Wenn der Alltag aus dem Takt kommt…

In vielen Familien ist das Lebenstempo enorm. Wie kommt es dazu? Und wie können Familien ihren Alltag entschleunigen? Von Jessica Schlepphege

Wir Erwachsenen ahnen es schon lange: Unsere Welt dreht sich viel zu schnell. Neben Arbeit und Haushalt fühlen wir uns immer häufiger selbst in den Bereichen gehetzt, die uns eigentlich Freude bereiten sollten: Familie, Freundschaften und Hobbys. Gerade Familien spüren, dass ihnen in der Wochenplanung weniger Termine und mehr Raum gut tun würden. Doch wie lassen sich die unterschiedlichen Lebensgeschwindigkeiten der einzelnen Familienmitglieder mit dem Takt der Familie und des Alltags in Einklang bringen?

Zu viele Termine
Bis zu einem gewissen Grad sind stressige Zeiten völlig normal. Immer wieder gibt es Phasen für Familien, in denen das Alltagstempo zunimmt – bei Krankheit, wenn für den Urlaub gepackt wird oder ein Projekt für Schule oder Beruf ansteht. Diese Zeiten darf es geben, in gewisser Weise beleben sie auch den Familienalltag. Dauern die Phasen des zu hohen Tempos jedoch an oder ebben sie gar nicht mehr ab, dann leiden wir darunter. Gestresste Eltern sind nicht so belastbar wie gewöhnlich, und es kommt schneller zu Konflikten. Stehen die Kinder unter Stress, reagieren sie häufig mit dem, was wir gerne als „schwieriges“ Verhalten bezeichnen. Auch dadurch steigt das Konfliktpotential. Es wird deutlich: Andauernder Stress tut Familien nicht gut.
Welche Faktoren sind es, die unseren Alltag so sehr beschleunigen? Viele Familien nennen hier nicht nur die Erziehungsaufgabe, Haushalt, Job oder angespannte Beziehungen. Immer häufiger hört man auch: Es sind die Freizeittermine. Woher kommt dieses Zuviel an Terminen? Eigentlich wissen wir doch, dass uns ein ausgewogenes Maß aus ritualisierter Zeit und freien, unverplanten Zeiträumen gut tun würde.

Begabungen fördern
Doch leider lassen wir uns allzu oft vom lange verinnerlichten Leistungsdenken antreiben oder gar unter Druck setzen. Produktivität ist das Schlagwort (oder Unwort?) unserer Gesellschaft. Und so lassen wir auch unsere Kinder schon früh spüren, welchen Stellenwert Lernen und Leistung haben. Denn wir möchten natürlich nicht, dass sie einfach nur in der Natur herumstromern, wir haben ein Programm für sie. Dahinter steckt nach Ansicht des Neurobiologen Gerald Hüther in erster Linie unsere Zukunftsangst, verbunden mit den Hoffnungen und Erwartungen für unsere Kinder. Deshalb fordert er zusammen mit dem Kinderarzt Herbert Renz-Polster in ihrem Buch „Wie Kinder heute wachsen“: „Statt die Kindheit mit einem geheimen Lehrplan zu füllen, von dem wir weder wissen, ob er wirklich zu den Herausforderungen der Zukunft passt, noch welche Kosten er unseren Kindern aufbürdet, sollten wir die Kindheit ihrem fundamentalen Zweck überlassen: dass Kinder wachsen können – von unten nach oben.“

Wir dürften uns als Eltern also entspannen und darauf vertrauen, dass unsere Kinder sich auch ohne Musikunterricht, Sportverein und Fremdsprachenkurs gesund entwickeln werden. Ja, dass die Zeiten des freien Spiels und der Langeweile sogar nützlich für die gesunde Entwicklung und das Lernen sind.
Gleichzeitig wollen wir die Gaben, die Gott in jeden hineingelegt hat, aber auch nicht vergraben. Auch die beiden Autoren stellen fest, wie gut es Kindern tut, wenn sie sich mit ihren Talenten in die Gemeinschaft einbringen können. Es gilt daher, ein gesundes Maß sowie natürliche Wege zu finden, um Talente zu entwickeln und die Freizeitwünsche der Kinder zu berücksichtigen. Der Schlüssel liegt darin, sich nicht von Zukunftsängsten leiten zu lassen, sondern die Freude an der Begabung in den Mittelpunkt zu stellen. Dann kann diese für die Kinder, für die restliche Familie und die erweiterte Gemeinschaft zur Bereicherung werden.

Anwesend und ansprechbar
Die Anzahl der Termine sind einer der Faktoren, die unseren Alltag so temporeich erscheinen lassen. Nicht selten empfinden wir unser Leben aber auch als stressig, weil wir es nicht bewusst leben. Die Woche ist schon wieder vorbei – und wir haben das Gefühl, gar nicht dabeigewesen zu sein.

Achtsamkeit lautet hier das Schlüsselwort. Es liegt in unserer Hand, wie wir unseren Alltag erleben. Ob wir einen schönen Moment wie das gemeinsame Essen mit Nebensächlichem verbringen (Stichwort Smartphone) oder ganz anwesend und ansprechbar sind. Ob wir gedankenverloren durch die Woche stolpern oder jeden Schritt bewusst nehmen. Ob wir blind unseren Verpflichtungen nachkommen oder unsere Umgebung, die Natur, unsere Mitmenschen und vor allem unsere Lieben mit wachem Geist wahrnehmen und genießen.

