Der Mist mit dem Krönchen

Was kommt nach dem Hinfallen? Sandra Geissler über den Umgang mit den Hindernissen des Lebens.

Seit einigen Jahren schon pflege ich eine innige WhatsApp-Freundschaft mit einer lieben Freundin und damit das moderne Äquivalent einer herkömmlichen Brieffreundschaft. So viele Nachrichten sind über die Wochen und Jahre hin- und hergeflogen, dass wir einander, unsere Familien und Lebensumstände sehr gut kennenlernen konnten. Wir teilen die fröhlichen und die traurigen Momente des Alltags, die Kuriositäten und die Banalitäten des Lebens. Aber auch unsere Sorgen und unseren Kummer, unsere Erleichterungen und unsere Höhenflüge. Trotz der räumlichen Distanz ist über die Jahre hinweg eine herzliche Nähe entstanden, Vertrautheit und damit Vertrauen gewachsen.

Wenn ich so zurückblicke, dann gab es aber auch jede Menge zu erzählen, zu verarbeiten und zu sortieren: die Coronajahre, die in so vieler Hinsicht eine Grenzerfahrung für unsere Familien waren. Schulsorgen, Kindersorgen, Jobsorgen, kleine und große Herausforderungen, tiefe Trauer und manchen Ärger – der ganz normale Alltagswahnsinn ganz normaler Familien. Es gab und gibt jede Menge zu bewältigen und so gehen, stolpern, fallen wir durch unsere Leben und haben das Glück, einander davon auf die Mailbox quatschen zu können.

Keine Zeit zum Wundenlecken

Noch etwas fällt mir beim Zurückschauen, aber auch beim Umschauen in meiner nächsten Umgebung auf. Ist die eine Hürde genommen, die Herausforderung gewuppt, das Tal durchquert, dann schütteln wir uns kurz und traben zur nächsten. Das Leben, vor allem das Leben mit vielen lässt einem kaum eine Pause für langes Wundenlecken, gründliche Reflexionen und ordentliches Verdauen der Ereignisse. Und wir selbst bestehen auch nicht darauf, wie sollten wir auch? Zum einen traben Alltag und Leben ebenfalls munter weiter, längere Haltestellen sind nicht vorgesehen. Zum anderen ist menschliche Funktionstüchtigkeit ein hoher Wert in unseren Breiten.

Es gibt eine allseits beliebte Postkarte zu diesem Phänomen, zu finden auf jedem Spruchpostkartenständer in Supermärkten und Geschenkelädchen: „Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen“, heißt es dort kunstvoll gelettert und gern mit Krönchen verziert. Diese Spruchweisheit ist meines Erachtens eine hübsch getarnte Variante des althergebrachten „Reiß dich am Riemen! Stell dich nicht so an, weiter geht‘s!“. Die Karte bringt auf den Punkt, was ich von mir erwarte: Ich lasse mich durch nichts unterkriegen, habe alles im Griff. Wenn ich falle, stehe ich einfach wieder auf und mache unbeirrt weiter. Denn ich bin ja nicht aus Zucker, kein Weichei, und wenn etwas dumm gelaufen ist, mache ich einen Haken dran.

Grenzen ignoriert

Diese Philosophie lässt sich auf nahezu alle Lebensbereiche anwenden, ganz gleich, ob simple Alltagsherausforderung oder echter Ausnahmezustand, ob kleine Kränkung oder veritable Grenzerfahrung. Eine Postkarte für alle Anlässe. So ein Motto, auch wenn es auf eine Postkarte passt, verlangt sehr viel von meinem Herzen und Hirn, meinem Körper und meinem Geist. Es verlangt vor allem, die eigenen Bedürfnisse und Grenzen und die Begrenztheit der eigenen Ressourcen zu ignorieren. Du darfst zwar fallen, aber nur, um gleich wieder aufzustehen und den Stolperstein möglichst schnell hinter dir zu lassen. Wir haben alles in der Hand und zwar mit festem Griff. Vielleicht nicht die Ereignisse, aber doch uns selbst.

