Gesellschaftlicher Zusammenhalt beginnt in der Kindheit: Ein Kinderarzt erklärt den Zusammenhang
Kinder brauchen Sicherheit, Zugehörigkeit und das Gefühl etwas bewirken zu können, sonst fehlt ihnen später das Vertrauen in sich und andere. Kinderarzt Herbert Renz-Polster erklärt, warum Erziehung und gesellschaftlicher Zusammenhalt eng zusammenhängen.
Herr Renz-Polster, viele Menschen in Deutschland sind gerade unzufrieden. Die Mieten sind hoch, bei Ärzten bekommt man keine Termine mehr und Familien finden keine Kinderbetreuung. Manche von ihnen reagieren mit Hass und Ablehnung, manche bemühen sich um Lösungen. Warum ist das so?
Klar haben manche einfach eine kürzere Zündschnur. Aber das hängt auch damit zusammen, was wir in unserer Kindheit gelernt haben. Habe ich erfahren, dass ich mit Herausforderungen umgehen kann? Habe ich Sicherheit erfahren? Habe ich gespiegelt bekommen, dass ich etwas kann? Dass ich wertvoll bin? Kinder, die das nicht oder wenig erfahren haben, sind auch als Erwachsene noch sehr unsicher und neigen stärker zu Feindbildern. Das kann später zu Hass und Ablehnung führen. Und das kann dann durchaus auch eine politische Dimension annehmen, weil diese Menschen anfälliger sind für radikale, autoritäre politische Positionen – ob auf der rechten oder auf der linken Seite.
Innere Stimmigkeit
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass jedes Kind sich vier Grundfragen stellt: Nach Sicherheit, Anerkennung, Zugehörigkeit und Wirksamkeit. Was passiert, wenn die Antworten darauf negativ ausfallen?
Positive Antworten auf diese Fragen führen dazu, dass das Kind so was ausbildet wie eine innere Heimat, ein Gefühl von Stimmigkeit. Es bildet ein grundlegendes Werkzeugset an Ressourcen, mit denen es der Welt gewachsen ist. Es lernt, seine Gefühle zu regulieren und wie es mit sich und anderen gut umgeht. Und auch, wie es aus schwierigen Situationen wieder herauskommt. Sind die Antworten auf diese Fragen negativ, dann ist sein Werkzeugkoffer leer. Das Kind hat nicht die Tools, mit Belastungen produktiv und konstruktiv umzugehen. Stattdessen wird es vielleicht von Angst überflutet oder von Wut. Dann sieht es draußen möglicherweise nur Feindesland und empfindet die Menschen im Grunde als bedrohlich. Diese Grundhaltung nimmt es dann mit ins Erwachsenenalter.
Was bedeutet das für unsere Gesellschaft?
Menschen, denen diese inneren Sicherheiten fehlen, suchen nach einem Ersatz. Einem Ersatz an Wert, an Größe und an Kontrolle. Welche Züge das annehmen kann, zeigt uns derzeit die MAGA-Bewegung (Make America Great Again, Anm. d. Red.), also die autoritäre Rechte in den USA. Da geht es gar nicht um die Lösung tatsächlicher Probleme, wie etwa der Klimakrise oder der sozialen Ungleichheit, sondern um Identitätsfragen: Wir sind stark, wir sind überlegen, wir sind auserwählt, wir sind die „richtigen Amerikaner“. So entsteht ein heilloses „wir“ gegen die „anderen“, getrieben von Misstrauen. Das zerreibt die ganze Gesellschaft.
Wir spüren das auch hierzulande, aber verglichen etwa mit den USA oder Frankreich leben wir auf einer Insel der Seligen. Wobei auch wir genug Grund zur Sorge haben. Ich sage das vor allem mit Blick auf die östlichen Bundesländer, wo sich gerade in den ländlichen Gebieten Wut und Frust mit extremen politischen Haltungen mischt. Und das ganz stark bei den jungen Männern.
Bedürfnisse beachten
Das heißt, wie wir unsere Kinder heute erziehen, wirkt sich später auch auf unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt aus?
Ja, auf jeden Fall. Aber damit meine ich nicht, dass Eltern keine Fehler machen dürfen. Es geht vielmehr um tiefgreifende Entwertungsprozesse über einen längeren Zeitraum. Etwas, das so tief geht, dass das Kind diese innere Basis nicht mehr aufbauen kann, von der ich vorhin sprach. Eine permanente Unsicherheit zum Beispiel, das Wissen: Ständig kann ich verletzt werden, mir kann jederzeit etwas Schlimmes passieren. Meine lebenswichtigen Beziehungen tragen nicht, ich kann nicht vertrauen. Oder wenn Kinder die ganze Zeit hören, dass sie ein Versager sind und nichts richtig machen. Wenn auch die Wärme in der Familie fehlt. Oft sind die Eltern selbst stark überfordert, kämpfen psychisch ums eigene Überleben. Oder haben einfach nicht die Kraft, weil sie erkrankt sind, Suchtprobleme haben oder unter unsäglichem materiellem Dauerstress stehen.
Stress ist ein gutes Stichwort. Im Alltag ist es für Eltern manchmal nicht so leicht, den richtigen Ton zu finden. Was ist, wenn das nicht immer gelingt?
