesus größer ist und alles zum Guten wendet, hat uns eine tiefe innere Ruhe gegeben.

WEIHNACHTSWUNDER
Ende letzten Jahres hat sich Erstaunliches getan. Nach anderthalb Jahren stand unsere Tochter kurz vor Weihnachten überraschend vor unserer Tür. Unbeschreiblich schön und zugleich fern und befremdlich. Balsam fürs Mutterherz, das sich sofort ganz weit macht, obwohl man die Gefahr der Verletzlichkeit nur zu gut kennt. Mittlerweile reagiert sie auch auf Whats-App-Nachrichten und nimmt Einladungen an. Es gäbe viel aufzuarbeiten, und wir befinden uns auf einer vorsichtigen Reise in die gemeinsame Zukunft. Wir sind gespannt, wie Jesus uns führt und klammern uns an seine Hand.

Die Autorin möchte anonym bleiben.

Die Wut der Kinder aushalten

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