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Geliebte Nervensäge

Kann man sich ein Leben lang faszinierend finden trotz all dieser wahnsinnig nervigen Eigenschaften, die wir alle mit uns herumtragen? Eigentlich nicht, meint Steffi Diekmann – und doch kann die Faszination immer wieder neu aufblühen.

Ich bin hellwach. Wie immer beginnt mein Tag früh und mein Mann schläft. Sein Schnarchen macht mich sauer. Wie kann er so pennen? Klar gönne ich es ihm. Aber wir haben eine lange Liste an Kleinigkeiten zu bewältigen heute. Und er … ist tiefenentspannt.

Als Jugendliche fand ich an Henrik so faszinierend, dass er klar und gelassen wirkte. Klar in seinen Aussagen, Handlungen und Haltungen und sehr entspannt mit Kindern, desaströsen Chorproben und hitzigen Diskussionen. Und mit mir. Meine Emotionen sind rau, oft ungefiltert und meine Wahrheit ist ganz lange wahr – bis Henrik mir hilft, den Horizont zu weiten.
Diese Faszination hatte er für meine Vielfältigkeit, Entschlossenheit und Kreativität auch. Gute Voraussetzungen, um sich ein Leben lang neu zu entdecken, oder?
Am Beginn unserer Ehe haben wir uns oft über den kühlen Ton mancher Ehepaare gewundert, die verloren gegangene Faszination und wachsende Lieblosigkeit. Während ich mich nun durch meinen schlummernden Mann mit den Tagesaufgaben allein gelassen fühle, stelle ich fest: same here. Die Erkenntnis, dass ich ihm nicht mal ein Ausschlafen gönne, trifft mich nicht zum ersten Mal.

ÜBERFORDERT DURCH DEN FAMILIENALLTAG

Als nach und nach Kinder in unser Leben traten, ließ meine Faszination für seine eindeutigen Ansagen nach und wich immer öfter meiner Bitte um mehr Einfühlungsvermögen. Aus meinem bezaubernden Menschenflüsterer wurde ein polternder Vater, wenn der Apfelsaft zum wiederholten Mal umfiel. Seine Klarheit, die ich einordnen konnte, empfanden Freunde oft als Arroganz oder Lieblosigkeit. Gleichzeitig erinnere ich mich, dass in dieser Phase immer mehr Rückmeldungen zu meinem „alltäglichen Drama“ von ihm kamen. Meine Überforderung, meine Gefühle und Wahrnehmungen zu sortieren, wuchs und wurde sichtbarer. Wir hatten auf der einen Seite das Glück, Familie zu werden, das verlangte uns auf der anderen Seite aber auch viel ab.

Was am Anfang gülden schimmerte, blendete uns nun gegenseitig schmerzhaft, wenn die eigenen Kräfte am Limit waren. Durch einen von Bronchitis begleiteten Kleinkindalltag, finanzielle Herausforderungen, Schlafdefizit vom Feinsten, Streit in der Kirchengemeinde und veränderte Beziehungen zu Eltern und Familie sehnten wir uns nach einem Partner, der das Zuhause-Gefühl bedingungslos ausstrahlt. Ein Partner, der sich auf mich freut und mir zeigt, wie willkommen ich bin. Die wachsende Anspannung sorgte jedoch dafür, dass ich den Reaktionen meines Partners immer kritischer gegenüberstand. Das reibungslose Prinzip unserer Anziehungskraft wurde erschüttert. Wir nervten uns.

EIN GEHÖRIGER SCHRECKEN

Dabei hatte ich ein Schlüsselerlebnis. Als wir in einem verregneten Low Budget Campingurlaub ankamen, legte sich Henrik erst mal fiebernd und schlafend hin. Ich bebte innerlich vor Neid und Empörung. Wie konnte er mich so mit dem ganzen Chaos alleine lassen? Ausladen, auspacken, aufbauen, Kinder versorgen und mein Mann lag darnieder!

Mein unbarmherziger Ärger jagte mir selbst einen gehörigen Schrecken ein. Damals traf ich einen Entschluss: Ab sofort wollte ich nicht mehr aufrechnen, wer wann wie viel wickelt, füttert, Hausaufgaben begleitet oder putzt. Ich traf den Entschluss nicht demütig, sondern weil mein Zorn auf meinen Partner so groß war, dass ich von mir selbst schockiert war. Seine Gelassenheit und entspannte Sicht waren die schimmernden Faszinationspunkte und ich war gerade dabei, sie mit Alltagsstaub zu bewerfen. Bei einer Tasse Tee teilte ich meinem immer noch kranken Mann meinen Entschluss mit und er begann wieder zu strahlen. Als ich aufhörte, ihn zu attackieren, wurde ich mit seiner Fürsorge beschenkt. Bis heute erzählt er, wie gut es ihm getan hat, dass ich jeden Morgen die Frühschicht übernommen habe.