Das ist ein fataler Irrtum. Eine Postkartenweisheit, die eine Beschaffenheit der menschlichen Seele suggeriert, die der einer Teflonpfanne gleicht und an der alle Herausforderungen abperlen, ohne gravierende Spuren zu hinterlassen. Eine verlockende Illusion hat sie außerdem im Gepäck. Die Idee von Kontrolle, wenn man sich nur genug Mühe gibt. Wir gestatten uns selten bis nie, innezuhalten und zuzugeben: „Das war einfach zu viel. Ich weiß nicht mehr weiter, heute nicht und morgen aller Wahrscheinlichkeit auch nicht. Ich brauche dringend eine Pause, die letzten Wochen waren herausfordernd. Dieser Kummer hat mein Leben für immer verändert. Mit dieser Schuld muss ich leben. Dieses leidige Thema holt mich immer wieder ein.“ Selbst Trauernden wird häufig nur eine begrenzte Zeit zugestanden, bevor sie sich und ihre Emotionen wieder im Griff haben sollen.

Dellen im Krönchen

Meiner bescheidenen Erfahrung nach melden sich aber Altlasten und Gebrochenheiten in schöner Regelmäßigkeit in Form von Stolpersteinen zurück, über die man dann nicht einfach hinweggehen kann. Wer zu lange immer weiter macht, brennt aus. Auf manchen Schmerz gibt es ein lebenslanges Abo, manche Fehler suchen mich immer wieder heim. Nicht alles, was dir widerfährt, wird wieder gut. Du merkst es spätestens dann, wenn der eigene Körper protestiert, weil das Weitermachen nach dem Fallen die einzige Zielrichtung ist und er lieber in die andere Richtung will. Oder liegen bleiben möchte, nur für ein Weilchen. Du fällst, du stehst auf, richtest dein Krönchen und gehst weiter, aber wie? Hinkend und lahmend? Mit zusammengebissenen Zähnen, weil die Teflon-Beschichtung der Seele in Wirklichkeit nicht allzu haltbar ist und sich die Kratzer nur mit viel Mühe ignorieren lassen?

Ich denke allerdings nicht, dass wir nun dringend Postkartenmotive bräuchten mit Lebensweisheiten wie: „Hinfallen, liegen bleiben, noch tiefer einbuddeln und im Jammertal heimisch werden.“ Das wäre kaum eine praktikable Lösung. Und ich wünsche wirklich niemandem ein Leben zusammengekauert in Ausweglosigkeit. Aber zwischen „sich einrichten im Jammertal“ und „beharrlich weitermachen, als wäre nie etwas gewesen“ darf es Rastplätze geben, Seitenstreifen und Ruhebänkchen: eine Weile neben dem Weg sitzen bleiben und die eigenen Glieder und Umstände sortieren. Möglichkeiten finden, um anzuhalten und sich um dringende Bedürfnisse zu kümmern. Auftanken und ausruhen in dem Wissen, dass ich weder die Ereignisse noch mich selbst immer im Griff haben kann und muss. Zeit zum Weinen und Zeit, Frieden zu schließen. Zeit, Atem zu holen und Zeit, still zu werden, weil das Leben zu laut ist.

Hin und wieder vergessen wir im Strudel der Ereignisse, dass wir Menschen sind und nicht Gott. Menschen müssen und können nicht immer funktionieren, weitermachen und unverdrossen weitergehen. Manchmal hat das blöde Krönchen so viele Dellen, dass man es beherzt in die Ecke schmeißen oder gegen einen Regenhut eintauschen darf. Als Menschenkind bin ich wertvoll und geliebt, auch wenn ich ein Weilchen nicht weiterzugehen vermag. Ich darf stolpern, ich darf hinfallen und mich dann getrost an die Seite setzen, um zu klagen, Kraft zu sammeln, Haare zu raufen und Hilfe zu erbitten.

