Werteberge statt Spielzeughalden

Manche Kinderzimmer gleichen einem Spielzeugladen oder – je nach Alter – einem Elektronikgeschäft. Wie können Eltern dem allgegenwärtigen Konsumdruck gegensteuern? Anregungen von Silke Mayer

Mensch, Papa, biiiitttteeee!“, quengelt der zehnjährige Leon Groß für eine PlayStation Portable, während sein Vater gerade Unterlagen für eine Geschäftsreise zusammensucht. „Aber warum denn nicht? Papa? Pa-pa!“ Herr Groß sieht auf die Uhr und seufzt. „Also gut, wenn ich zurück bin, kaufen wir eine.“ Zur gleichen Zeit steht Frau Hartwig im Zimmer ihrer Tochter – einem Prinzessinnenreich aus Lila und Pink – und diskutiert über den anstehenden Schulranzen. „Nein, den von Lillifee!“, nölt die kleine Anna, „Sophie bekommt auch einen.“ Nach langem Hin und Her, Bitten, Betteln und Keifen gibt Frau Hartwig nach. Und hat ein schlechtes Gewissen. War es richtig, wieder einmal einzulenken? Eigentlich kann sie sich den teuren Ranzen gar nicht leisten.

Das große Quengeln
Laut Statistischem Bundesamt geben Eltern im Schnitt 550 Euro pro Monat für Kleidung, Spielzeug und Nahrungsmittel ihres Kindes aus, manchmal die Hälfte des Haushaltsnettoeinkommens. Dabei gibt es eine deutliche Steigerung nach Altersphasen: Kinder bis zu sechs Jahren kosten am wenigsten, ab der Grundschule wird es teurer und am meisten berappen die Eltern von Teenagern. Aber auch bei den Kleinen ist mittlerweile ein Anstieg zu verzeichnen: Für die Ausstattung von Erstklässlern bezahlten Eltern laut der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) 2011 durchschnittlich 215 Euro. Das sind 30 Euro mehr als noch ein Jahr zuvor.

Den Handel dürfte es freuen. Denn der hat Kinder längst schon als kaufkräftige Zielgruppe entdeckt. In Zeiten, in denen es kaum noch darum geht, Fehlendes oder Defektes zu ersetzen, werden Gewinne mit dem Wunsch nach immer Neuem gemacht. „Kunden finden – Kunden binden“ heißt ein gängiger Slogan aus der Welt des Vertriebs. Und so werden Kinder- und Jugendprodukte weitflächig beworben: auf Plakaten, in Zeitungen, Internet und TV. Kinder zwischen sechs und 13 Jahren sehen monatlich etwa 900 Werbespots. Verschiedenen Studien zufolge haben Sechsjährige bereits 50 Prozent ihrer Konsumkompetenzen ausgebildet, 100 Prozent erreichen sie mit 16 Jahren.

Wen wundert es da, dass auch der Nachwuchs immer bestens informiert ist, was es gerade auf dem Markt gibt? Sobald etwas Begehrenswertes die Runde durch Freundeskreis und Schule macht, beginnt das große Quengeln. Besonders gestresste Eltern sind dafür anfällig. Der Wunsch nach Ruhe verleitet oft zu vorschnellem Nachgeben. Manch einer schlägt seinem Kind aber auch deshalb kaum etwas ab, weil er ein schlechtes Gewissen hat. Weil ihm vielleicht aus beruflichen Gründen häufig die Zeit für Sohn oder Tochter fehlt oder weil er als Alleinerziehender mit Geschenken unbewusst den fehlenden Elternteil wettmachen möchte.

Bloß kein Außenseiter
So gut wie alle Eltern geben klein bei, wenn irgendwann das verzweifelte Totschlagargument ertönt: „Alle in meiner Klasse haben das! Ich bin der Einzige, der …“ Dann greift die Angst der Eltern vor Ausgrenzung. Niemand will sein Kind zum Außenseiter machen. Jeder kann sich vorstellen, wie es ist, nicht dazuzugehören. Durch eigene Kindheitserinnerungen, aber auch als erwachsenes Mitglied einer Gesellschaft, in der Konsum und Besitz einen übergroßen Stellenwert einnehmen.