Wenn wir den Tag achtsam begehen, erleben wir diesen erwiesenermaßen als länger und entspannter. Außerdem kann uns Achtsamkeit helfen, in stressigen Situationen gelassener zu reagieren oder diese ganz zu vermeiden. Denn wer im Moment ganz anwesend ist, begreift schneller, was einen Vorgang (Hausaufgaben machen, Schuhe anziehen …) gerade so sehr verzögert: Das Kind hat Hunger/muss auf Toilette/braucht gerade Sicherheit …

Außerdem gilt: Wer einen achtsamen Blick auf die eigenen Bedürfnisse hat, dem bleibt mehr Kraft für den Alltag. Das Bewusstsein für Bedürfnisse spielt im Familienalltag also eine große Rolle.
Bedürfnisse wahrnehmen

Für Familien gilt, wie für jeden einzelnen Menschen, die Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow:

5. Selbstverwirklichung
4. Bedürfnis nach Anerkennung/Individualbedürfnisse
3. Soziale Bedürfnisse
2. Sicherheit
1. Grundbedürfnisse

Diese Pyramide besagt: Erst wenn unsere existenziellen Grundbedürfnisse nach Nahrung, Schlaf, Wärme und das Bedürfnis nach Sicherheit befriedigt sind, können wir uns allem Weiteren widmen. Diese Erkenntnis scheint trivial, und doch sind es gerade die unerfüllten Bedürfnisse, die sich im Alltag immer wieder als Stolpersteine und Zeitfresser bemerkbar machen. Sei es, dass das Baby im ungünstigsten Moment in die Windel macht, das Kindergartenkind vor lauter Unterzuckerung keinen Schritt mehr gehen mag oder der Teenager aufgrund von Schlafmangel überreagiert. Je kleiner die Kinder, desto bedeutender ist die Rolle der Eltern als Bedürfnisstiller. Und in vielen Fällen sind sie es auch, die erst einmal dahinter kommen müssen, welches Grundbedürfnis des Kindes gerade erfüllt werden möchte. Gleichzeitig sollten sie aber auch ihre eigenen Bedürfnisse nicht aus dem Blick verlieren.

Dieses Jonglieren der vielen Bedürfnisse erfordert ein Aufbrechen der Pyramiden-Hierarchie. Das stellen Julia Dibbern und Nicola Schmidt in ihrem Buch „slow family“ fest. Sie haben beobachtet, dass die untersten drei Bedürfnisse nicht aufeinander aufbauen, sondern sich gegenseitig bedingen. So sind Eltern viel eher in der Lage, Bedürfnisse zu stillen, wenn sie auch in guten Beziehungen leben. Diese betten sie in ein soziales Netz, in dem Aufgaben, Verantwortung und Termine auf mehrere Schultern verteilt werden können. Beziehungen bewirken wiederum, dass wir uns wohl, sicher und eingebunden fühlen. Aus dieser inneren Sicherheit heraus schöpfen Eltern nicht nur die Kraft und Liebe, die sie für ihre Kinder benötigen, sie bildet auch eine sichere Basis für das Bedürfnis nach Anerkennung und Selbstverwirklichung.

Einen Gang zurück
Nicht nur das Lebenstempo – das allzu oft von außen vorgegeben wird – bestimmt unseren Familienalltag, sondern auch die unterschiedliche Taktung jedes einzelnen Familienmitglieds. So bunt, wie Menschen sind, so viele Möglichkeiten gibt es auch, um den Familienalltag zu einem erfüllenden und ausgewogenen Lebensabschnitt für alle zu gestalten.

Umso wichtiger ist es, nicht starr an einem Konzept festzuhalten, sondern je nach Familienzusammenstellung und Lebensphase immer wieder neu zu entscheiden, wieviel Programm und wieviel Freiraum allen gut tut. Während die junge Familie mit einem Kind den Alltag gern lebendig gestaltet, möchte eine Familie mit drei Kindern vielleicht lieber einen Gang zurückschalten. Kommen die Kinder ins Teenie-Alter, verschieben sich Bedürfnisse und Freiräume wieder neu. Hier kann es helfen, sich als Eltern und Familie regelmäßig zusammenzusetzen, um alle Rhythmen und Bedürfnisse in das aktuelle Alltags-Modell hinein zu komponieren. Denn was sich im Alltag stressig anfühlt, ist von Familie zu Familie verschieden. Letzten Endes brauchen wir vor allem eines: ruhige Momente, in denen wir uns sortieren, unseren Alltag reflektieren und ihm bei Bedarf eine neue Richtung geben können. Wir müssen uns klar werden, was uns wichtig ist und was Einzelne brauchen. Alle Familienmitglieder dürfen lernen, dass manchmal Kompromisse notwendig sind, um das Zusammenleben entspannt zu erleben.

Familien brauchen Zeit: um sich selbst und die innige Gemeinschaft nicht zu verlieren, um Beziehungen, Gedanken und Herz zu sortieren. So werden auch wieder Kräfte und Kreativität für Neues freigesetzt.