Klagen und Haareraufen

Die Psalmen Davids gehören zu meinen liebsten Texten. Sie sind in gewisser Weise sehr viel menschenfreundlicher als unsere Postkartenweisheiten. Vielmehr sind sie ein wahrer Schatz für beanspruchte Menschenherzen, die dringend eine Pause brauchen. Dort findest du eine wortgewaltige Fülle an Gezeter und Gejammer, an Klagen und Haareraufen. Du findest aber auch Rufe nach Hilfe und Vergebung. Lieder der Zuversicht und des Vertrauens auf Gott, der weiß, dass seine Menschenkinder in schöner Regelmäßigkeit fallen, nicht zuletzt über ihre eigenen Füße, der Zuflucht ist und sichere Burg. Die Psalmen besingen nicht, wie man sich am Riemen reißt oder die Zähne zusammenbeißt.

Ich mag sie, weil sie Gott mitten hinein ins allermenschlichste Leben holen, meinen Gott, der mich tröstet und hält, wenn es mich umgehauen hat. Der Psalmist hat offenbar überhaupt keine Hemmungen, sein Straucheln und Fallen Gott entgegenzusingen, seine Bedürftigkeit nach Zuwendung, Trost und Hilfe. Genau das möchte ich mich häufiger trauen. Wenn das Leben mich zu Fall bringt, muss ich nicht sofort weitermachen, als wäre nichts gewesen.

Ganz praktisch darf ich Termine streichen und das Tempo rausnehmen. Ich darf Nein sagen, wenn es mir zu viel wird. Früh zu Bett gehen und spazieren, traurig sein und mir ratlos die Haare raufen, solange es eben dauert. Wenn ich dann so weit bin, wenn die Kraft wiederkehrt, wenn die Tränen getrocknet und die Sorgen sortiert sind, dann kann ich mich auf den Weg machen. Vielleicht sind die ersten Schritte wacklig und unsicher, langsamer und suchender. Aber ich gehe, in meinem Tempo. Die nächste Herausforderung kommt bestimmt. Wo ein Weg, da auch Hürden. Vielleicht brauchen wir eine Postkarte, die uns erinnert: „Hinsetzen, zu Kräften kommen und mit Gott und lieben Freunden quatschen!“

Sandra Geissler ist katholische Diplomtheologin und arbeitet als Lehrerin und Schulseelsorgerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Nierstein am Rhein und bloggt unter: 7geisslein.com

„Bist zu uns wie ein Vater …“

Die Beziehung zwischen Gott und den Menschen hat Ähnlichkeiten zu unserem Elternsein. Lisa-Maria Mehrkens hat sich auf die Suche gemacht.

„Vater unser im Himmel …“ So beginnt das bekannteste Gebet. Ist Gott also der Idealtyp eines Vaters? Zuerst einmal ist „Vater“ eine Beschreibung Gottes, die uns helfen soll zu begreifen, wie Gott ist. Wir müssen als Eltern nicht so sein wie Gott. Aber wir können uns einiges von seinem Wesen und Handeln für unser Elternsein zum Vorbild nehmen.

Erreichbarkeit und Verlässlichkeit

„Bist zu uns wie ein Vater, der sein Kind nie vergisst“, so beginnt das bekannte Lied „Unser Vater“. Gott vergisst seine Kinder niemals und hält seine Versprechen ein! „Aber Mama, du hast mir das doch versprochen …“ Die Enttäuschung bei meinen Kindern, wenn ich im hektischen Alltag ein Versprechen vergessen habe, ist oft groß und das Vertrauen schwindet. Im schlimmsten Fall sind sich Kinder dann nicht mehr sicher, ob sie sich auf die Versprechen ihrer Eltern überhaupt verlassen können. Wir sollten deshalb vorsichtig mit unseren Zusagen sein und gegebene Versprechen im Zweifelsfall aufschreiben.