Sozialpsychologisch betrachtet hat jeder Mensch den Wunsch nach Zugehörigkeit und Anerkennung und orientiert sich an den Normen und Standards seiner Bezugsgruppe. In anderen Worten: Es gilt, innerhalb des eigenen Umfelds dazuzugehören, mitzuhalten in punkto Aussehen, berufliche Position, Auto, Wohnung oder Mode. Schon immer war das so, im alten Rom wie auch bei unseren Eltern.

Neu ist allerdings die Steigerung, die das Thema Besitztum in den letzten Jahrzehnten erfahren hat. Immer schneller kommen neue Produkte auf den Markt, Trends wechseln in immer rascherer Folge. Das Weihnachtsfest geht mittlerweile unter im Kaufrausch und allenthalben wird uns demonstriert, Besitz sei gleichbedeutend mit Glück und Lebensfreude. „Ich kaufe, also bin ich“, scheint das Credo der modernen Gesellschaft zu sein.

Wer unreflektiert ein solches Wertesystem und Konsumverhalten (vor)lebt, hat es schwer, Kindern ihre Wünsche abzuschlagen. Wer selbst Markenprodukte kauft, setzt damit Maßstäbe bei seinem Kind. Laut GfK waren beispielsweise 74 Prozent der Eltern selbst der Ansicht, dass bei einem Schulranzen die Marke besonders wichtig sei (2010). Warum sollten dann Kinder weniger einfordern als ausschließlich bestimmte Fabrikate?

Tiefergehende Werte
Ohne das eigene elterliche Verhalten zu überdenken und zu ändern, hat man kaum eine Chance, dem Sog der oberflächlichen Konsumwelt zu entkommen. Materielles war noch nie ein Garant für Glück, schon gar nicht ein Ersatz für Zeit oder Liebe. Es verhilft weder zu echten Freunden noch zu wahrhaftem Selbstbewusstsein. Anstelle von Konsum und pausenloser Bedürfnisbefriedigung sollten durch Vertrauen, bewusste Lebensgestaltung und Auseinandersetzung tiefergehende Werte vermittelt werden. Am allerbesten ist es natürlich, von klein auf anderen als materiellen Dingen Bedeutung einzuräumen. Ausflüge unternehmen statt massenhaft Spielzeug kaufen, miteinander reden, sich Zeit nehmen, Gemeinsamkeit leben – das ist es, worauf es wirklich ankommt. Zeitlich gestressten Eltern könnte es helfen, ihre Prioritäten anders zu setzen. Ist die saubere Wohnung am Wochenende wirklich so wichtig? Warum nicht einfach das Putzen einmal ausfallen lassen und stattdessen etwas spielen? Oder gemeinsam putzen und die gewonnene Zeit in eine schöne Unternehmung investieren?

Selbstbewusstsein stärken
Kinder sollten erfahren, dass es nicht wichtig ist, immer anerkannt zu sein und um jeden Preis dazuzugehören. Statt bewundernde Aussagen über den BMW des Nachbarn zu machen, könnte auch einmal ein Künstler gelobt werden, der unbeirrt seinen eigenen Weg gegangen ist. Eltern sollten herausstellen, dass es gut und erlaubt ist, eine eigene Meinung zu vertreten. Und das Kind sollte entsprechend gefördert und ermuntert werden. Das Selbstbewusstsein seines Kindes zu stärken, ist ohnehin das A und O im Kampf gegen den Konsumwahn, der aus Gruppendruck erwächst. Um gefeit zu sein gegen den Drang, alles mitmachen zu müssen, helfen dem Kind auch außerschulische Kontakte, etwa in einem Sportverein oder in der Musikschule. Solche Aktivitäten bringen neue Freunde und Aufmerksamkeit von ganz anderer Seite. Ein angenehmer Nebeneffekt ist, dass auf diese Weise Alternativen zu Fernsehen und PC geschaffen werden und damit auch zur allgegenwärtigen Werbung.

