Totgeburt – Das berührende Tagebuch eines Papas

Als Emma zur Welt kommt, hat ihr Herz bereits aufgehört zu schlagen. Vater Oliver Helmers schreibt sich den Schmerz von der Seele.

7.1. Es ist absurd: Wir haben das süßeste Kind der Welt, aber niemand gratuliert. Wir halten unsere schwarzhaarige Emma auf dem Arm. Dass wir trotz allem in diesem Moment glücklich sind und Fotos machen wie andere Eltern auch, verstehen nur die, die ähnliches erlebt haben. Emma ist unser erstes Kind. Alles war in Ordnung, doch fünf Tage zuvor konnte die Ärztin keinen Herzschlag mehr finden. Unser Leben im falschen Film hatte begonnen.

13.1. Emmas Beerdigung: Fast 200 Menschen folgen uns zu Emmas Grab. Sie stehen hinter uns, im wahrsten Sinne des Wortes, und das tut gut. Genauso wie die Sonne, die an diesem eiskalten Wintermorgen auf den kleinen Holzsarg scheint.

DAS SCHWEIGEN DER MÄNNER

14.1. Mit Emmas Tod erlischt der Anspruch auf Elternzeit. Während meine Frau Mutterschutz hat und gerne wieder arbeiten würde, um wenigstens ein bisschen Normalität zu finden, geht für mich die Arbeit wieder los, obwohl ich lieber zu Hause bliebe. Natürlich hat jeder Verständnis, dass ich neben der Spur bin, fahrig und vergesslich wirke. Trotzdem: Bei der Arbeit muss ich als Pfarrer funktionieren. Aber wie soll man das, wenn das eigene Kind gestorben ist?

15.1. Im Internet: Ich schreibe „Totgeburt“ in die Suchmaske und sehe Bilder, die ich nicht sehen will: Bilder von toten Kindern und ihren unglücklichen Eltern. In einem amerikanischen Forum lese ich von Kurt, der zwanzig Jahre nach der Geburt seines Sohnes immer noch eine Kerze zu seinem Geburtstag anzündet, oder von Francis, der 72 Fotos von seiner Tochter gemacht hat und zehn Jahre später die schlechten Lichtverhältnisse im Kreißsaal verflucht. In diesen Geschichten fühle ich mich verstanden. Komischerweise schreiben in deutschen Internetforen nur Frauen. Doch Halt, die Beiträge von Micha sind richtig gut. Erst später merke ich, dass dies die Abkürzung für Michaela sein muss. Das Schweigen der Väter ist mir ein Rätsel. Warum wird Trauer totgeschwiegen?

EIN KOLLEGE OUTET SICH

17.1. Ein Kollege der obersten Führungsschicht schreibt mir eine Trauerkarte. Er kondoliert, aber nicht nur das: Auch er hat ein totgeborenes Kind. Seine Offenheit beeindruckt mich. Dass er während der Fahrt in seiner Dienstlimousine ausgerechnet mir schreibt, berührt mich. Und dann noch handschriftlich … Es gibt wenige Männer, die heute offen über Trauer schreiben: Im 19. Jahrhundert hat Friedrich Rückert 428 (!) Lieder über seine zwei toten Kinder Luise und Ernst geschrieben. „Kindertodtenlieder“ hat er sie genannt. Nicht gerade ein Liederbuch, zu dem man schmissige Griffe auf der Gitarre findet. Man könnte meinen, dass 1823 die Kindersterblichkeit so hoch war, dass der Verlust eines Kindes weniger ausgemacht hätte als heute – aber wie tief muss Trauer sein, wenn ein Mann 428 Gedichte über seine toten Kinder schreibt?

20.1. Ich gehe spazieren. Es beginnt zu regnen. „Emma weint“, denke ich allen Ernstes und frage mich schon im nächsten Moment, ob ich nun verrückt werde … Je zügiger ich durch den Regen gehe, desto stärker fühle ich mich auf der Suche nach unserer Tochter – als würde sie sich nur hinter einem Gebüsch verstecken oder am anderen Ende des Weges auf mich warten. Verliere ich den Verstand?

NIEMAND FRAGT, WIE ES MIR GEHT

21.1. Beim Hausarzt: „Nehmen Sie Platz. Was führt Sie zu mir?“ „Unsere Tochter ist gestorben.“ Schweigen. Mein Arzt hat selber ein totgeborenes Enkelkind. „Ich fühle mich vergesslich und weiß oft nicht mal, welchen Monat wir haben. Wie lange wird das noch andauern?“ Ein verständnisvoller Blick, ein Seufzen. „Das ist normal.“ Ich fühle mich verstanden.