Das Lied geht weiter: „… der trotz all seiner Größe immer ansprechbar ist.“ Gott ist immer für uns da und gibt uns stets Priorität. Kinder haben manchmal ein Talent für ungünstiges Timing. Sie haben meist dann ein Anliegen, wenn die Eltern gerade beschäftigt sind oder es eilig haben. Aus elterlicher Sicht erscheint das kindliche Problem dann nicht so dringend oder wichtig. Doch wie würde es uns gehen, wenn wir beten und als Antwort von Gott hören: „Warte mal kurz, ich kann mich gerade nicht um deine kleinen Probleme kümmern, ich habe Wichtigeres zu tun“? Manchmal hilft es, innezuhalten und die Situation durch Kinderaugen zu sehen. Kinder wollen ernst genommen werden und die Eltern als verlässliche Ansprechpartner erleben. Aufmerksam zuhören und gemeinsam überlegen, wie und wann das Anliegen gelöst werden kann, bewirkt oft schon viel.

Liebe und Wertschätzung

Gott beschenkt uns großzügig mit seiner Liebe. Und diese Liebe ist bedingungslos! Gott sagt nicht: „Ich liebe dich, wenn du machst, was ich dir sage. Wenn du gute Noten schreibst, dein Zimmer aufräumst, Pfarrer wirst…“ Gott liebt uns als seine Kinder bedingungslos. Vor ihm dürfen wir ehrlich sein, müssen uns nicht verstellen oder irgendwelche Erwartungen erfüllen. Auch die meisten Eltern lieben ihre Kinder bedingungslos. Aber im Alltag fällt es nicht immer leicht, sie mit allen Ecken und Kanten wertzuschätzen – auch oder gerade dann, wenn sie unsere Erwartungen mal nicht erfüllen.

Einzigartig und zu seinem Ebenbild geschaffen

Eltern suchen bei ihren Kindern immer wieder nach Vertrautem: „Die Augen hat sie von mir.“ Oder: „Genauso habe ich mich als Kind auch benommen.“ An diesen Ähnlichkeiten erkennt man die Zugehörigkeit der Kinder zu ihren Eltern. Auch Gott als unserem himmlischen Vater geht es so. Wir sind zu seinem Ebenbild geschaffen und Gott freut sich, wenn wir ihm ähnlicher werden in unserem Denken und Handeln. Gleichzeitig ist jeder von uns einzigartig gemacht. Diese Unterschiede erscheinen uns bei uns selbst oder unseren Kindern im Vergleich mit anderen oft als Schwachstellen. Meist sehen wir nur, worin wir schlechter sind als andere. Doch Gott liebt Vielfalt und Einzigartigkeit! Daher dürfen auch wir uns und unsere Kinder in aller Unterschiedlichkeit annehmen und besonders wertschätzen.

Geduld und Vergebung

Oft verliere ich im Umgang mit meinen Kindern die Geduld. Wenn meine Tochter auf dem Weg in die Kita trödelt, obwohl ich es eilig habe. Wenn ich meinen Sohn zum zehnten Mal vom Stuhl herunternehme, auf den er nicht klettern soll. Wenn meine Kinder dann leise „Entschuldigung, Mama“ sagen, verraucht meine Wut. Und ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich lauter geworden bin. Weil Gott vollkommen ist, bekommt er es besser hin. Er ist im Umgang mit uns unendlich geduldig, bleibt stets gelassen und ist immer wieder neu zur Vergebung bereit. Sanftmütig und liebevoll nimmt er uns immer wieder an und gibt uns eine neue Chance. Diese Güte und Geduld dürfen wir an unsere Kinder weitergeben. Dass wir das nicht so perfekt hinbekommen wie Gott, liegt daran, dass wir Menschen sind …

Liebe und Grenzen

Wenn ich meinen Kindern zum Nachtisch ein weiteres Stück Schokolade verbiete oder sie bei Minusgraden nicht im Lieblingssommerkleid rauslasse, führt das oft zu Wutanfällen. Denn sie verstehen den Grund für mein Nein nicht. Sie sehen nur die unmittelbare Situation, nicht deren Folgen oder das große Ganze. Manchen Eltern fällt es dann schwer, den verständlichen Ärger der Kinder auszuhalten. Doch seine Kinder zu lieben, kann auch bedeuten, ihnen Grenzen zu setzen.