Jessica Schlepphege hat Englische Fachdidaktik und Erziehungswissenschaften studiert. Sie ist Botschafterin der Anti-Sklaverei-Bewegung www.ijm-deutschland.de, arbeitet als freie Autorin und lebt mit ihrem Mann und den drei Kindern in der Nähe von Karlsruhe.

 

Familie Fuchs

Elsbeth, Tilman, Amy (6), Kiano (4) und Janosch (1)

Anstellung: Elsbeth 0%, Tilman 80%
Termine pro Woche (davon Kinder): 4 (2)
Besuche pro Woche (davon Kinder): 3 (2)
Alltagsempfinden: langweilig 1 2 3 4 5 überladen

Stressfaktoren:
1. Tilmans Job (Grundschullehrer) ist Stress, weil es laut ist und viel Kraft kostet.
2. Die Menge an Beziehungen, die wir pflegen, laugt uns manchmal aus, weil wir schlecht Nein sagen können und beziehungsorientierte Menschen sind.

Das hat uns geholfen:
1. Nach der Geburt des dritten Kindes reduzierte Elsbeth die Wochentermine stark (zwei Krabbelgruppen weniger, feste Besuchstage für die Kinder – an anderen Tagen Besuchsstopp). Nach einigen Monaten begann sie mit zwei Abendterminen, die ihr gut tun.
2. Tilman wechselte die Arbeitsstelle und konnte bei gleichem Gehalt auf 80 Prozent reduzieren. Er nahm eine Stelle als Fortbildungsreferent für Lehrer an, welche ihm Abwechslung vom Unterricht und eine persönliche Auszeit bietet.
3. Wir achten seit dem dritten Kind mehr auf „leere, langweilige“ Tage, an denen wir einfach im Garten sind, spielen, etwas leckeres essen ...

Familie Gallé

Katrin, Daniel, Jonathan (9), Sophia (8), Elias (5), Manuel (3)
Anstellung: Katrin zur Zeit 40%, Daniel 100%
Termine pro Woche (davon Kinder): 20 (11)
Besuche pro Woche (davon Kinder): 5 (3)
Alltagsempfinden: langweilig 1 2 3 4 5 überladen
Stressfaktoren:
1. sich überschneidende Termine
2. Konferenzen/ Sitzungen
Das hat uns geholfen:
1. Unsere Kinder üben ihre Hobbys hauptsächlich vor Ort aus und sind eigenständig unterwegs.
2. Eltern wechseln sich bei Fahrdiensten (z.B. Fußballturniere, Orchesterprobe) ab
3. Die Großeltern springen bei Terminüberschneidungen ein.
4. In der Nachbarschaft helfen wir uns gegenseitig durch das Abholen von Kindern aus dem Kindergarten oder die Aufnahme von Kindern zum Spielen.

Familie Gürtler-Adams

Melanie, Axel, Marvin (17), Joana (14), Yael (5)
Anstellung: Melanie 65%, Axel 100%
Termine pro Woche (davon Kinder): 8 (5)
Besuche pro Woche (davon Kinder): 2-3 (2)
Alltagsempfinden: langweilig 1 2 3 4 5 überladen (phasenweise auch 5)
Stressfaktoren:
1. beruflicher Stress
2. sehr viel organisatorische Faktoren und Zeitmanagement
3. zusätzliche Termine oder Verpflichtungen im privaten und beruflichen Bereich
Das hat uns geholfen:
1. Wir als Paar gönnen uns hin und wieder Unternehmungen (Kinobesuch, Essen gehen, Spazieren gehen …) zum Auftanken, Durchatmen, Gespräche und Beziehung pflegen.
2. Den eigenen Anspruch an sich selbst und andere herunterschrauben und Prioritäten setzen („Was ist jetzt wichtiger, mein Korb Bügelwäsche oder ein Spiel mit meiner Familie?")

 

Wachsen lassen, was in Ihnen steckt

Es gibt Punkte im Leben, an denen der Eindruck entsteht, dass sich etwas ändern muss. Dass es noch mehr und anderes im Leben gibt. Nicole Sturm gibt Anregungen, wie Sie Ihr Potenzial besser ausschöpfen können.

Stellen Sie sich vor, Sie wachen eines Morgens auf, gucken aus dem Fenster – und entdecken, dass ein Treibhaus in Ihrem Garten steht. Noch etwas schlaftrunken gehen Sie raus, um sich die Sache genauer anzuschauen. Vorsichtig öffnen Sie die Tür und werfen einen Blick ins Innere. Sie entdecken einige Pflanzen: die einen noch recht klein, andere etwas größer, manche riesig. Es gibt farbenfrohe Exemplare, die in voller Blüte stehen, und direkt daneben solche, die eingehen. Und es gibt ein paar seltsam dunkle Exemplare, die Anstalten machen, die übrigen Pflanzen zu überwuchern. Mit einem Mal schießt Ihnen ein Gedanke durch den Kopf: Dieses Treibhaus, das bin ja ich!
Haben Sie schon mal von sich selbst als einem Treibhaus gedacht? Ein Treibhaus, in dem Dinge wachsen können? Ein Treibhaus, für das Sie Verantwortung tragen? Die Pflanzen stehen für Ihr Potenzial: Ihre Fähigkeiten, Leidenschaften und Möglichkeiten. Es sind Dinge, die Gott in Ihr Leben hineingelegt hat – zum Segen für Sie und andere. Dinge, die unterschiedlich gut genährt und gewachsen sind. Dieses Treibhaus gab es schon immer. Nur ist man sich dessen nicht immer bewusst.

