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„Weihnachten war Überleben“: Bruder nimmt sich an Heiligabend das Leben

Das Weihnachtsfest ist für den Gospelsänger Chris Lass mit einer Familientragödie verknüpft: Sein Bruder begeht am Heiligen Abend Suizid. Doch Chris findet einen Weg aus der Trauer – und bricht dabei mit allen Traditionen.

Das Weihnachtsfest 1999 war in vielerlei Hinsicht gewöhnlich. Das Wirtschaftsmagazin „Brand Eins“ titelte „Oh, My Holy Creditcard!“ und das Orkantief „Lothar“ verhagelte so manchem Feierwütigen die besinnlichen Abendstunden. Nicht so Familie Lass: In Bremen saß Chris mit seiner Familie im 17 Uhr-Weihnachtsgottesdienst, voller Vorfreude auf den Kartoffelsalat mit Bockwurst – den besten der Welt, klar! –, holte Oma zur Bescherung ab und zeigte, was er so im Klavierunterricht gelernt hatte. Christmas as usual also. So unbeschwert wie an diesem Abend sollte es trotzdem nicht wieder werden. Denn als sich Olli, Chris’ großer Bruder, an diesem Abend verabschiedete, ahnte noch keiner, dass sie ihn nicht mehr wiedersehen würden. Olli nahm sich in dieser Nacht das Leben.

Nie wieder so wie früher

Für den 15-jährigen Chris bedeutete es das Ende des kindlichen Weihnachten, wie er es kannte. Beim ersten Weihnachtsfest nach Ollis Tod hofften noch alle, es würde wie immer. Aber daran war angesichts der traurigen Erinnerung nicht zu denken. „So eine Situation verwirrt einfach alle“, sagt Chris heute mit Blick auf damals. Irgendwie hatte jeder seine Strategie, mit der Situation umzugehen. Die Familienrollen wurden neu verhandelt. Die Eltern kämpften mit der Trauer, Chris fühlte sich verantwortlich, für den „anwesenden Teil der Familie“ Atmosphäre zu schaffen. „Da fing ich an, zum jungen Erwachsenen zu werden und hab mir gesagt: Sorg dafür, dass es für deine Eltern angenehm wird. Für dich wird’s eh nicht geil.“

Einer fehlt immer

In den Folgejahren wurden die Rituale zu Ankern, an denen sich die Familie festhielt. Aber der Charakter von Weihnachten hatte sich ein für allemal gewandelt. „Weihnachten war kein fröhliches Fest mehr. Weihnachten war Überleben. Du kannst dich mental überhaupt nicht darauf einstellen, bis du das 2-3 Mal erlebt hast. Du guckst in die Runde und da fehlt halt jemand.“ Äußerlich änderte sich nicht viel, aber Olli war Jahr für Jahr mit im Raum – ob man über ihn sprach oder nicht. In dieser Zeit lernte Chris – eigentlich, wie er sagt, ein „sehr emotionaler Mensch“ –, seine Gefühle zu kontrollieren und den Raum zu geben, der ihnen zusteht. „Ich versuche mich da zu disziplinieren: Wenn ich nicht in dem Raum bin, in dem die Emotion wohnt, dann darf die auch nicht da sein. Also: Ende November ist noch nicht die Zeit, traurig zu sein. Denn es ist noch nicht Weihnachten.“ Den Advent über gibt er seinem Weihnachtsschmerz keinen Raum, spielt Gospelkonzerte und Firmenfeiern mit „Jingle Bells“ und „Chestnuts Roasting on an Open Fire“. An Weihnachten selbst sieht er den Schmerz in den Augen seiner Mutter. Weihnachten zerbricht in fröhliche Oberflächlichkeit und familiäre Traurigkeit.

Neuer Raum, neues Glück

Dann kommt Sandra in sein Leben und mit ihr der Wunsch, der bedrückenden Tradition ein Schnippchen zu schlagen. Der Wandel kommt mit einer Banalität: einem Raumwechsel. „Das ist ja einfachste Psychologie: Wenn du in den Raum gehst – also ganz im Sinne des Wortes –, dann hat dieser Raum Macht über dich. Du kannst nicht in die Kirche gehen und so tun, als wärst du in einer Disko. Der Raum diktiert dir, wie du dich benimmst. Da haben wir uns gedacht: Lass uns doch mal komplett diese Mechanik aushebeln und woanders hingehen.“