Auch Gott sieht in uns Potenzial, das wir manchmal selbst noch nicht sehen. Er will uns helfen, es zu entfalten. Dafür kann es nötig sein, uns zu korrigieren oder in Liebe Grenzen zu setzen. Das kann für uns ein herausfordernder oder sogar schmerzhafter Weg sein, den wir nicht immer verstehen. Vielleicht lässt Gott Dinge in unserem Leben zu, die nicht zu unserem Bild von ihm als Vater passen. Oder er versperrt Wege, die wir gern gegangen wären. Doch wie alle Eltern für ihre Kinder will auch Gott unser Bestes! Wir können darauf vertrauen, dass unser Vater im Himmel weiter sieht und mehr versteht als wir und am Ende alles zum Guten führen wird.

Freiraum und Halt geben

Als meine Tochter Fahrradfahren lernte, brauchte sie anfangs noch viel Hilfe. Ich musste sie festhalten, damit sie nicht stürzt. Irgendwann wurde sie sicherer auf dem Rad und wir lernten beide, loszulassen. Ich musste lernen, auf ihre Fähigkeiten zu vertrauen und ihr den nötigen Freiraum zu geben, damit sie allein ihren Weg fahren kann. Auch unser himmlischer Vater ist ein sicherer Halt und Schutz für uns, auf seine Unterstützung können wir stets vertrauen. Gleichzeitig lässt er uns unseren Willen und Freiraum, damit wir uns entwickeln und entfalten können. Er traut uns eine Menge zu, ohne jede Angst, dass wir den Herausforderungen nicht gewachsen sein könnten. Wir dürfen eigene Erfahrungen sammeln und er hilft uns bei Bedarf. Wie in der Geschichte des verlorenen Sohnes dürfen wir jederzeit in Gottes offene Arme zurückkehren, wenn wir uns verlaufen haben.

Als Eltern können wir auch unseren Kindern ein sicherer Hafen sein, zu dem sie immer zurückkehren können. Aber sie dürfen auch ihre eigenen Wege gehen, selbst wenn diese vielleicht von den elterlichen Vorstellungen abweichen. Und wir dürfen uns entspannen und ihnen zutrauen, dass sie in dieser Welt zurechtkommen und das Potenzial entfalten, das Gott in sie hineingelegt hat.

Kind sein beim himmlischen Vater

Auch wenn wir selbst Eltern sind, bleiben wir immer Kinder Gottes. Unser Vater im Himmel freut sich mit uns über Gutes in unserem Leben. Er schützt uns, wenn wir Angst haben. Er leidet mit und tröstet uns in schweren Zeiten. Er stellt sich vor uns und kämpft, wenn wir es gerade nicht können. Was für ein Geschenk, dass wir immer wieder in seine Arme laufen können! Er sehnt sich nach Gemeinschaft mit uns. Vielleicht erinnert er uns ab und an daran, dass das letzte Gespräch mit ihm schon eine Weile her ist. Oder er fragt leise an, ob wir nicht mal wieder Zeit mit ihm verbringen wollen. Dann dürfen wir Gottes Töchter und Söhne sein, uns von ihm beschenken lassen mit seiner Gegenwart und seinem Segen und einfach die Gemeinschaft mit unserem himmlischen Vater genießen. Dann dürfen wir beten: „Unser Vater im Himmel …“

Lisa-Maria Mehrkens ist Psychologin und freie Journalistin und lebt mit ihrer Familie in Chemnitz.