Das „Mehr“ entdecken
Solange das Leben in geraden Bahnen verläuft, tendieren wir Menschen dazu, primär die Fähigkeiten zu nutzen, mit denen wir gut vertraut sind. Im Laufe des Lebens gibt es aber immer wieder auch Zeiten, wo Dinge sich ändern – in uns oder außerhalb. Zeiten, in denen wir merken, dass wir nicht unser volles Potenzial leben. Oder aber Zeiten, in denen sich um uns herum etwas verändert und wir sehen müssen, wie wir damit umgehen. Es sind Gelegenheiten, in uns zu gehen und das „Mehr“ zu entdecken.

Menschen, die die Frage nach diesem „Mehr“ stellen, werden schnell belächelt – das sei der Midlife Crisis geschuldet, das gehe schon vorbei. Es kann aber auch sein, dass sich im Außen etwas ändert: Die Kinder werden selbstständiger und man denkt über den Wiedereinstieg ins Berufsleben nach – soll das im alten Beruf sein oder wäre es nicht der ideale Zeitpunkt, um sich neu zu orientieren? Es kann der Verlust des Arbeitsplatzes sein, eine persönliche Krise, eine das Leben verändernde Krankheit, Konflikte im Job, ein Umzug. Dinge wirbeln das Leben, wie wir es bisher kannten, durcheinander. Sie stellen uns vor Herausforderungen, denen wir möglichst gut begegnen müssen. Manche dieser Dinge sind von uns initiiert, haben keinen Zeitdruck. Andere brechen über uns hinein und erwarten eine zeitnahe Reaktion.

Wie auch immer die konkrete Situation aussehen mag: Jeder Mensch trägt sein ganz persönliches Treibhaus in sich. Ein Treibhaus voller Potenzial, das es zu entdecken, zu nähren, zu entfalten gilt.

Erste Schritte
Nur was tun, wenn man an einer solchen Weggabelung im Leben steht? Erste Schritte könnten diese sein:
> Bitten Sie Freunde um Feedback: Welche besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten nehmen sie an Ihnen wahr? Welche Schätze gilt es ihrer Meinung nach zu heben? Und denken Sie daran: Potenzial kann ganz unterschiedliche Gesichter haben!
> Nehmen Sie sich Zeit, um auf Ihr Leben zurückzuschauen: Gibt es ein Herzensthema oder einen roten Faden, der sich durchzieht? Wofür haben Sie positives Feedback geerntet?
> Hören Sie in sich hinein und fragen Sie sich, wofür die seltsam dunklen, wuchernden Pflanzen in Ihrem Treibhaus stehen. Welche Dinge haben die Kraft, Ihr Potenzial klein zu halten? Das könnten beispielsweise negative Gedanken über sich selbst sein. Oft sind sie uns so vertraut, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen. Zu dumm, zu alt, zu wenig redegewandt? Das klingt nach Gedanken, die kritisch hinterfragt gehören.
> Stellen Sie sich vor, Sie wachen eines Tages auf und stellen fest, dass dies Ihr perfekter Tag ist. Ein Tag, der genauso verläuft, wie Sie ihn sich immer erträumt haben. Wie sähe dieser Tag aus? Machen Sie sich Notizen, seien Sie ausführlich. Ganz wichtig: Es ist ein Tag, der in der Zukunft liegt. Was Sie sich erträumen, muss noch nicht viel mit Ihrem Jetzt zu tun haben. Fühlen Sie in sich hinein. Diese Übung ist einzig und allein für Sie; niemand anders muss lesen, was Sie geschrieben haben – es sei denn, Sie möchten es!

Zwischen Selbstverwirklichung und Verantwortung
An diesem Punkt kann es sinnvoll sei, sich zu fragen, ob Sie diese Vorarbeit alleine leisten können und wollen oder ob Sie sich Unterstützung wünschen. Oft muss es gar kein ausgebildeter Coach sein; ein Gespräch mit einer Person Ihres Vertrauens kann ebenso hilfreich sein. Lassen Sie die Person vorab wissen, dass es Ihnen nicht um einen netten Smalltalk geht, sondern um ein Anliegen, das Zeit und Aufmerksamkeit braucht.

Aber ist solch ein Prozess nicht unnötiger Luxus? Schnell fällt das (verächtlich ausgesprochene) Wort Selbstverwirklichung, das mit Egoismus gleichgesetzt wird. Gerade bei Eltern jüngerer Kinder wird an deren Verantwortung der Familie gegenüber appelliert. Die könnte schließlich darunter leiden. Solche Appelle, ganz gleich ob ausgesprochen oder nonverbal vermittelt, wirken wie Gift, das alle Energie im Keim zu ersticken vermag. Daher sollte man sich gut überlegen, wen man zu welchem Zeitpunkt in diesen Prozess mit einbezieht – und in welcher Tiefe. Gott hingegen ist zu jeder Zeit ein Gegenüber, mit dem man Ideen, Hoffnungen und Ängste teilen kann.
Potenzial zu entfalten bedeutet, Kraft zu entfalten. Das kann in großen Entscheidungen wie dem Sprung vom Angestelltenverhältnis in die Selbstständigkeit münden. Es kann aber auch ganz zart und für Außenstehende fast unbemerkt vonstattengehen, indem sich im Inneren etwas verändert.