Nur weil ich meinem Kind mal eine Zeit lang nicht genug Rückenwind gegeben habe, muss ich mir nicht gleich Sorgen um mein Kind machen. Manche Eltern denken vielleicht, sie müssten immer die richtigen Worte finden und alles perfekt machen. Doch eigentlich geht es darum, „ganz normal“ mit den Kindern umzugehen. Damit meine ich: Mach einfach keinen Nonsens. Guck, dass dein Kind das bekommt, was du dir auch wünschen würdest. Was wünscht du dir zum Beispiel von einer erwachsenen Paarbeziehung? Wahrscheinlich, dass dein Partner dir keine Angst macht. Oder dass ihr nach einem Streit wieder zusammenfindet. Und dass ihr gemeinsam Dinge unternehmt, die euch Freude machen. Es ist in Erziehungsfragen mittlerweile alles so theoretisch geworden. Aber dabei geht es eigentlich nur darum, menschlich zu sein. Natürlich unter der Maßgabe dessen, dass Eltern eine Verantwortung für ihr Kind haben und für es sorgen. Aber die Grundhaltung sollte die gleiche sein.
Selbstwirksamkeit lernen
Kinder werden nicht nur durch ihre Eltern geprägt, sondern auch durch den Kindergarten und die Schule. Welche Erfahrungen machen sie dort?
Vielen Kindern und Jugendlichen fehlt es in der Schule und teils auch in der Kita an Selbstwirksamkeitserfahrungen. Können sie über den Lehrplan mitdiskutieren? Nein. Können sie irgendetwas anderes dort beeinflussen? Im Gegenteil. Immer bestimmen ältere Menschen über sie. Dieses Gefühl des Kontrollverlusts oder der Hilflosigkeit, übertragen sie dann auf die Gesellschaft. Das betrifft vor allem diejenigen Kinder, die nicht das Glück eines bildungsnahen Elternhauses haben oder denen Mutter Natur keine hauptfächertauglichen Talente mitgegeben hat, sondern andere. Gerade diese Kinder könnten Ermutigung und Rückenwind in der Schule gut gebrauchen, machen aber oft Stress-, Angst- und Versagenserfahrungen, weil sie immer zu kurz springen. Was macht das über die Jahre mit einem Kind?
Kein Wunder, dass über die Hälfte der Jugendlichen glaubt, keinen Einfluss auf die Politik zu haben. Was brauchen junge Menschen, um wieder Vertrauen in die Demokratie zu entwickeln?
Sie müssen beim Aufwachsen Vertrauen erfahren: Wir sind ein Team, und niemand wird da dauerhaft ausgegrenzt oder verletzt. Das heißt nicht, dass es nicht auch mal Stress gibt, aber der sollte menschlich gelöst werden. Und dann brauchen sie Strukturen, in denen sie mitbestimmen und mitgestalten können – in den Dingen, die sie schon überblicken können, natürlich. In der Kindheit macht jeder Mensch seine Erfahrungen damit, was es bedeutet, regiert zu werden. Wie wird auf mich und meine Bedürfnisse reagiert? Wie gehen die mir Überlegenen mit Macht um? Habe ich eine Stimme? Lerne ich Rücksicht auf andere zu nehmen? Wir dürfen das nicht unterschätzen. Das sind doch Grundübungen in Demokratie! Und diese Fragen stellt sich das Kind ja nicht nur zuhause in der Familie, sondern auch in den pädagogischen Einrichtungen. Wenn wir von der „Bildung“ reden, die dort passieren soll, dann gehört diese Persönlichkeitsbildung nach meinem Dafürhalten unbedingt dazu.
Rückgrat und innere Stärke
Sind wir da in Deutschland aktuell auf dem richtigen Weg?
Wir dürfen nicht blauäugig sein: Demokratie ist unglaublich schwierig. Sie bedeutet nicht nur irgendwo ein Kreuz zu setzen, sondern Kompromisse zu ertragen, konstruktiv zu denken, und auch die Schwächeren im Blick zu haben. An langfristigen Lösungen zu arbeiten, damit es der ganzen Gesellschaft besser geht. Demokratie braucht also Menschen, die empathisch sind und ein Interesse an anderen Menschen haben. Die mit sich selbst einigermaßen klarkommen und im Leben feststehen.
Wir haben in der Erziehung der Kinder eindeutig und messbar Land gewonnen. In den 70ern bis 90ern gab es eine Welle von positiven persönlichkeitsfördernden Entwicklungen für Kinder, eine neue, zugewandtere Haltung in der Erziehung etwa. Und es war auch die Zeit der letzten großen Bildungsreform. An den Schulen wurde beispielsweise versucht, den Kindern mehr eine Stimme zu geben.
Ich wünsche mir, dass wir uns weiter daran orientieren und das bewahren. Lasst uns weiterhin die Kinder so behandeln, dass sie an Rückgrat und innerer Stärke gewinnen. Und lasst uns die Familien im Blick behalten und sie entlasten so gut es geht, damit dort der Lebensstress nicht überhandnimmt. Fürsorge für die heranwachsenden Menschen ist ein gesellschaftliches Gut, vielleicht unser Wichtigstes.
Interview: Sarah Kröger ist freie Journalistin und Autorin.
Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt und Erziehungsexperte. In seinem aktuellen Buch „Demokratie braucht Erziehung“ untersucht er, welchen Einfluss autoritäre und kaltherzige Erziehung in der Kindheit auf uns hat – und warum Menschen dadurch anfälliger für radikale, autoritäre politische Positionen werden können.