ERWACHSEN GLAUBEN

„Zurück zur ersten Liebe“ wird in Predigten oft als Ziel für die Glaubenden ausgegeben. Martin Benz plädiert dagegen für einen Aufbruch zu einer neuen, tieferen Liebe.

Glaube entwickelt sich. Wenn ich mein eigenes Leben betrachte, dann sieht mein heutiger Glaube anders aus als im Alter von 13 Jahren. Glaube geht durch Phasen, und es dient seiner Gesundheit, dass er immer wieder die Übereinstimmung mit der eigenen Lebensrealität sucht.

Je ernster Menschen ihren Glauben nehmen, desto absoluter und unveränderlicher wünschen sie ihn sich. Sie unternehmen große Anstrengungen, damit er sich nicht verändert, nicht verwässert oder lau wird. Glaube soll bleiben wie am Anfang, immer deckungsgleich mit dem Mix an Überzeugungen, den man aus einem bestimmten Bibelverständnis hergeleitet hat. Und doch erleben manche Christen über die Jahre hinweg die zunehmende Entfremdung ihres starren Glaubens von ihrem Leben. Mir begegnen immer mehr Christen, die mit ihrem Glauben ehrlich werden wollen. Für sie ist die innere Spannung zu groß geworden, und sie erleben den Glauben zunehmend als frustrierende Erfahrung. Diese Christen sind glaubensmüde, sie fühlen sich in ihrem eigenen Glauben nicht mehr zu Hause. Ein bestimmtes Entwicklungsmuster begegnet mir dabei immer wieder.

Erste Leidenschaft

Bei vielen Christen beginnt das Glaubensleben mit dem, was man typischerweise als „erste Liebe“ bezeichnet. Überwältigende Erfahrungen mit Gott oder Gemeinschaft zünden ein inneres Feuer an, das viel Glaubensenergie freisetzt. Es ist eine Phase hoher Aktivität bei nicht so hoher Reflexion dessen, was man da eigentlich glaubt. Das Leben kommt durch den Glauben erst einmal in Bewegung.

Als ich den Glauben als Teenager entdeckt habe, war er von dieser radikalen Leidenschaft geprägt. Ich habe die Bibel zweimal im Jahr durchgelesen, meine Klassenkameraden zu allen möglichen christlichen Veranstaltungen eingeladen, auf Jugendfreizeiten Traktate verteilt, meine weltlichen Schallplatten zerbrochen und die Spielkarten der Eltern verbrannt.

Klare Glaubenssysteme

Im Laufe der Zeit entwickelt sich daraus ein Glaubenssystem. Es wachsen theologische Überzeugungen und Prägungen, und man eignet sich ein bestimmtes Set an Glaubensinhalten an. Der Glaube gewinnt an Profil mit klaren Ansichten. In dieser Phase erlebt man zunächst eine wachsende Übereinstimmung zwischen Lebensrealität und Glaubensrealität.

Durch meine geistliche Prägung war ich zutiefst davon überzeugt, dass Gott alle Kranken heilt, die Bibel wörtlich zu nehmen ist, all ihre Moralvorstellungen immer noch gültig sind und Gott die Seinen vor allem Übel bewahren wird.

Ernüchternde Realität

In der dritten Phase wird diese Übereinstimmung empfindlich gestört. Durch ausbleibende Gebetserhörungen, geplatzte Lebensträume, Brüche in der eigenen Biografie, Gemeindekonflikte, Zweifel am bisherigen Bibelverständnis oder die Konfrontation mit anderen Glaubensmodellen bekommt das Glaubenssystem Risse. Die Eindeutigkeit bisheriger Überzeugungen schwindet, und man erlebt eine wachsende Enttäuschung, Skepsis und Ernüchterung dem Glauben gegenüber. Diese Phase ist oft mit Schuldgefühlen verbunden, weil man weiß, was man glauben sollte, es aber nicht mehr kann.