Dünge-Tipps
Angenommen, man hat Dinge in seinem Treibhaus entdeckt, die man zukünftig mehr in den Blick nehmen oder – um im Bild zu bleiben – düngen will: Wie kann dieses Düngen aussehen?
1. Bringen Sie dem, was Sie (wieder) neu entdeckt haben, Wertschätzung entgegen. Erkennen Sie es als ein Geschenk an, das ausgepackt und genutzt werden will.
2. Fangen Sie an, dieses Geschenk einzusetzen. Experimentieren, trainieren, gebrauchen Sie es. Seien Sie mutig! Es geht nicht darum, damit gleich Geld zu verdienen.
3. Unsicher, was Sie mit Ihren Gaben anfangen können? Dann befragen Sie Freunde oder das Internet. Dort finden Sie eine Vielzahl interessanter Portraits von Menschen, die ihre Gaben auf vielfältige Art und Weise nutzen.
4. Lernen Sie dazu: Tauschen Sie sich mit Gleichgesinnten/-begabten aus, lesen Sie Bücher, besuchen Sie Vorträge oder Weiterbildungen.
5. Suchen Sie sich Menschen, die Sie auf Ihrem Weg begleiten und Sie je nach Situation anfeuern, herausfordern oder als Ideengeber fungieren.

Stolpersteine
Wie auf fast jedem Weg gibt es auch auf diesem Stolpersteine. Hier ein paar der häufigsten:
• Der Alles-sofort-Stolperstein: Mit etwas Geduld und einer Portion Realitätssinn kann man ihn geschickt umgehen. Das SMART-Modell zur Zielerreichung kann hier weiterhelfen (http://tuned-instruments.com/node/162).
• Der Alles-anders-haben-wollen-ohne-etwas-zu-ändern-Stolperstein: Hier hilft wieder eine Prise Realitätssinn und die Bereitschaft, Neues auszuprobieren. Und die Frage: Was bin ich bereit, mich die Sache kosten zu lassen?
• Der Ich-schaffe-es-ganz-alleine-Stolperstein: Mit vereinten Kräften geht es einfach besser. Wer sind Ihre Unterstützer?
• Der Negativ-Gedanken-Stolperstein: Was sind Ihre ganz persönlichen Top-10-Negativ-Gedanken? Je besser Sie sie kennen, desto schneller können Sie ihnen Wahrheit entgegensetzen.

Schublade zu!
Jeder Weg beginnt mit einem ersten Schritt. Auf das Thema Potenzial angewandt bedeutet das, die Begeisterung für das bevorstehende Abenteuer zu kanalisieren und nicht zu schnell den gedanklichen Sprung von der entdeckten Gabe hin zum Jobprofil zu machen. Die Herausforderung besteht oft darin, nicht in Schubladen zu denken: Nur weil jemand an Gott glaubt, muss er nicht automatisch Theologie studieren. Und wer gerne kreativ ist, hat mehr Optionen, als als freischaffender Künstler seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Jeder Mensch trägt eine einzigartige Gabenkombination in sich. Eine, die viel zu schade ist, um in Schubladen gesteckt zu werden.

Es ist wichtig, das, was da ist, wertzuschätzen. Auch dann, wenn es sich um eine noch ganz kleine Pflanze handelt. Oder wenn man noch nicht den Mut hat, sein Potenzial öffentlich einzusetzen. Denken Sie immer daran: Auch eine Tomatenpflanze braucht Zeit vom Ansatz der ersten Blüte bis zur erntereifen Frucht! Und auch Ihre Umgebung braucht Zeit, um mit der Veränderung umgehen zu lernen. Denn Sie sind Teil eines Systems: Wenn Sie Dinge in Ihrem Leben verändern, hat das auch Auswirkungen auf Ihr Umfeld.

Nicole Sturm ist als Coach und Heilpraktikerin für Psychotherapie aktiv – in ihrer Praxis in Norddeutschland sowie ortsunabhängig in Form von Online-Coaching-Angeboten: www.vorwärtsleben.de

Dreimal Flöte üben = ein Eis?

Ein Sternchen fürs Aufräumen, ein Herzchen fürs Tischdecken … Machen Belohnungssysteme Sinn?
Von Sonja Krebs

Die Idee, ein Belohnungssystem einzuführen, kommt Eltern meist dann in den Sinn, wenn etwas nicht reibungslos läuft. Wenn Hausaufgaben, Aufräumen oder Flötespielen nicht gut funktionieren und mancher Nerv schon blank liegt. Da werden Sternchen oder Herzchen geklebt. Es werden Zielvereinbarungen getroffen, wofür es sich lohnt, bestimmte Aufgaben motivierter zu erledigen. Manche Eltern berichten von positiven Verhaltensänderungen der Kinder, von mehr Struktur und harmonischeren Abläufen. Selbst in Kitas wird dieses Prinzip zeitweise umgesetzt. Also eine rundum geglückte Erziehungsstrategie – wirklich?