Danach lebten sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage? Schön wär’s! Wenn ich Henrik heute frage, was ihn an mir richtig nervt, kommen Umschreibungen der Dinge, die ihn einmal sehr angezogen haben. Natürlich kenne auch ich diese Seiten an mir. Doch dieses Wissen schützt nicht vor Missverständnissen, manchmal ebnet es ihnen sogar den Weg: Wenn Henrik eine Schere sucht, rattert es in meinem Kopf. Ich habe für seinen Blick, sein Seufzen eine Deutung. Ich meine, meinen Mann so gut zu kennen, dass ich weiß, was er ausdrücken will. Ich bin mir bewusst, dass er unter meiner Kreativität leidet, jeden Tag einen neuen Platz für eine Schere zu finden. Als dies aus mir herausplatzt, guckt mich mein Mann ganz verdutzt an: „Äh, nein! Ich suche nur eine Schere. Ich denke dabei nicht an dich.“ Den Fokus auf die Reibungspunkte zu legen, ist eine Falle im Bewältigen des Alltags.

AN DIE GUTEN TAGE ERINNERN

Um den Partner aus der Bewertungsklammer zu entlassen, hilft uns ein Schritt zurück. Wie haben wir zusammen eine lustige Episode erlebt, einen großen Streit in der kirchlichen Kleingruppe geschlichtet oder Trauer gemeistert? Wenn wir aussprechen, was wir in diesen Erlebnissen am anderen wohltuend wahrgenommen haben, ist das wie ein Zündfunke für den Faszinationsglimmer zwischen Verbündeten.

Ich erinnere mich, welche Wesenszüge zu Beginn unserer Ehe strahlend waren, und frage mich: Wo sehe ich das heute? Was könnte ich heute an meinem Partner loben und neu bewerten? Dies können kleine Dinge sein, die neu verbindend zwischen uns wirken. Den Duft des anderen wahrnehmen, das kleine Lächeln der Augen sehen, einen klugen Satz hervorheben, sich bedanken für Alltägliches. Das Enttäuschende und Trennende zu benennen, ist für mich keine Kunst. Vor Freunden den Partner zu loben, zu ihm zu stehen oder im Beisein der Eltern von den Erfolgen des anderen zu sprechen, aber sehr wohl. Mit diesen Entscheidungen entsteht ein neuer Glanz. So glimmen neue Anziehungspunkte am Partner auf. Heute treffe ich wieder diese Entscheidung wie vor Jahren im Campingurlaub: Ich will meinen Mann entdecken.

Wenn ein bewusstes Hinsehen auf die Stärken des anderen nicht möglich erscheint, so kann eine kleine Geste helfen. An welchem Moment des Tages lächle ich meinen Mann gern an? Dieses Lächeln hat meinen Mann tatsächlich schon oft von den beengenden Klebefolien meiner Bewertung befreit. Sein Lob bringt mich zum Lächeln und so funkeln wir uns mitten im Alltag neu an.

Jetzt steht mein Mann endlich verschlafen vor mir. Nimmt mich in den Arm. Während ich seinen Duft aufsauge, flüstert er: „Schon so wach? Wir schaffen den Tag schon, mein Schatz …“ Ich seufze und entscheide mich, seine entspannte Haltung wundervoll zu finden. Einen tollen Mann habe ich!

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen, verheiratet und Mutter von drei (fast) erwachsenen Kindern.

Den Partner neu entdecken

Im stressigen Alltag kann es schnell passieren, dass der Mensch an unserer Seite vor allem nervt. Folgende Fragen können helfen, immer wieder eine neue Perspektive zu gewinnen.

Warum nervt mich das gerade so? Mal angenommen, es geht nicht darum, mich zu schikanieren: Kann ich nachvollziehen, warum er oder sie so handelt? Was hat mich am Anfang so fasziniert an meinem Partner? Wo und wie sehe ich das heute? Was haben wir zusammen erlebt und durchgestanden? Was habe ich dabei über uns erfahren? Mit welchen kleinen Gesten könnte ich heute erfreuen? Wo möchte ich gerne großzügig sein? Was würde mir dabei helfen?