Bei mir war es eine zerbrochene Ehe, die mich auf den harten Boden der Realität aufschlagen ließ und an den Grundfesten meiner Glaubensüberzeugungen gerüttelt hat. Warum hat Gott meine Ehe nicht bewahrt? Warum die vielen Gebete für unsere Familie nicht erhört? Mein Gottesbild und Bibelverständnis passten nicht länger zu meiner Lebensrealität.

Wachsender Zynismus

Oftmals hält ein inneres Aufbäumen gegenüber Ernüchterung und Frustration eine Zeit lang an, nur um einen dann umso härter auf den Boden der Realität zu werfen. Die Fragen und der Zweifel, die sich eingeschlichen haben, lassen sich irgendwann nicht mehr zum Schweigen bringen. Die ständigen Appelle an die erste Liebe ziehen nicht mehr. Wer dies oft genug mitgemacht hat, dessen Ernüchterung und Frustration kann am Ende so weit führen, dass nur noch ein dumpfer Zynismus bleibt oder der Glaube gänzlich verloren geht.

Ich plädiere für einen anderen Weg: nicht zurück zur ersten Liebe, sondern durch die Veränderung unseres Glaubens, das Ernstnehmen unserer Brüche, Fragen und Zweifel die Möglichkeit schaffen, dass Glaube und Leben sich wieder zueinander entwickeln. Dadurch können eine neue Liebe und eine neue Leidenschaft wachsen für einen Glauben, der wieder authentisch und im wahrsten Sinne „glaubwürdig“ ist.

Damit Glaube sich verändert, muss er sich weiterentwickeln. Manchmal fühlt sich der eigene Glaube wie eine Wohnung an, in der man sich nicht mehr zu Hause fühlt und in die man niemanden mehr einladen möchte. Wie bei einem normalen Umzug muss sich auch der Glaube die Fragen stellen: Welche Inhalte, welche Praxis und welche Überzeugungen sind wertvoll, die ich bewahren und mit in die Zukunft nehmen möchte? Welche muss ich entsorgen, weil sie sich nicht bewährt haben oder in krankmachender Spannung zu meiner Lebensrealität stehen? Und welche sollte ich mir neu aneignen, damit der Glaube an Perspektive, Freiheit und Möglichkeiten gewinnt? Mitnehmen, entsorgen, neu anschaffen – so kann Glaube erwachsen werden.

Martin Benz arbeitet seit 30 Jahren als Theologe und Pastor und wohnt mit seiner Familie in Erlangen. Gerade ist sein Buch „Wenn der Glaube nicht mehr passt“ bei Neukirchener erschienen.

Kindlich glauben …

… dass Gott sich kümmert

Carina Nill will sich ihren Sohn zum Vorbild nehmen. Der vertraut darauf, dass sein Vater ihm mit Rat und Tat zur Seite steht.

Mein Rücken ist kaputt. Glaube ich. Was ich da als Erstes mache? Ich schiebe es auf die lange Bank. Wenn es die Zeit zulässt, packe ich etwas Wärme drauf oder mache meine Übungen.

Die Beziehung zu meinem Onkel hat einen Knacks bekommen, seit es Oma nicht mehr gibt. Ich überlege und unterdrücke, ärgere mich und trauere in mich hinein und hole schließlich mutig – eine zweite lange Bank heraus, um auch das aufzuschieben.

Eine Entscheidung steht an. Ich hasse Entscheidungen. Leider sind hier lange Bänke oft nicht erlaubt. Ich hole mir Rat bei Freunden in der gleichen Situation und bleibe mit rauchendem Kopf unsicher und unzufrieden mit mir selbst zurück.