Manchmal ist es notwendig, mal wieder Luft im hektischen Alltag mit seinen vielen Anforderungen zu bekommen. Man will schließlich nicht als „Nörgel-Mutti“ oder „Mecker-Vati“ enden. In solchen Situationen möchte ich den Versuch, durch ein Belohnungssystem zu mehr Harmonie in der Familie zu kommen, nicht abwerten. Dennoch bleibt es meines Erachtens eher ein Versuch. Wenn ich erreichen möchte, dass etwas reibungslos läuft, so kann dieses System vorübergehend eine Verschnaufpause geben.

Reibungslos?
Doch welche Grundhaltung habe ich meinem Kind gegenüber, wenn ich erwarte, dass „es“ reibungslos läuft? Und welchen Gedanken verknüpfe ich damit, dass mein Kind Aufgaben für einen Gegengewinn erledigt? Als Pädagogin und Mutter betrachte ich dieses System als nicht tragfähig. Tragfähig hingegen ist meine Beziehung zu meinem Kind. In diese Beziehung will ich ganz viel investieren.
Ein reibungsloser Ablauf ist eine hohe Erwartung im Zusammenleben mit Kindern. Es ist einfach typisch für Kinder, die eine oder andere Pflicht schlichtweg zu vergessen oder nicht ernst zu nehmen. Kinder brauchen Zeit, Abläufe zu verinnerlichen und ihren Platz im sozialen Familiengefüge zu finden. Und wir Eltern brauchen Geduld und Ausdauer.

Leistung erbracht = Belohnung
„Warum trödelt mein Sohn, wenn wir weg müssen?“ „Warum widersetzen sich die Kinder ständig, wenn ich ihnen eine Aufgabe gebe?“ Diese Fragen könnte man so beantworten: „Er ist in sein Spiel vertieft.“ Oder: „Sie brauchen Reibungsfläche und müssen und dürfen meine Grenze spüren.“ Das alles erzeugt Reibung, die aber bekanntlich ja auch wärmt. Und zum gemeinsamen Wachstum anregt. Natürlich sind die Fragen und Antworten im Zusammenhang mit Alter und Entwicklung der Kinder zu sehen. Daran sollte ich mein Erziehungsverhalten anpassen. Vielleicht sollte ich mehr Spielzeit einräumen und das Ende rechtzeitig ankündigen, um das Spiel nicht abrupt beenden zu müssen. Erziehen heißt auch beobachten, reagieren und mich letztlich selbst zu erziehen.
Bei Belohnungssystemen bleiben diese inneren Fragen und Reflexionen und der Blick auf die Bedürfnislage der Kinder meist ausgesperrt. Der Blick richtet sich ausschließlich auf: „Leistung erbracht = Belohnung“. Das ist auf Dauer keine gute Motivation. Doch was tun, wenn eine Veränderung des Verhaltens notwendig ist?

Klare Verabredungen
Eltern haben durchaus das Recht, auf gewisse Regeln und Pflichten hinzuweisen, um das Leben miteinander besser zu gestalten. Wir möchten uns ja auch wohl fühlen. Und wir möchten unsere Kinder zu Selbstständigkeit und Pflichtbewusstsein hinführen. Da sind klare Verabredungen hilfreich und Ausdauer und Geduld erforderlich. Es ist hilfreich, wenn Kinder zum Beispiel regelmäßig für bestimmte Aufgaben verantwortlich sind. Oder wenn bestimmte Wochentage für bestimmte Tätigkeiten vorgesehen sind, die dann ritualisiert werden. Zum Beispiel die Aufräumaktion am Freitag. Das ist dann einfach so und muss auch nicht ständig diskutiert werden. Es gehört zum Miteinander dazu und wird auch als solches wahrgenommen.

Pläne mit Symbolen dienen gerade kleineren Kindern als Orientierung und Motivation: „Ach, heute ist Freitag, da muss ich meine Spielsachen aufräumen.“ Im Unterschied zum Belohnungssystem hat das einen anderen Charakter: Ich mache es um der Sache oder der Gemeinschaft und nicht um der Belohnung willen. Wenn wir zum Beispiel alle gemeinsam schnell aufräumen, haben wir mehr gemeinsame Zeit und sind folglich belohnt. Und ein gewisses Maß an Vokabellernen ist einfach notwendig zum Erlernen einer Sprache, auch ohne ein Computerspiel in Aussicht gestellt zu bekommen.

Bedingungslose Liebe
Damit diese Motivation auch wirken kann, brauchen Eltern eine wertschätzende Grundhaltung gegenüber ihrem Kind. Leistung darf nicht über allem stehen. Meine Wertschätzung ist nicht gekoppelt an bestimmte Verhaltensweisen. Meine Liebe zum Kind sollte bedingungslos sein – was nicht heißt, dass ich alles gutheißen muss. Durch diese bedingungslose Liebe entfaltet sich auch Raum für besondere Leistungen, die aus eigenem Antrieb entstehen. Kleben Sie also lieber innerlich Herzchen für Ihr Kind – ganz bedingungslos. In Gott haben wir darin ein gutes Vorbild.

Sonja Krebs ist Erzieherin und Heilpädagogin und Inhaberin des MalRaums in Königswinter (www.atelier-einmalig.de), wo Kinder, Jugendliche und Erwachsene kreativ werden können. Sie ist verheiratet und Mutter von zwei Jungs.