8.2. „Wie geht es Ihrer Frau?“ Zu dieser Frage kann man als trauernder Vater nur eine Hassliebe entwickeln. Wie gut, dass niemand fragt, wie es mir geht. Mich hinter der Rolle des Beistands verstecken zu können, gibt mir den Hauch des Gefühls, stark zu sein. Aber warum muss man eigentlich immer stark sein?

ICH FÜHLE MICH WIE EIN AUSLÄNDER

20.3. Wir treffen uns mit Freunden und reden über Gott und die Welt, nur nicht über Emma. Tote werden totgeschwiegen – was für eine bittere Erkenntnis! Als hätte Emma für unsere Umwelt nie existiert. Unsere deutsche Sprache ist verräterisch: Wir sagen „Das Kind ist da“ und tun so, als sei es im Mutterleib noch nicht dagewesen.

21.3. Ich notiere mir: „Als Trauernder fühlt man sich wie ein Ausländer, der kein Deutsch spricht. Andere bemühen sich, einen zu verstehen, aber letztendlich verstehen sie die fremde Sprache nicht.“

EIN GOTTESDIENST FÜR EMMA

27.11. Während ich am Bodenseeufer zum Konstanzer Münster laufe, fühle ich mich, als hätte ich eine Verabredung mit Emma. Im Münster findet ein Gedenkgottesdienst für Verstorbene statt. Eigentlich hätte im Programmheft der Ablauf stehen sollen, doch im Druck ist etwas schiefgegangen. „Da sind leider nur die Namen drin“, sagt die Frau am Eingang und meint damit die Namen der Verstorbenen. Nur die Namen? Wenn sie wüsste … Dass der Name in diesem Heft steht, bedeutet mir unendlich viel. Als später die Pfarrerin in diesem großen Münster Emmas Namen nennt, bin ich gerührt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ihr Name in den letzten Monaten genannt wurde, obwohl ich jeden Tag an sie denke. Emmas Name, der niemals auf einer Ehrenurkunde oder Diplomarbeit stehen wird … Ich mache mehrere Fotos von der Kirche und fühle mich wie ein stolzer Vater.

2.12. In der Gruppe frühverwaister Eltern (ein schrecklicher Name!) sitzen wir bei Kerzenschein zusammen. Sogar ein paar Männer sind dabei, natürlich nur, um ihren hilfsbedürftigen Frauen beizustehen … Das Leid schweißt zusammen und verbindet uns mit unseren Kindern. Es klingt pathetisch, aber die Namen Noah, Leander, Gabriel, die Namen der anderen Kinder, klingen für mich, als seien sie Freunde von Emma. Freunde, die auf den Spielplätzen des Himmels miteinander toben und springen. Leider sehr weit weg von uns.

DIE TRAUER AUSHALTEN

Zwei Jahre später: Ich sitze im Café und frage mich, warum ich diesen Artikel schreibe. In unserer Kultur werden Tote totgeschwiegen und damit auch die Trauer um sie. Ich schreibe das nicht verbittert, ich kann es verstehen. Auch ich habe die Sprache der Trauernden wieder verlernt. Wenn man Trauernde aber fragt, was sie tröstet, dann ist es das: „Wenn andere meine Trauer aushalten.“ Zuhören, keine Tipps geben und nicht bewerten. Aber wer kann das schon? Den Namen einer Verstorbenen erwähnen und die Tränen des Gegenübers aushalten?

Meine Gedanken werden unterbrochen: „Alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragt mich die Bedienung. Alles in Ordnung … Das ist der Grund, warum ich schreibe; wir leben in einer Kultur, in der immer alles okay ist und jeder die Frage „Wie geht’s?“ mit „Gut“ beantwortet. Es braucht Frauen und Männer (!), die nicht so tun, als sei alles in Ordnung. Es braucht Menschen, die Trauer nicht unter den Teppich kehren, sondern der Trauer Raum geben. Denn wo wir der Trauer Türen öffnen, entsteht ein Trost, der nicht zu unterschätzen ist.

Oliver Helmers lebt mit seiner Frau Anne in einem kleinen Schwarzwalddorf, wo er als evangelischer Pfarrer arbeitet. Inzwischen haben sie drei Kinder: Benjamin, Daniel und natürlich Emma.

Der Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland e. V. bietet unter veid.de Hilfe für Familien, die um ein Kind trauern.