Als Eltern findet man Unterstützung im Kontakt zu Gleichgesinnten mit ähnlich konsumkritischer Haltung. Wer richtiggehend etwas bewirken möchte, könnte das Thema einmal beim Elternabend der Schule zur Sprache bringen. Zumindest aber macht es Sinn, sich mit den Eltern der engsten Freunde des Kindes auszutauschen und Absprachen zu treffen.

Tatsache ist: Für Kinder ist es unglaublich wichtig, in ihrer Gruppe dazuzugehören. Im Grunde geht es beim Rückzug aus dem Konsum auch nicht um Verzicht, sondern um Mäßigung. So sollte unterschieden werden, welcher Wunsch für das Kind wirklich bedeutungsvoll ist und was lediglich dazu dient, im Freundeskreis ganz vorne mitzumischen.

Der goldene Mittelweg
Wenn ein Grundschüler auf die weiterführende Schule wechselt, ist das definitiv ein entscheidender Schritt im Leben des Kindes. Der will auch durch eine neue Schultasche signalisiert sein. Hier aus Prinzip zu blocken, wäre mehr schädlich als nützlich und würde eine tiefe Wunde hinterlassen. Hingegen jeden Monat neue Spiele für Nintendo, PlayStation und Co. zu erwerben, wäre erzieherische Achtlosigkeit. Ein guter Indikator dafür, wie viel einem Kind die Erfüllung seines Wunsches wirklich bedeutet, ist übrigens, es etwas vom Taschengeld beisteuern zu lassen.

Wer öfter nach einem Mittelweg sucht zwischen zu hohen Ausgaben und Wunscherfüllung, dem seien die Klassiker unserer Eltern empfohlen: Das Geschenk „aufteilen“ auf mehrere Feiertage, Geburtstag und Weihnachten etwa, oder auf mehrere Verwandte. Dank Internetbörsen kann man heutzutage auch leicht gutes Gebrauchtes finden. Eine weitere Variante wäre, das ein oder andere Teil aus der Habe des Kindes zu verkaufen, um mit dem Erlös wiederum das Gewünschte zu finanzieren.

Anschaffungen für die Kinder sind und bleiben ein Drahtseilakt zwischen Herz und Kopf. Heilsam gegen allzu leichtfertiges Nachgeben ist dabei die Erinnerung an die eigene Kindheit. Auch wir haben unseren Eltern damals erzählt, dass alle außer uns dies und jenes besäßen. Gestimmt hat das früher genauso wenig wie heute. Und wurden wir wirklich direkt zum Außenseiter, wenn uns hin und wieder etwas versagt wurde? Hat es uns dauerhaft psychisch geschadet, wenn wir nicht immer sofort jede Kleinigkeit bekamen?

Unsere schönsten Erinnerungen sind selten die, dass wir mit Spielzeug oder Anziehsachen überhäuft wurden, sondern die, wie uns ein wirklich großer Wunsch erfüllt wurde. Oder es sind Erinnerungen an besondere Menschen und ihre Eigenheiten, an Erlebnisse, an Atmosphäre. Diese Erkenntnis hilft, ab und zu nein zu sagen, wenn die Wünsche unserer Kinder überhand nehmen. Wir tun unseren Kindern keinen Gefallen mit dem allgegenwärtigen Dauerkonsum. Ein Zuviel an Bedürfnisbefriedigung ist gleichzeitig ein Zuwenig an Auseinandersetzung, an Wegweisung, an Förderung und kritischem Hinterfragen.

Ich kannte einmal ein amerikanisches Ehepaar, dessen Kinder an Weihnachten nie mehr als drei Geschenke bekamen – so viele, wie eben Jesus auch nur erhalten hatte. Ein erstaunliches Beispiel für Mäßigung. Vielleicht muss es aber gar nicht so extrem sein. Geschenke nur an Weihnachten – statt schon an den 23 Tagen vorher – wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Silke Mayer arbeitet im Bereich Weiterbildung und Training, daneben ist sie als freiberufl iche Autorin tätig. Sie lebt mit ihrer Familie in Duisburg.

Foto: thinkstock/stockbyte
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