Kritik ist wie Salz – Eine Dosierungsanleitung für eine Zutat der Liebe

Zwischen einem guten Essen und einem ungenießbarem liegen nur wenige Gramm. Beim Salz hängt alles von der richten Menge ab. Kritik ist das Salz in der Liebe:
Meike schaltet das Licht an und streift die Schuhe ab, Alex legt Geldbeutel und Autoschlüssel auf das Regal. „Darf ich ehrlich sein?“, fragt Meike.
„Hmmm?“
„Du warst ein ziemlich schlechter Zuhörer heute Abend. Ich habe es kaum ertragen.“
„Was?“
„Ja, Katrin hat von ihrem Urlaub erzählt und du hast das Weinetikett studiert. Noch bevor Katrin fertig war, hast du Gerd etwas anderes gefragt.“
„Aber das war doch vielleicht gar kein Problem für Katrin. Du hast schließlich zugehört.“
„Trotzdem. Mich hat es gestört. Ich finde das unhöflich.“
„Das klingt irgendwie anstrengend. Ich muss den ganzen Tag hochkonzentriert sein. Darf es dann abends nicht etwas lockerer zugehen?“
„So locker, dass es die Gefühle von anderen verletzt?“

Wann ist Kritik angemessen? Und wie viel ist man dem anderen schuldig? Wird Alex beim nächsten Besuch aufmerksamer werden? Oder wird er sich befangen und angespannt fühlen? Und wie wirkt sich die Kritik auf die Liebe aus? Wird Alex dankbar sein, dass ihn Meike herausfordert? Oder wird er sich bevormundet fühlen und vielleicht sogar abgewertet in seiner Art und Weise, Beziehungen zu leben?

Wir ahnen: Es kommt auf die Vorgeschichte an. Wenn Meike Alex häufig auf etwas aufmerksam macht, wird die Kritik wahrscheinlich negativ wirken. Wenn Meike dagegen sparsam kritisiert, wird sie Alex einen Denkanstoß geben und einen Impuls für die persönliche Entwicklung. In verschiedenen Bereichen des gemeinsamen Lebens stellt sich uns die Herausforderung, wie wir ein gutes Maß für Kritik finden:

Garten oder Wildnis: unsere Lebensorganisation
Ein kurzer Ausflug in die Botanik: Noch wenige Wochen gilt unsere Jahreskarte für den Park des Schwetzinger Schlosses, der im Barockstil angelegt ist wie etwa auch der Schlosspark von Versailles. So sehr ich über die Geometrie und die abgezirkelte Bepflanzung staune, gibt es doch eine Stimme in mir, die sagt: „Das geht zu weit. So sehr darf man Natur nicht zurechtstutzen.“ Auch im Garten unseres Alltags braucht es Übersicht und Ordnung. Wie weit das allerdings gehen soll, darüber kann man streiten. Paare tun das auch.

Das Thema „Ordnung“ bietet eine Menge Anlass zur Kritik – aus ästhetischen und Wohlfühlgründen, aber auch, weil die Effektivität unseres Alltags von Ordnung abhängt. Wo aber Ordnung zum Zwang wird, geht uns die wohlige Gedankenlosigkeit verloren, bei der man so schön entspannen kann. Maßvolle Kritik wird sich daher auf einige Orte und Abläufe beschränken, die für das Wohlbefinden des ordnungsliebenden Partners besonders wichtig sind. In der Ehetherapie gebe ich überkritischen Partnern manchmal ein Maß: „Nicht mehr als eine Kritik pro Tag. Wenn Ihr Partner in einem Jahr 365 Dinge verändert, haben Sie viel gewonnen, oder?“ Trotzdem kann es für den kritischen Partner schwer sein, sich derart zurückzuhalten. Wer seinen täglichen Kritikpunkt bereits beim Thema Ordnung verbraucht, muss in anderen Bereichen tolerant bleiben.

Image oder Fingerabdruck: unsere Außenwirkung
Ähnlich wie die Ordnung ist auch die Außenwirkung immer wieder ein Thema in Familien. „Mit Frankreich sieht es ja glänzend aus, weit besser, als ich immer gedacht habe“, scheint es mir, als ich im Manual Frankreich blättere, das meine Frau unserer Klolektüre beigesellt hat. Mein misstrauischer Blick ins Impressum lohnt sich: Das Magazin wurde von der Deutsch-Französischen Industrie- und Handelskammer herausgegeben – eine Imagebroschüre.

Wie gut müssen wir vor anderen dastehen? Bei dieser Frage winken wir ab: „Wir müssen anderen doch nichts vormachen.“ Aber in praktischen Fragen dreht sich doch einiges um unsere Außenwirkung: Wie oft muss das Auto in die Waschanlage? Dürfen unsere Kinder auch einmal mit fleckigen oder löchrigen Kleidern in die Schule? Welche Umgangsformen sollte man zeigen? Brauchen wir ein Eigenheim und wenn ja, in welcher Ausstattung? Auf wie vielen Plattformen pflegen wir unsere Kontakte? Wie pünktlich sind wir? Meist nimmt ein Partner die Außenwirkung etwas wichtiger als der andere. Manchmal sind beide ausgewogen, nur die Bereiche sind unterschiedlich, in denen mal die eine, mal der andere nicht schlecht dastehen möchte. Daher gibt es auch Kritik, die der Außenwirkung geschuldet ist: „Das macht man doch nicht.“ Oder: „Die anderen machen das doch auch.“