Bye Tradition

Weihnachten 2012 wird ihr Wendepunkt. Sandra und Chris entscheiden sich, Weihnachten diesmal anders zu feiern, und laden seine Eltern zum Abendessen in ein kleines Hotelrestaurant ein. Der Raum, der für gut 30 Personen Platz bietet, ist spärlich gefüllt. An einem zweiten Tisch sitzt ein Paar, außerdem noch ein Typ allein. Über allem der Geist der Weihnacht und Musik zwischen Sinatra und Remixes von Christina Aguilera. Die Stimmung: heiter. „Du beobachtest erstmal die anderen. Warum sind die denn wohl hier? Jeder, der Weihnachten in einem Hotel feiert, hat seinen Grund.“ Schnell kommt man ins Gespräch mit dem Kellner, der revanchiert sich mit einer 1A-Führung durchs Hotel. Chris isst Ente mit Rotkohl – wie der Papa. Und jeder fragt sich: Warum gab es über all die Jahre eigentlich Würstchen mit Kartoffelsalat? Familie Lass erlebt das erste Weihnachten in Freiheit.

Mehr tiefe Musik

Gleichzeitig häufen sich die Ereignisse, die Chris ins Nachdenken über den Wert des Weihnachtsfestes und der Weihnachtslieder bringen. Auf Betriebsweihnachtsfeiern spielt er als Chorleiter jahrelang „ganz stumpfe Weihnachtsmusik“, bis ihm einer aus dem Chor zurückschreibt: „Boah, ist aber schon ein bisschen flach, oder?“ Eine satte Ohrfeige. „Das tat mir richtig weh, weil mir bewusst war, dass die Songs, die wir spielten, mehr Entertainment als Theologie waren. Ich wusste gerade selbst nicht, wie ich diesen inneren Konflikt in mir auflösen sollte, und jetzt wurde voll mit dem Finger drauf gezeigt.“ Andererseits erlebt Chris die Kraft der Weihnachtshymnen, als eine Frau auf Umwegen erst in ein Gospelkonzert von Chris gelangt und dann in der Krise eben diesen Ort wieder aufsucht, an dem sie diese Form von Verbundenheit mit Christen erlebt hatte. Chris und sein Chor werden zu ihrer Taufe eingeladen, auf der sie dann die volle Story erfahren. „Da wurde mir bewusst: Die Frau kam in die Kirche, weil auf dem Plakat ganz schlicht ‚Weihnachtsgospel‘ draufstand. Das war nicht irgendwie tief, aber es war der Beginn ihrer Reise. Mir hat das Mut gemacht. Die Dinge müssen nicht immer ‚deep‘ sein, damit sie am Ende ‚deep‘ werden können.“

Weihnachten als Lebensthema

Für Chris ist das einer der Auslöser zu sagen: Weihnachten ist eines der Themen, zu denen er mehr beitragen kann, als er vermutet. Weil er sich an den Kern des „frohen Fests“ heranrobben musste. Und das tut er dann auch. So, wie es ihm am besten liegt: musikalisch. Seit 2010 ist er hauptberuflich im Musikbusiness unterwegs, arbeitet als Songwriter, Produzent, Sänger und Chorleiter. Zum Weihnachtsfest 2016 bringt er schließlich sein eigenes Weihnachtsgospelalbum heraus – teils mit bekannten Gospelsongs, aber es sind drei Eigenkompositionen dabei, in denen er sich mit dem Kern von Weihnachten auseinandersetzt. „Ein Kind wurde für dich und mich geboren“, heißt es im Song „Have you heard?“. Und: „Es bringt uns Hoffnung, die uns freimachen kann.“ Frei. Auch von der Trauer.

Weihnachten zelebrieren

Und jetzt? Chris und Sandra laden beide Eltern zu sich nach Hause ein. Chris wird vorher noch das Auto durch die Waschstraße schieben und den besten Anzug aus dem Kleiderschrank holen. „Früher dachte ich: Ich zieh mir doch jetzt keinen Anzug an, wenn ich gleich eh auf der Couch lande.“ Heute setzt er bewusst einen Kontrast zum Alltag. Kulinarisch bedeutet das Rehrücken oder Rumpsteak statt Bockwurst und Kartoffelsalat. „Damit werde ich mich nicht mehr zufrieden geben.“ Dafür aber mit „Feliz Navidad“. Denn Weihnachten ist inzwischen auch biografisch ein richtig frohes Fest.