Ganz anders meine Kinder. Ein aufgeschürftes Knie, ein kaputter Bagger, ein Streit im Kindergarten … Was sie da als Erstes machen? Es wird sofort gehandelt. Schließlich geht es beinahe um Leben und Tod. Meistens wird nicht erst überlegt, wie man selbst etwas dazu beitragen könnte. Es wird sich beschwert und geärgert, und zwar nicht still in sich hinein. Nein, lautstark und triefend nass vor Elefantentränen werfen sie sich in unsere Arme. Der Schmerz ist groß und die Sehnsucht nach elterlichem Trost noch größer.

Unser kleinster Sohnemann, der mit seinen zwei Jahren noch kaum recht sprechen konnte und sich stets andere Wege suchte, um sich auszudrücken, benutzte nun schließlich für genau diese Situationen das richtige Wort. Egal, ob es der Sprung in der Müslischale oder die eingerissene Buchseite war, der platte Reifen am Laufrad oder die fehlende Batterie in der Taschenlampe – er wusste, sein starker Papa bietet Rat und Tat. Nichts anderes als logisch, dass aus unserem erwachsenen Wort „Reparieren“ ein vertrauensvolles „Paparieren“ wurde. Oh, wie groß sind doch die Ideen der Kleinsten!

Liebevolle Arme

Und ich? Anstatt mich mit meinen Rückenschmerzen zuerst an unseren Vater im Himmel, bekannterweise ein berühmter Arzt, zu wenden und um Rat zu fragen, jammere ich still herum und frage lieber Dr. Google.

Anstatt mich zuerst in die liebevollen Arme meines himmlischen Vaters zu werfen, wenn es in der irdischen Familie Auseinandersetzungen, Verletzungen oder bedrückendes Schweigen gibt, packe ich all mein therapeutisches und pädagogisches Wissen zusammen, um mir die Situation erklärbar und lösbar einzureden. Dabei sitzen der Schmerz und die Ungewissheit viel tiefer im Herzen.

Anstatt zuerst mit meinem guten Freund Jesus meine Situation bezüglich dieser Entscheidung zu besprechen und von ihm zu hören, was er über mich und mein Leben denkt, lasse ich mich verunsichern, vergleiche zu viel und vertraue zu wenig. Ich weiß nicht, wann genau es verloren geht, das kindliche Zum-Papa-Rennen. Sich von den Eltern trösten zu lassen und ihren Rat zu suchen. An das „Paparieren“ zu glauben.

Ich habe angefangen, dieses Wort zu lieben. Obwohl ich neulich die Räder vom Spielzeug-Rennflitzer „mamariert“ habe und von unserem Jüngsten dafür erstaunte bis verwirrte Blicke erntete. Natürlich kann auch Mama Dinge in Ordnung bringen – aber ich liebe diese Metapher nicht, weil ich uns Frauen kleinreden will, sondern weil ich den himmlischen Vater großmachen will.

Von unseren Kindern lernen

Der beste „Paparateur“ ever – der, der die Situation überblickt, der meine Wunden heilt, sich meiner Entscheidungsschwäche annimmt. Vielleicht bringt er nicht immer alles so in Ordnung, wie wir es gern hätten, aber er kümmert sich, tröstet mich, liebt mich.

Wie gern würde ich von unseren Kindern lernen und nachahmen, zuerst und mit allem zu unserem königlichen Vater zu rennen. Und mich daran erfreuen, dass er mit unseren reparaturbedürftigen Anliegen geduldiger ist, als wir es auf der Erde je sein könnten. Bestimmt geben alle Papas gern ihr Bestes für ihre Kinder – daher erstaunt es mich manchmal umso mehr, dass die Liebe des königlichen Vaters noch viel größer, intensiver, stärker und bedingungsloser sein muss. Welch Privileg, sein Kind sein zu dürfen, egal, wie erwachsen wir doch sind.

Carina J. Nill ist Kunst- und Lerntherapeutin und Autorin von „Count your Blessings: Mein kreatives Segen-Sammelbuch“. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Deizisau bei Esslingen.