Wie findet Kritik hier ein gutes Maß? Unser berechtigtes Bedürfnis, uns mit dem Eindruck wohl zu fühlen, den wir auf andere machen, darf nicht über der Liebe stehen und auch nicht über der Freiheit, auch einmal etwas zu tun, was anderen nicht gefällt. Dieses Gleichgewicht kann ein Maß für die Kritik setzen: Ab und zu einmal ansprechen, wenn das Verhalten des Partners peinlich erscheint, aber das in viel Annahme einbetten und in die fröhliche Freiheit, mit dem gemeinsamen Leben einen ganz eigenen Fingerabdruck zu hinterlassen. Doch auch da, wo es niemand sieht, kann man Dinge auf den Prüfstand stellen.

Vorhaltungen oder Vertrauen: unsere Bindung
Wir lassen den anderen im Stich, stellen unsere eigenen Bedürfnisse über die des anderen und sind gelegentlich blind für die wunden Punkte, auf die wir doch Rücksicht nehmen sollten. Wir verlieren die Ziele und Prioritäten des anderen aus dem Blick und vergessen, den anderen zu ermutigen und zu unterstützen.
Doch wo führt das hin, wenn all die genannten kleinen und großen Kränkungen dazu führen, dass uns unser Partner täglich eine Liste all unsrer Versäumnisse präsentiert? Eine Viertelstunde Kritik würde wohl kaum ausreichen. Aber bereits fünf Minuten wären zu viel und würden das Miteinander allmählich ungenießbar machen. Hier lautet die Dosierungsanleitung: Die Unvollkommenheit des anderen so weit wie möglich ertragen und nur hin und wieder einmal darauf aufmerksam machen, wo Gefühle verletzt und wichtige Bedürfnisse übersehen werden. Wenn wir dann loslassen und vertrauen, wird uns der andere mit Zeichen der Liebe überraschen. Sie berühren uns umso tiefer, wenn sie keine Reaktion auf unsere Kritik sind, sondern uns aus einem Verstehen heraus und aus Zuneigung geschenkt werden.

Erziehung oder Wachstum: unsere Persönlichkeiten
Nicht zuletzt kritisieren wir den anderen auch um seiner selbst willen. Unser Partner soll sich doch entfalten und die Persönlichkeit werden, die sie/er im Tiefsten ist. Als Partner spüren wir genau, wo der andere unter seinen Möglichkeiten lebt: Partner vernachlässigen Freundschaften, bringen keine Disziplin für eine anstehende Fortbildung auf, unterliegen einem Laster, leben ungesund oder werden den eigenen Überzeugungen untreu. Sind wir nicht verpflichtet, aus Liebe an das Beste im anderen zu erinnern? Was wir dabei als Konzept im Kopf haben, entscheidet über das Maß unserer Kritik. Denken wir dabei eher an Erziehung, werden wir unseren Partner häufig auf Dinge hinweisen, die sich bessern sollten. Denken wir aber an Wachstum, kommen wir auf ganz andere Gedanken: Dann werden wir Wärme, Aufmerksamkeit und Unterstützung schenken, um einen Nährboden für das persönliche Wachstum zu schaffen. Wir wissen, dass manche Veränderung verborgen unter der Erde geschieht, bis sie überraschend und kräftig hervorbricht. Wir werden zwar auch hin und wieder etwas Unkraut zupfen und auf einen Wildwuchs hinweisen, aber das wird nur der kleinere Teil unserer wachstumsfördernden Aktivitäten sein.

Die Liebe abschmecken
„Allein die Dosis macht‘s, dass ein Ding kein Gift sei“, philosophierte der Arzt Paracelsus im Mittelalter. Die gleiche Substanz kann heilen oder töten, manchmal machen winzige Mengen den Unterschied. Was die Liebe angeht, gilt dies für nichts so sehr wie für unseren Umgang mit Kritik. Zu ihrer Dosierung eignet sich die erwähnte Faustregel: Nicht mehr als einen Kritikpunkt pro Tag. Eine weitere Regel aus der Paarforschung setzt die Kritik in ein Verhältnis zu positiven Zuwendungen wie Lob, Zärtlichkeit, lieben Worten, Zeichen der Dankbarkeit und Ähnlichem. Wenn eine Kritik durch fünf positive Worte oder Handlungen aufgewogen wird, fühlen sich Paare glücklich in ihrer Beziehung. Außerdem kann Ihr Einfühlungsvermögen erspüren, wo die Schmerzgrenze Ihres Partners liegt. Manche Persönlichkeiten vertragen viel Kritik, andere sind hier sehr sensibel. Daher kann man beim einen ruhig Klartext reden, bei anderen sollte man Kritik sparsam und behutsam anwenden. Auf diese Weise können Sie Ihre Beziehung abschmecken wie ein gutes Gericht: reichlich Spaß, Entspannung, Wertschätzung und Verbundenheit werden abgerundet durch jenes Maß an kritischer Auseinandersetzung, die das gemeinsame Leben voranbringt.
Jörg Berger ist Psychotherapeut in eigener Praxis in Heidelberg.